Wie Zukunftswirtschaftszonen in Ostdeutschland ins Laufen kommen

Start mit „Ufo“ oder eigenen Kristallisationskeimen

Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum (OWF) stellt seine diesjährige Session im Juni unter das Motto „Zukunft gestalten – Mut zum Vorsprung“. Die Vordenker aus Unternehmen, Politik und Wissenschaft nähern sich damit erstmals einem visionären Begriff, der noch in keinem Lexikon und erstmals überhaupt zur Debatte steht:  Zukunftswirtschaftszonen. Warum gerade die neuen Bundesländer für die Transformation in solchen regionalen Zukunfts-Treibhäuser die besten Karten haben, erläutert Zukunftslotse Thomas Strobel (München) in einer dreiteiligen Artikelfolge für Wirtschaft + Markt.

Der Startbeitrag erschien am 12. April 2021 https://wirtschaft-markt.de/2021/04/12/ostdeutschland-reif-fuer-zukunftswirtschaftszonen/.

Noch nie zu unseren Lebzeiten war die Zukunft so spannend, herausfordernd und greifbar zugleich. Weil Zukunft nicht plötzlich „über uns kommt“, sondern immer das Produkt von Handlungssträngen und globalen Einflussfaktoren ist, gilt dafür ein Gestaltungsgebot. Doch wo, wie, mit welchen Gremien und welchen Prämissen anfangen? Was beispielsweise ist auf regionaler Ebene auch im Wissen um die Megatrends wie Klimawandel, Digitalisierung oder Bevölkerungswachstum bzw. der wirtschaftsgeografischen Gegebenheiten und Visionen notwendig und möglich?

Nur ein Zitat des norwegisch-deutschen Wirtschaftsphilosophen Anders Indset soll die Rasanz der vor uns stehenden Jahrzehnte verdeutlichen: „Wenn wir 30 Jahre nach vorne schauen, ins Jahr 2050, und die Entwicklung in exponentieller Weise weitergeht, dann können wir uns in den wildesten Fantasien nicht vorstellen, was da auf uns zurollt. Ich bin zwar optimistisch, aber ich sehe zwei existenzielle Bedrohungen: den Öko-Kollaps und den Umgang mit exponentiellen Technologien (wie KI – T. Strobel).“ (Quelle: www.gq-magazin.de/lifestyle/artikel/kuenstliche-intelligenz-unterschaetzen-wir-die-gefahren)

Wir müssen also schnellstens aktiv werden; Abwarten wäre bei dem Wissensstand der heutigen Menschheit das größte Fehlversagen aller Zeiten. Deshalb muss es heute mehr denn je primär um das vorausschauende Zusammenwirken von Regionen nach eigenen Schwerpunkten sowie Aktions- und Arbeitsfeldern gehen, die einer Zukunft 2050 mit neuen Anforderungen an Treibhausgasemissionen, Ressourcenverbrauch, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft etc. gerecht werden. Wegen dieser Prioritäten habe ich dafür den Begriff Zukunftswirtschaftszonen (ZWZ) entworfen, der die Besonderheiten auf einer schnelleren Spur zu Zukunftsindustrien erfassen soll. ZWZs sollten sich im Ergebnis vorausschauender Zukunftsplanung schon morgen in bundesländer- und grenzübergreifender Zusammenarbeit aufmachen, mit den heutigen Ressourcen an der Problemvermeidung von morgen zu arbeiten. Ostdeutschland – so meine Einschätzung – hätte mit seiner Wendeerfahrung und seiner wendigen, kleinteiligen und hochspezialisierten Wirtschafts- und Wissenschaftsstruktur dafür beste Voraussetzungen und könnte auf diesem Feld europaweit Impulse aussenden.

Historische Vorbilder: Deutsche Autocluster und Silicon Valley

Obwohl jetzt erst so benannt, gibt es für ZWZ weltweit historische Vorbilder. Was ist der Rückschau einfach ist, macht es in umgekehrter Richtung, wenn es um die Etablierung solcher Zonen als Cluster für die zukünftige Entwicklung geht, weitaus schwieriger. Es bedarf einer Idee als Motor, eines industriellen Trägers und eines Teams von vorausschauenden Zukunftsgestaltern. Dass die Großräume von Stuttgart, München und Wolfsburg seit Jahrzehnten vom Autobau als damaliger Zukunftsindustrie schlechthin geprägt werden, nehmen wir heute widerspruchslos als gegeben hin. Doch was passiert gerade mit der Region Südost-Berlin, wo Tesla eine der modernsten Autofabriken der Welt in einer – man kann es getrost so nennen – undeutschen Geschwindigkeit errichtet? Wer außer Tesla selbst verbindet derzeit damit strukturelle Pläne für Südost-Brandenburg und großflächige Gestaltungs-Chancen?

„Zukunft ist nichts, was einfach so passiert.“

Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin Die Grünen

Was die Familien Daimler, Benz, Bosch, Porsche oder Piech seinerzeit mit Basiserfindungen, Unternehmergeist plus Kapital für den Automobilsektor losgetreten hatten, kann durchaus als Blaupause für die Etablierung von ZWZ gelten. Aber es geht auch anders, wie nachfolgende zwei Wissenstransfer-Beispiele belegen:

  1. Silicon Valley, San Francisco Bay Area: Der Technologie-Hotspot schlechthin begann als Kristallisationszentrum zunächst für die Halbleiterindustrie (Anfang der 70er Jahre) und ist heute Synonym für weltweit agierende Internet- und Computerkonzerne, Digitalisierungsschrittmacher für neue Geschäftsmodelle und für modernste Plattform-Technologien. Startups werden vor allem durch Schlüsselpersonen, enormen Wissenstransfer und Abermilliarden an Wagniskapital scharenweise angezogen. Das Valley als Methode wurde weltweit von Berlin mit dem WISTA-Gelände über München (Isar Valley) bis hin nach Bangalore, Dubai und Haifa mit Erfolg kopiert. Neu am Start: Das Circular Valley in Wuppertal.
  2. Modellfabrik Papier, Düren: Mit diesem Projekt, das auf einer nationalen Forschungsagenda Papier 2050 beruht, will sich ein ganzer Industriezweig proaktiv der Zukunft stellen. Ziel ist die Entwicklung einer industriellen Wertschöpfungskette zur nachhaltigen Papierproduktion. Kern ist eine Forschungsfabrik, die mit disruptiven Verfahrenstechniken zur klimaneutralen Papiererzeugung die Sparte international konkurrenzfähig erhalten und in die Bioökonomie führen will.

Zwei Szenarien für ZWZ mit Wohlstandsbonus

Mit Zukunftswirtschaftszonen können Akteure eines regional begrenzten Gebiets heute schon rund um ein Generalthema Meilensteine in Angriff nehmen, die womöglich für die Nachbarn erst nachrangig von Bedeutung sind. Damit schaffen erste ZWZ womöglich schon mit einem Zeitvorsprung von 10, 15 Jahren Bedingungen, die für die Gestaltung des Wirtschafts- und Soziallebens in der Mitte des Jahrhunderts die Norm sein werden und müssen. Doch wie kommen ZWZ als Zukunftstreibhäuser zustande? Aus meiner Sicht bieten sich zwei Wege an: ein schneller über die „Ufo“-Lösung, ein etwas zeitintensiverer und mühevollerer über eigens zu definierende Kristallisationskeime.

Szenario 1 – Know-how-Import

Wenn ein global agierender Konzern wie Tesla seine neuesten Produktionstechniken auf den märkischen Sand bringt, dann ist die Wirkung für die Großregion zwischen dem Südosten von Berlin bis tief ins Brandenburgische in Richtung Cottbus und Frankfurt/Oder hinein zu vergleichen mit einem plötzlich gelandeten Ufo: Der Wertschöpfungsmittelpunkt der Region verlagert sich binnen weniger Jahre; rund um das industrielle Flaggschiff siedeln sich Zulieferer, Wissenschaft, Startups und neue industrielle Zukunftsbausteine an; die gesamte Region muss sich infrastrukturell neu erfinden; erhebliche Investitionen in Wohlfühlfaktoren von Wohnen, Versorgung, Mobilität und Kultur sind die Folge.

Eine ZWZ auf diesem Teil der ostdeutschen Landkarte, die sich das Thema Mobilität von morgen auf Straße, Schiene und ggf. auch in der Luft auf die Fahnen schreibt, wird (siehe Mobilitätscluster in Süddeutschland) in den nächsten beiden Generationen bis weit in das Jahrhundert hinein Hebelwirkung mit Vorbildcharakter entfalten. Ein Blick auf wirtschaftspolitische Schlagzeilen der letzten Monate zeigt, dass Tesla zu diesem Thema im Südosten Brandenburgs kein Solitär rund um Zukunftsmobilität ist:

  • Die Lausitz soll am Standort Cottbus das modernste Instandsetzungszentrum für Züge erhalten.
  • Der US-Batteriesystemhersteller Microvast will in Ludwigsfelde Batteriesysteme für Transporter, Lkw, Sport- und Geländewagen fertigen.
  • BASF plant in Schwarzheide eine 400 Mio. Euro-Investition für Batteriechemikalien.
  • Die Dekra baut den Lausitzring zu einem Zentrum für autonomes Fahren aus.
  • Als Teil des Strukturwandels nach dem Kohleausstieg werden Brandenburg und Sachsen 300 Mio. Euro in ein Eisenbahn-Testzentrum in der Oberlausitz investieren.
  • Der Technologie- und Wissenschaftspark Wildau verfügt neuerdings mit Blick auf Mobilität, Digitalisierung, KI, Greentech und Life Science über ein Zentrum für Zukunftstechnologien.
  • Hoch innovative Mittelständler wie EnerKite aus Kleinmachnow verbinden Mobilität mit Energiegewinnung: Ab 2022 erfolgt der Serienstart für die erste Flugwindanlage mit 100 kW Leistung – ausreichend zur Stromversorgung von 200 Haushalten.

Szenario 2 – Kristallisationskeime mit Potenzial

Ein weiterer, vielleicht sogar der Hauptweg in Richtung Zukunftswirtschaftszonen, ist der über vorhandene Kristallisationskeime mit Potenzial, vergleichbar mit zarten Pflänzchen auf der industriepolitischen Landkarte. Um weiter im Bild zu bleiben: Jetzt gilt es aus wirtschaftlicher Sicht, jene Setzlinge für einen klimaresistenten Mischwald zu finden und weitere an geeigneten Stellen aufzuforsten/anzusiedeln. Denn: Nicht der schnelle Fruchtwechsel auf dem Acker des Aktionismus mit saisonalen Trendpflanzen wie Solarzellen, Windräder, Biogas, Wasserstoff und am Ende vielleicht doch wieder Fracking-Erdgas aus US-Tankern, weil in North Stream 2 noch 100 Meter „Sanktionsrohr“ fehlen, ist entscheidend für die langfristige Zukunftssicherung. Zielführender wird es sein, zu solchen Themen wie Agrar-, Energie-, Nachhaltigkeits- oder Ernährungswende vorhandene Stärken und Ansätze zu verknüpfen, einen regionalen Masterplan auf dieser Basis zu entwickeln und damit auf diese Herausforderungen Antworten mit zukunftssicheren Arbeitsplätzen zu geben.

Vorteile von Future-Zonen

Generell neu, vergleichbar sogar mit einem Quantensprung, ist am Modell einer ZWZ, dass sie unter gewissen Sonderbedingungen Zukunftsbausteine einer notwendigen Nachhaltigkeitswelt so zusammensetzt, dass daraus bis 2050 etwas Funktionierendes wird. Für das Gelingen ist die räumliche Nähe von Universitäten, Forschungsinstituten, innovativen Unternehmen und Startups eine der wesentlichen Voraussetzungen. Schließlich muss eine ZWZ in besonderem Maße Wissen, Kompetenzen, Kreativität und qualifizierte Berufseinsteiger rund um ein zukunftsrelevantes Wachstums-Themenfeld bündeln, Kapital als Wachstumsfaktor inklusive.

Zusammengefasst übernimmt eine ZWZ die Funktion eines Treibhauses für einen Zukunftscluster, um unter geschützten Bedingungen etwas zu entwickeln und aufzubauen, was für morgen und übermorgen dringend gebraucht wird, auch wenn es unter den heutigen nicht-nachhaltigen Marktbedingungen noch nicht wirtschaftlich wäre. Erstrangige Aufgabe ist es demzufolge, für Zukunftstechnologien und -konzepte, die zu einer nachhaltigen Welt 2050 maßgeblich beitragen können, zunächst die Grundlagen um bestehende industrielle oder wissenschaftliche Innovationskeime herum zu schaffen. Wenn diese (wie Tesla) bestimmte Quantitäten und Qualitäten aufweisen, wird eine ZWZ automatisch zum Magneten für Firmenansiedlungen, Wissenstransfer und die Zentralisation von Fachkräften zum jeweiligen Hauptthema der Zukunftszone.

Vergleichbar zur nachhaltigen Forstwirtschaft geht es jetzt also vor allem darum, die Unternehmens-Setzlinge zu züchten, die für einen Zukunftswald im Klimawandel gerüstet sind und mit den Bedingungen der nächsten 50 Jahre erfolgreich zurechtkommen können – also insbesondere die Unterstützung von Geschäftsideen, die bis 2030 marktfähig sein können und anschließend den Pfad zu den vereinbarten Nachhaltigkeitszielen für 2050 ebnen. Die dadurch begründeten innovativen Geschäfte zeichnen sich aus durch ihr Potenzial für mittel- und langfristiges Wachstum und die Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze, nicht zuletzt wegen neuer Exportmöglichkeiten für nachhaltige Zukunftslösungen.

Wer übernimmt den Staffelstab?

ZWZ entstehen nicht als Selbstläufer; vielmehr braucht es dafür Teams von interdisziplinär aufgestellten, zukunftsoffenen Personen unterschiedlichsten Alters: Mittelständler, Wirtschaftsförderer, Wissenschaftler, Abgeordnete, Studenten, Banker, Behördenmitarbeiter… Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum mit seiner Kompetenz wäre dazu in der Lage, über seine Zukunftsexpertise eine solche Entwicklung auch methodisch anzustoßen. Sind von dieser Arbeitsgruppe Regionen und Kernthema definiert, müsste dann eine Agenda mit Schrittfolgen, Schwerpunktsetzungen und Rahmenbedingungen erarbeitet und ein Gremium als Rechtsperson gegründet werden. Im Dialog mit den zunächst beteiligten Landesregierungen wäre es im nächsten Schritt unbedingt notwendig, dass das gewohnte Agieren in Bundesland-Denkmustern in einer großflächigeren Zusammenarbeit zu definierten Zukunftsthemen mündet.

Als wichtige Regel für effizienten Mitteleinsatz sollte gelten, dass der regional entworfene Kristallisationskeim genügend Anziehungskraft entfaltet und zu ersten Umsetzungsschritten von Interessierten und Befürwortern führt. Wenn erste Ergebnisse vorliegen und durch kooperierende Partner ein „Proof of Concept“ erreicht ist, sollte Förderung dafür sorgen, dass das zarte Pflänzchen erfolgreich weiterwachsen. Das würde den Mitteleinsatz von „Geld bereitstellen, damit etwas begonnen wird“ verschieben zu „aufstrebende Zukunftscluster fördern“, damit erkennbar erfolgversprechende Vorarbeiten auf dem Transformationspfad zu Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft nicht aus Geldmangel vorzeitig abgebrochen werden müssen.

Thomas Strobel (Zukunftslotse / Fenwis GmbH)
Foto: Ralf Succo 

 

Der Autor: Als Zukunftslotse begleitet Thomas Strobel seit Jahren mit methodengestützter Zukunftsarbeit komplette Industriezweige bei ihrer Neuausrichtung. Der 1963 geborene Dipl.-Ing. für Maschinenwesen gilt aufgrund seiner beruflichen Vita u. a. in Strategieabteilungen und Geschäftsplanungsteams als besonders industrienah. Er hat sich auf systematische Zukunftsplanung, Trendwirkungen und neue Geschäftsmodelle u. a. in mittelständischen Unternehmen spezialisiert und bringt seine Kompetenz seit 2020 aktiv im Ostdeutschen Wirtschaftsforum (www.ostdeutscheswirtschaftsforum.de) ein.