Samstag, Oktober 12, 2024

Ostdeutschland reif für Zukunftswirtschaftszonen

Die Wirtschaft der neuen Bundesländer steht auch dank Tesla, CATL & Co. vor kräftigen Wirtschaftsimpulsen. „Die Wende-erprobten Ostdeutschen sollten mit Blick auf die Erfordernisse 2050 jetzt beispielgebende Strukturen aufbauen“, regt Zukunftslotse Thomas Strobel an. Der Münchner Experte plädiert im Zuge der Regionalentwicklung für die modellhafte Transformation in vorausschauend gestalteten Zukunftswirtschaftszonen (ZWZ).Von Thomas Strobel, Zukunftslotse.

In der EU sind Sonderwirtschaftszonen selten; in Deutschland bis auf Freihäfen kaum anzutreffen. Dennoch könnte dieses Grundkonzept in abgewandelter Form den zukunftsorientierten Rahmen bieten, um beispielsweise unternehmerische Aktivitäten in Teilen Ostdeutschlands auf die enormen Nachhaltigkeitserfordernisse des Weges bis 2050 auszurichten. Ich plädiere deshalb für Weiterentwicklung von regionalen Clustern und Netzwerken zu Zukunftswirtschaftszonen. Das wäre ein völlig neuer Ansatz zur beschleunigten, zukunftssichernden Entwicklung solcher Großregionen wie Südbrandenburg/Oberlausitz (Sachsen) oder in der grenzüberschreitenden Variante Uckermark/Region Stettin.

Zukunftsfrage 1: Lassen sich rechtzeitig Konzepte entwickeln, die einen auslaufenden Braunkohletagebau als vorhandene Baugrube für einen Cluster mit Zukunftsindustrien nutzen, anstatt die zerstörte Landschaft nur mittelmäßig zu renaturieren?

In diesen Räumen soll modellhaft heute und morgen schon entstehen, was übermorgen unser Leben garantiert bestimmen wird: Nachhaltiges Wirtschaften und Leben auf CO2-neutraler Basis, zu deren Kennzeichen geschlossene Stoffkreisläufe ebenso wie „grüne“ Energien, naturnahe Agrartechnologien, neue Mobilitätskonzepte und hohe soziale Mindeststandards gehören. Für solche wirtschaftlichen Zukunftstreibhäuser zur Anzucht der Firmen-Pflänzchen für die Erfolge von morgen braucht es zukunftsorientierte Entscheidungsträger, Struktur-Konzepte, Ansiedlungen und politischen Willen. Wie in nachhaltiger Forstwirtschaft sollte es darum gehen, jetzt die passenden Setzlinge für einen klimaresistenten Mischwald zu finden und an geeigneten Stellen aufzuforsten.

Zukunftsfrage 2: In welchen dünn besiedelten Gebieten sollten Precision Farming mit Agrarrobotern und 5G-Netzen so verbunden werden, dass die Felder ohne schädlichen Chemieeinsatz automatisiert und zeitlich gestaffelt bewirtschaftet werden können, um einen möglichst hohen Anteil regionaler und saisonaler Produkte zu erzeugen?

Was sind Zukunftswirtschaftszonen?

ZWZ können Anforderungen und Erfolgsfaktoren so bündeln, dass daraus Vorsprung für den Weg in eine nachhaltige Welt 2050 erwächst. Das könnte regionale Rohstoffe und Wertstoffkreisläufe ebenso betreffen, wie die Fokussierung von Kompetenzen und Bildungseinrichtungen für den Aufbau von vorwiegend regionalen Wertschöpfungsnetzwerken für morgen benötigte Produkte, Dienstleistungen und Lösungen. Dabei sollte die bundesländer- und grenzübergreifende Zusammenarbeit an innovativen Zukunftsthemen nicht auf die Problemlösung von heute, sondern die auf die Kreislaufwirtschaft von morgen ausgerichtet sein.

Solche Wirtschaftszonen sollen im Ergebnis vorausschauender Zukunftsplanung durch möglichst große Teams von interdisziplinär ausgerichteten, zukunftsoffenen Unternehmern, Wirtschaftsentwicklern, Planern und Bürgern entstehen. Sie könnten dabei methodisch in Form einer Retropolation begleitet werden: Nach einem gemeinsamen weiten Blick in die Zukunft 2050, folgt ein Rückblick auf die nähere Zukunft 2030 und daraus abgeleitet Handlungsfelder und Prioritäten für konsistente und zielgerichtete Maßnahmen für den Weg von 2021 nach 2030. Dazu zählen regionale Stärken und Besonderheiten, die sich mit neuen Bedarfen kombinieren und weiterentwickeln lassen. Das Konzept könnte dann als Entwicklungsplan (Roadmap) modellhaft etabliert, umgesetzt und als Blaupause in andere deutsche Transformations-Regionen „exportiert“ werden.

Zukunftsfrage 3: Wo wird der Startpunkt für eine nachhaltige und gesunde Ernährung gesetzt, die wir morgen brauchen werden; mit Lösungen, die wir auch zum Nutzen von 7,5 bis 10 Mrd. Menschen exportieren können?

Warum gerade in Ostdeutschland?

Auf dem Weg in das Jahr 2050 haben die 1990 gebildeten und sich durch mittelständische Strukturen auszeichnenden ostdeutschen Länder war 2020 praktisch Halbzeit. Ihre Spezifik ist vielseitig – und immer wieder (und doch vielleicht noch zu selten?) Ausgangspunkt für letztlich erfolgreiche gesamtdeutsche Innovations-Experimente, wie etwa die wachsende Startup-Szene zeigt. In der zweiten „Halbzeit“ auf diesem Weg muss es jetzt um die Ideen für die Erfolge von morgen gehen. Dafür bieten sich Umbruchsregionen, wie es beispielsweise die noch gut ein Jahrzehnt auf Braunkohle fokussierte Lausitz ist, besonders an. Der allgegenwärtige Transformationsdruck trifft hier auf die bewährte Bereitschaft der Ostdeutschen, sich den notwendigen Veränderungen zu stellen. Nur die ostdeutschen Bundesbürger haben echte Wendeerfahrung – und vor uns liegen weitere prägende Richtungsänderungen in Sachen Energie, Agrar, Mobilität, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft usw. Wann, wenn nicht jetzt, sollte dieser 30-jährige Erfahrungsvorsprung als Trumpf ausgespielt werden?

Zukunftsfrage 4: Wo und wann werden Themen wie lokale und nachwachsende Rohstoffe, nachhaltige Produkte, Design-to-Recycle, Cradle-to-Cradle in der Praxis raumgreifend umgesetzt, damit sie als wichtige Bausteine einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft bis 2050 erfahrungsbasiert breit nutzbar sind?

Mögliche Etappen dorthin

Zukunftswirtschaftszonen lassen sich nur bedingt administrieren; sie müssen durch zukunftsoffene Mitgestalter auf allen Ebenen gewollt und als regional startendes Modell für ganz Deutschland begriffen werden. Auf dem Weg dahin sind Vorbereitungsgremien unter Leitung von zu etablierenden Experten für Zukunftsfragen zu schaffen. Dafür sind aus meiner Sicht vier Handlungsstränge notwendig:

  1. (2021-2022) Zukunftsbild 2050 für eine Rückschau auf die Zwischenstation 2030 entwerfen und mögliche Zukunftswirtschaftszonen identifizieren.
  2. (2021-2025) Mittelständler, Startups, Wissenschaftler, Bürger und Politiker verstärkt in die vorausschauende Zukunftsplanung einbeziehen.
  3. (2021-2030) Konzepte zukunftssicherer Regionalentwicklung in Form von Roadmaps entwickeln und schrittweise umsetzen, mit Blick auf die erkennbaren Erfordernisse für 2050.
  4. (2025-2030) Roadmaps für überregionale Zukunftswirtschaftszonen entwickeln und entsprechende Strukturen, gesetzliche Bedingungen, Förderprogramme etc. für ausgewählte Regionen umsetzungsreif vorbereiten.

Fragen, die beispielsweise noch in diesem Jahrzehnt beantwortet werden müssten, wären:

  • Welche regionalen Stärken können und sollen für die Zukunftssicherung weiter genutzt oder ausgebaut werden?
  • Welche alten Industriestandorte, Ex-Flughäfen oder aufgelassene Truppenübungsplätze können (ohne Flächenverbrauch) einer neuen Nutzung idealerweise mit geplanten Rohstoffketten und -kreisläufen zugeführt werden?
  • Welche praxisnahen Zukunftscluster können in der Region entstehen, z.B. Precision Farming, autonome Landwirtschaft mit Robotern und Drohen, Kreislaufwirtschaft mit nachwachsenden Rohstoffen, Kombination von Photovoltaik mit Ackerbau und Tierhaltung (Agrophotovoltaik), Mobilitätskonzepte für Mittelstädte mit urbanem Einzugsgebiet…
  • Welche vorausschauenden Entwicklungen für Arbeitnehmerattraktivität sind geplant – bezahlbarer Wohnraum für Familien, Kindergärten, Schulen, Bildungseinrichtungen, Hochschulen/Universitäten, Kulturbetrieb usw.?

Zukunftsfrage 5: In welchen Städten oder Stadteilen sollen mit einer zukunftsfähigen Stadt- und Quartierentwicklung frühzeitig den Weg nach 2050 eingeläutet werden, damit die Bauindustrie mit Hilfe neuer Materialien wie Textilbeton und neuer Planungsverfahren wie BIM schrittweise so revolutioniert wird, dass auf diese Weise smarte und update-fähige Gebäude mit weniger Ressourceneinsatz und flexiblerer Nutzbarkeit für Wohnungen, Büros, Praxisräume entstehen können?

Welche Regionen sind geeignet?

Grundvoraussetzung dafür ist zunächst eine ausreichende Anzahl von Gestaltungsbausteinen, die so kombiniert werden können, dass damit eine erfolgversprechende Weichenstellung für die Zukunft 2050 skizziert werden kann:
Arbeitsplätze in zukunftssicheren Industrien mit Wachstumspotenzial, qualifizierte Arbeitskräfte (insbesondere auch aus auslaufenden Industrien), Ausbildungsplätze und Bildungseinrichtungen, Firmen und Zulieferer, Arbeitsstrukturen der Zukunft, Wohnstrukturen der Zukunft, Freizeitangebote, Mobilitätskonzepte, Nahrungsmittelversorgung, CO2-Neutralität, hohe Wertschöpfung mit reduzierter Logistik durch regionale Zusammenarbeit, um nur einige Zielvorstellungen zu benennen.

Thomas Strobel. Foto: Ralf Succo

Der Autor: Als Zukunftslotse begleitet Thomas Strobel (Foto: W+M/Ralf Succo) seit Jahren mit methodengestützter Zukunftsarbeit komplette Industriezweige bei ihrer Neuausrichtung. Der 1963 geborene Dipl.-Ing. für Maschinenwesen gilt aufgrund seiner beruflichen Vita u. a. in Strategieabteilungen und Geschäftsplanungsteams als besonders industrienah. Der Münchner Experte hat sich auf systematische Zukunftsplanung, Trendwirkungen und neue Geschäftsmodelle u. a. in mittelständischen Unternehmen spezialisiert. Strobel bringt seine Kompetenz seit 2020 aktiv im Ostdeutschen Wirtschaftsforum (www.ostdeutscheswirtschaftsforum.de) ein.

 

 

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