Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist eine der wichtigsten Branchen in Ostdeutschland. Zu großen Teilen produziert sie am Anfang der Wertschöpfungskette und viele ihrer Erzeugnisse fließen in die Produktion fast aller anderen Wirtschaftszweige ein. Die Ostchemie erlebte in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung tiefgreifende Einschnitte und stand ganz im Zeichen der Neuordnung. Seit dieser Zeit steigt der Umsatz jedoch kontinuierlich: 2021 erreichte er mit über 31 Milliarden Euro einen neuen Höchststand. Mit 57 Prozent tätigen die Betriebe mehr als die Hälfte ihrer Geschäfte im Ausland. Keine andere Branche des Ostens ist exportintensiver. Rund 54.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ihren Arbeitsplatz in der Hochlohnbranche Ostchemie. Aus aktuellem Anlass sprach W+M mit der Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände Nora Schmidt-Kesseler.
W+M: Frau Schmidt-Kesseler, Sie vertreten mit dem VCI Nordost und dem AGV Nordostchemie die Chemie- und Pharmaindustrie im Osten Deutschlands. Wie geht es der Branche?
Nora Schmidt-Kesseler: Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben die Energiepreise für Gas und Strom neue Rekordwerte erreicht. Die exorbitanten Energiepreise zwingen die Unternehmen in unserer Branche, Produktionen zu drosseln. Erste Produktionsanlagen stehen bereits still, Wertschöpfungsketten beginnen zu reißen. Wir haben in Ostdeutschland Unternehmen, bei denen die Produktion bereits um 30 bis 40 Prozent eingebrochen ist. Für den Winter ist aufgrund der neuen Gasumlage und eines steigenden Gasverbrauchs während der Heizperiode mit weiteren Preisanstiegen zu rechnen. Wie dramatisch die Entwicklungen sind, ist in der Politik offensichtlich noch nicht ausreichend durchgedrungen. Die Lage ist dramatisch, die aktuelle Krise lässt uns keine Zeit für Experimente. Die Politik muss jetzt alles tun, um das Schlimmste zu verhindern.
W+M: Könnten Sie uns das erklären?
Nora Schmidt-Kesseler: Wie kaum eine andere Branche in Deutschland ist die chemisch-pharmazeutische Industrie als größter Gasverbraucher Deutschlands, 15 Prozent Anteil am Gesamtverbrauch, von der aktuellen Situation betroffen. Gas ist für die Chemie essenziell und kann trotz größter Bemühungen der Unternehmen kurzfristig nur in geringem Maße durch andere Brennstoffe ersetzt werden. Als Energieträger hat der Sektor in den letzten Jahrzehnten aus Klimaschutzgründen auf Gas als Brücke in die Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts gesetzt. Außerdem ist die Chemie die einzige Branche, die Erdgas auch direkt als Rohstoff zur Herstellung vieler tausender Chemikalien einsetzt. Diese sind wiederum wichtig für alle nachfolgenden Produktionsketten in fast allen Branchen und machen die chemische Industrie zum Herz des Industriestandorts Deutschland.
Etwa 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse hierzulande benötigen in ihrem Entstehungsprozess Chemieprodukte. Seit Monaten haben wir vor drohenden Dominoeffekten durch Produktionsausfälle gewarnt. Jetzt stecken wir bereits mittendrin. Unter anderem werden wichtige Chemikalien für die Abwasserreinigung knapp, gleiches droht für Düngemittel und AdBlue durch den Produktionsstopp eines der größten Ammoniakproduzenten in Deutschland. Am Beispiel AdBlue lassen sich die weitreichenden Konsequenzen für jeden einzelnen in Deutschland gut verdeutlichen. Denn ohne dieses Mittel fährt so gut wie kein LKW mehr, ohne LKW können viele Güter nicht mehr transportiert werden, ohne die Transporte bleiben die Regale – ob im Supermarkt oder auch der Apotheke – leer. Beinahe noch schlimmer sind jedoch die Konsequenzen, die momentan gezogen werden. Anstatt durch Entlastungen eine zumindest kostendeckende Produktion wieder möglich zu machen, sollen beispielsweise Grenzwerte bei der Abwasseraufbereitung überschritten werden dürfen, mit weitreichenden Folgen für Flora und Fauna, und Produktionsausfälle sollen über den Einkauf auf dem Weltmarkt substituiert werden. Dass dies oftmals für die Verbraucher nicht günstiger ist und weitere Abhängigkeiten schafft, sollte in der Politik alle Alarmglocken schrillen lassen.
W+M: Gibt es einen Hebel dem entgegenzuwirken oder können wir nur darauf hoffen, dass die Energiepreise wieder auf ein tragbares Niveau sinken?
Nora Schmidt-Kesseler: Dass der Markt es richten wird, sehe ich kurzfristig nicht. Zum einen, weil weiterhin eine Knappheit bei der Gasversorgung bestehen wird. Zum anderen kommen auf die Unternehmen Mehrbelastungen durch zahlreiche Umlagen zu, die einen wirtschaftlichen Weiterbetrieb der Anlagen in vielen Fällen nicht mehr möglich machen. Allein die Gasumlage würde die chemisch-pharmazeutische Industrie bis zu vier Milliarden Euro im Jahr kosten. Eines unserer Unternehmen, ein großer Gasverbraucher aus Sachsen-Anhalt, hat ausgerechnet, dass die Gasumlage 30 Millionen Euro pro Monat an Zusatzkosten bedeuten würde. Hier ist die Politik gefordert, kurzfristig Entlastungen zu schaffen. Uns ist bewusst, dass der Gesetzgeber in einem unheimlich hohen Tempo in einer außergewöhnlichen Drucksituation handelt. Dass an der ein oder anderen Stelle Fehler passieren, ist da nicht auszuschließen. Umso entscheidender ist aber, dass entsprechend nachjustiert wird, damit die Industrie – der Motor unserer gesamten Volkswirtschaft – nicht dauerhaft Schaden nimmt. Das funktioniert teils gut, teils würden wir uns mehr Dialogbereitschaft und schnelleres Handeln wünschen. Auch auf Ebene der Länder sind wir in einem permanenten Austausch und erfahren eine sehr breite Unterstützung, für die wir sehr dankbar sind.
W+M: Lag der Fokus der Politik in den letzten Monaten zu stark auf der Verfügbarkeit von Gas anstatt bezahlbarer Preise?
Nora Schmidt-Kesseler: Ohne Gas geht in der Chemie nichts. Das liegt auch daran, dass die Unternehmen neben der energetischen Nutzung Gas als Rohstoff für die Herstellung von Produkten benötigen – also stofflich verwenden. Kurz nach Beginn des Krieges wurde von vielen Seiten – auch verstärkt aus der Politik – ein Gasembargo gefordert. Es wurde zum Glück schnell verstanden, dass wir uns mit einem solchen Embargo selbst mehr als Russland geschadet hätten. Die Verfügbarkeit von Gas und die diversen Maßnahmen der Bundesregierung sind daher wichtig. Trotzdem dürfen wir die Preiskomponente nicht aus den Augen verlieren. Was nützt uns die Verfügbarkeit, wenn die Unternehmen trotzdem am Ende des Tages aufgrund der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr produzieren können? Das Thema Verfügbarkeit bleibt aber nach wie vor virulent, weil jetzt ein Szenario eingetreten ist, vor dem wir seit Monaten warnen: Die Einstellung der Gaslieferungen von russischer Seite.
W+M: Lässt sich das Erdgas nicht durch andere Quellen ersetzen? Und, war Gas als ein fossiler Energieträger, nicht bereits vor dem Ukrainekrieg ein Auslaufmodell?
Nora Schmidt-Kesseler: Speziell in Ostdeutschland, aber auch im Süden, haben wir das Problem, dass wir fast gänzlich über die Pipelines aus Russland beliefert werden. Das lässt sich nicht von heute auf morgen substituieren. Wir sind aber auf eine konstante Versorgung angewiesen, da ein flexibles Runter- und Hochfahren der Anlagen nicht möglich ist. Wo es möglich ist, haben die Unternehmen in den vergangenen Monaten Gas eingespart oder haben auf andere Energieträger wie Öl umgestellt. Die Maßnahmen sind aber ausgereizt. Zu der Frage des fossilen Energieträgers als Auslaufmodell muss bedacht werden, dass Erdgas als wichtige Brücke gedacht war, um vom fossilen Energieträger Kohle und auch der Atomenergie unabhängig zu werden. Daher ist der Bedarf entsprechend groß, auch weil wir nicht ansatzweise die Kapazitäten haben, um die Industrie zu elektrifizieren. Momentan brauchen wir jede Kilowattstunde – egal ob aus Gas, Kohle oder auch Atomstrom. Zudem ließe sich Erdgas energetisch zwar in der Theorie substituieren, aber wird wie erläutert auch stofflich für die Herstellung wichtiger Produkte gebraucht.
W+M: Im Oktober findet die Fortsetzung der Tarifverhandlungen statt, die im Frühjahr aufgrund des Ukrainekriegs verschoben wurden. Zur Unzeit?
Nora Schmidt-Kesseler: Die Folgen des Ukrainekriegs sind so dramatisch, dass an eine normale Tarifrunde nicht zu denken ist. Wir brauchen einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit, kein Wettrennen um Lohnprozente. Die Lage hat sich seit der Vereinbarung der Brückenregelung nicht verbessert – ganz im Gegenteil. Die Unternehmen verzeichnen Produktionsrückgänge im zweistelligen Prozentbereich. Steigende Energie- und Rohstoffkosten belasten unsere Industrie ganz besonders stark, die Preise können nur teilweise weitergegeben werden. Die Forderung der Gewerkschaft nach einem Inflationsausgleich und dauerhaften Entgelterhöhungen ist vor diesem Hintergrund für uns nur begrenzt nachvollziehbar.
W+M: Abgesehen von der besonderen Abhängigkeit von russischem Gas in Ostdeutschland. Gibt es Unterschiede zwischen Ost und West? Was können die Unternehmen im Osten besonders gut?
Nora Schmidt-Kesseler: Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Ostdeutschland steht der im Rest Deutschlands in nichts nach. Wir erleben zudem, dass viele Neuansiedlungen von hochinnovativen Vorhaben im Osten stattfinden. Das liegt vor allem an den guten Rahmenbedingungen, dem Rückhalt in der Politik und der Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Produktion im Stoffverbund ist bei uns sehr ausgeprägt. So sind die Unternehmen in den Chemieparks – übrigens eine ostdeutsche Erfindung – stark miteinander vernetzt. Gleiches gilt für die Chemieparks untereinander. Das ist auch ein Pluspunkt beim Aufbau einer umfangreichen Wasserstoffwirtschaft. Wir arbeiten aktuell gemeinsam mit Fraunhofer an einer auf die chemisch-pharmazeutische Industrie in Ostdeutschland zugeschnittene Wasserstoffstrategie – ein bislang einmaliges Projekt. Die Ergebnisse und Empfehlungen legen wir 2023 vor.
W+M: Die große Bedeutung der Chemie- und Pharmabranche ist in diesem Gespräch deutlich geworden. Ist sie jedoch den Menschen bewusst? In Politik wie Öffentlichkeit?
Nora Schmidt-Kesseler: Unsere Branche wird vermehrt als Lösungsindustrie wahrgenommen. Die Corona-Pandemie hat sicherlich dazu beigetragen, dass viele Menschen verstanden haben, was die Chemie eigentlich ist und macht. Angefangen bei der Produktion von Desinfektionsmittel über die Produktion von Impfstoffen bis hin zum Aufbau und Betrieb vom Impfzentren – und das alles in Rekordzeit. Kurz: Unser Leben ist ohne Chemie und Pharma undenkbar. Uns haftet aber teils noch ein negatives Image an. Da fallen Begriffe wie ‚schmutzige Chemie‘ und ‚Big Pharma‘.
W+M: Wir wirken Sie dem entgegen, bzw. was ist noch zu tun?
Nora Schmidt-Kesseler: Wir handeln getreu dem Motto „Tue Gutes und rede darüber“. Wir betonen immer wieder, und in den letzten Monaten ganz besonders, dass in fast allen Produkten unseres Lebens Chemie steckt – und das im positiven Sinne. Windkraftanlagen, E-Bike, ultraleichter Laufschuh oder auch Arznei- und Reinigungsmittel: Ohne die Chemie und ihre Innovationen könnten viele Dinge nicht hergestellt werden und die Regale in den Geschäften wären entsprechend leerer. Das müssen wir den Menschen immer wieder deutlich machen – auch in der Politik.
Interview: Frank Nehring
Die Chemie- und Pharmabranche im Osten Deutschlands
Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist eine der wichtigsten Branchen in Ostdeutschland. Zu großen Teilen produziert sie am Anfang der Wertschöpfungskette und viele ihrer Erzeugnisse fließen in die Produktion fast aller anderen Wirtschaftszweige ein. Mit einigen Produkten wie Pharmazeutika oder Körperpflegemitteln reicht ihr langer Arm bis zum Endverbraucher. Die Ostchemie erlebte in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung tiefgreifende Einschnitte und stand ganz im Zeichen der Neuordnung. Seit dieser Zeit steigt der Umsatz jedoch kontinuierlich: 2021 erreichte er mit über 31 Milliarden Euro einen neuen Höchststand. Mit 57 Prozent tätigen die Betriebe mehr als die Hälfte ihrer Geschäfte im Ausland. Keine andere Branche des Ostens ist exportintensiver. Pharmazeutika und chemische Grundstoffe sind die Hauptstandbeine. Darüber hinaus stellt die Branche Wasch- und Körperpflegemittel, Lacke und Farben, Chemiefasern sowie sonstige chemische Erzeugnisse her. Rund 54.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ihren Arbeitsplatz in der Hochlohnbranche Ostchemie.