Montag, November 25, 2024

Wie wird (Ost)Deutschland digital souverän?

Die Corona-Pandemie war sicherlich ein Katalysator für die Digitalisierung der Verwaltung und Wirtschaft in Deutschland. Die Krise hat die Schwächen Deutschlands im Digitalen schonungslos offengelegt: Nach wie vor haben wir in Deutschland keine flächendeckende Versorgung mit Gigabit-Netzen, souveränen IT-Infrastrukturen und digitalen Geschäftsmodellen, die auch international wettbewerbsfähig sind. Schulen sind noch weit entfernt, professionell digital-gestützten Unterricht anzubieten, Gesundheitsämter zelebrieren einen föderalen Kult und verheddern sich in Streitigkeiten über Zuständigkeiten und Datenaustausch. Wenn auch noch kein echter Digitalisierungsschub ausgelöst wurde, hat es zumindest einen ordentlichen Erkenntnisschub geben, dass es höchste Zeit ist, mit der Digitalisierung voranzukommen, und zwar in allen Bereichen. Jetzt müssen wir diesen Schwung nutzen! Ein Beitrag von Prof. Christoph Meinel. 

Wieso versagt Deutschland bei der digitalen Transformation?

Das größte Problem bei der digitalen Transformation am Standort Deutschland ist, dass auf politischer Ebene nicht verstanden wird, dass man digitale Infrastrukturen und digitale Anwendungen (Inhalte) strikt getrennt denken und entwickeln muss. In den unübersichtlichen deutschen föderalen Verantwortungsstrukturen wird dieser Unterschied immer noch nicht verstanden mit der fatalen Folge, in allen digitalen Belangen trotz des Einsatzes großer Geldmengen seit Jahren nicht voranzukommen. Die Existenz leistungsfähiger digitaler Infrastrukturen sind notwendige Voraussetzung und Gelingensbedingung für den erfolgreichen Einsatz jedweder digitalen Anwendungen. Für jede Anwendung braucht es eine sichere Authentifizierung, bei jeder Anwendung muss ein sicherer nutzerfreundlicher Zugang und die Konformität zu den geltenden Datenschutzregeln sichergesellt sein. Die Bereitstellung und der Betrieb leistungsfähiger Infrastrukturen kann nur über alle föderalen Ebenen hinweg erreicht werden, einzelnen Bundesländer geschweige denn einzelne Kommunen dort können das dauerhaft nicht stemmen. Nur wenn digitale Infrastrukturen gemeinsam gedacht, entwickeln und betrieben werden, wird es gelingen, den Standort Deutschland auch im Bereich der Digitalisierung nach vorne zu bringen.

Behindert der Datenschutz den Fortschritt?

Foto: adobe stock

Datenschutz behindert nur dann den Fortschritt, wenn keine eigenen datenschutzkonformen Infrastrukturen zur Verfügung stehen und diese zumindest von der öffentlichen Verwaltung genutzt werden. Es ist unglaubwürdig und kann auch nicht erfolgreich sein, wenn Deutschland und die EU von erfolgreichen ausländischen Dienstanbietern verlangen, EU-Standards einzuhalten, ohne eigene Alternativen anbieten und einsetzen zu können. Anstatt die Konkurrenz zu beleben und für EU-Bürger die Nutzung digitaler Dienste auf konkurrenzfähigen eigenen Infrastrukturen anzubieten, die den EU-Standards und Werten entsprechen, werden diese in die Arme der ausländische Dienstanbieter getrieben. In der Konsequenz verhindern wir so, dass konkurrenzfähige digitale Dienste hier in Europa entstehen und ihre Nutzer finden können. Das Thema digitaler Souveränität in Deutschland und in der EU kann und muss auf Infrastrukturebene gelöst werden. Wir brauchen in Europa „Datenschutz as a Service“, bei dem Datenschutz fest in die europäischen Infrastrukturen hineinkodiert ist und auf der alle Anwendungen über entsprechende Daten schützende Schnittstellen laufen können. Dann werden die EU-Standards vom Hemmschuh zum Wettbewerbsvorteil, weil dann die allseits beliebten ausländischen Dienste dann ohne viel Zutun auch Datenschutz-konform genutzt werden können.

Digitale Souveränität ist der Schlüssel zu Wettbewerbsfähigkeit

Souverän kann nur sein, wer weiß, wo und in welchen Kontexten Daten anfallen, der beeinflussen kann, wie mit den Daten umgegangen wird und der Daten eigenverantwortlich nutzen, weiterverarbeiten und löschen kann. Digitale Souveränität bedeutet, die Hoheit über die eigenen Daten und IT-Infrastrukturen zu haben. Auf nationaler Ebene heißt das, dass ein Staat mit eigenen Infrastrukturen sicherstellen kann, dass die Daten seiner Bürger im eigenen Hoheitsbereich verbleiben und unter den geltenden, demokratisch vereinbarten Regeln bewahrt und genutzt werden können und dass Forschung, Bildung und Anwendung digitaler Dienste, nicht von ausländischen Akteure abhängig sind. Besonders gravierend ist dieser Befund im Bereich der medizinischen Forschung, wo deutsche Forscher gezwungen sind, im Ausland zu agieren, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Wenn es nicht gelingt, das für den Forschungsstandort Deutschland zu ändern, wäre das eine Bankrotterklärung.

Digitale Souveränität – nicht Digital-Nationalismus!

Es ist trotzdem wichtig, nicht in einen Digitalnationalismus zu verfallen. Internationale Kooperation ist lebenswichtig und für die Entwicklung eigner Fähigkeiten notwendig. Aber Kooperation lebt davon, dass jede Seite etwas anzubieten hat und nicht, dass einer alles anbietet und der andere ausschließlich konsumiert (und dadurch in vollständige Abhängigkeit gerät). Digitale Souveränität bezeichnet einen Zustand der Augenhöhe auch im Bereich der neuen Digitaltechnologien, dem ein Land wie Deutschland und ein Kontinent wie Europa anstreben muss, um seine führende Position und den damit verbundenen Wohlstand verteidigen zu können. Digitale Souveränität setzt das Vorhandensein eigener digitaler Infrastrukturen voraus, die es Bürgern und Unternehmen ermöglichen, gesetzeskonform auch im digitalen Raum aktiv zu sein. Der Aufbau von Kompetenzen im Bereich digitaler Infrastrukturen hat enormes ökonomisches Potential, da in diesem Bereich zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen können, wenn es gelingt, zu den Top-Infrastrukturanbietern in der Welt aufzuschließen, mit zusätzlichen Mehrwerten wie dem Schutz der Daten/Privatsphäre. Nur wenn eigene Alternativen zu den ausländischen Diensten existieren, können auch diese selbstbewusster genutzt werden.

Ostdeutschland könnte zum Reallabor für digitale Souveränität werden

Das Thema digitale Souveränität ist grundsätzlich zu groß für Ostdeutschland allein, vielleicht sogar zu groß für Deutschland. Aber die ostdeutschen Länder könnten vorangehen und in gemeinsamen länderübergreifenden Projekten beim Aufbau digitaler Infrastrukturen einen Standortvorteil erringen. Gemeinsam sind die neuen Länder so gewichtig wie das größte deutsche Bundesland – allein sind sie dagegen wenig bedeutend. Das kann gelingen, wenn Ostdeutschland schneller ist, wichtige Infrastrukturprojekte gemeinsam aufbaut und so Fakten schafft, an denen andere nicht mehr vorbeikommen. Das erfordert unbürokratisches, ergebnisorientiertes Arbeiten über Länder- und Parteigrenzen hinweg. Ein erstes sehr einfaches umzusetzendes Projekt könnte der gemeinsame Betrieb einer digitalen Schul-Infrastruktur, wie der HPI Schul-Cloud, sein.

Was muss geschehen, damit digitale Souveränität in Deutschland erreicht wird?

Der IT-Planungsrat als wichtigstes deutsches Koordinierungsgremium muss gestärkt und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet werden. Das Prinzip „Einer entwickelt – Alle nutzen“ muss in allen Bereichen, wo digitale Technologien in der öffentlichen Verwaltung verwendet werden, länderübergreifend zur Anwendung kommen. Bei zukünftigen öffentlichen Digitalisierungsprojekten muss die strikte Trennung von digitaler Infrastruktur und digitalen Systemen/Diensten/Anwendungen eingehalten werden: Die Schaffung digitaler Infrastruktur muss ganz analog zu den Autobahnen in der analogen Welt eine
gemeinsame Aufgabe sein, Dienste können und sollen sich föderal ausdifferenzieren auf der Basis offener Schnittstellen, so dass sie über die gemeinsamen Infrastrukturen ausgespielt werden können.

Neue Leitgedanken für öffentliches Beschaffungswesen im Digitalbereich

Um heimische Unternehmen wettbewerbsfähig zu machen, sollten bestimmte Souveränitätsprinzipien Eingang in das öffentliche Beschaffungswesen für digitale Verwaltungssoftware finden:

  1. Wo immer es möglich ist, sollten Open Source-Produkte zur Vermeidung von Vendor Lock-in beschafft werden.
  2. Hosting von deutschen Verwaltungsdaten muss bei deutschen/europäischen Firmen erfolgen.
  3. Anwendung des Prinzips „Public Money – Public Code“ bei staatlicher F&E-Förderung im Digitalbereich
  4. Gemeinsame Pilotierung von digitalen Infrastrukturprojekten: Hier könnte der gemeinsame Betrieb einer digitalen Schul/Lern-Infrastruktur wie der HPI Schul-Cloud durch alle (ost)deutschen Bundesländer den Weg weisen.
  5. Erarbeitung weiterer Use-Cases im Sinne des OZG auf gemeinsamer digitaler Infrastruktur
Prof. Dr. Christoph Meinel, Direktor des Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik und Leiter des Fachgebiets Internet-Technologien und -Systeme.

Der Autor: PROF. DR. CHRISTOPH MEINEL ist Institutsdirektor und CEO Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering gGmbH

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