Ein Beitrag von Thomas Kralinski.
Wien und Wismar, Amsterdam und Zossen, Warschau und Wittenberg, Hamburg und München – die Abfahrtstafel der Züge am Berliner Hauptbahnhof ist ein sehr genaues Abbild dessen, was die deutsche Hauptstadt heute ist: Eine Metropole in der Mitte Europas, Deutschlands größte Stadt und ein wichtiger Knotenpunkt für die Regionen rund um Berlin.
Berlin hat es in den vergangenen Jahrzehnten nicht leicht gehabt. Eine boomende Industriestadt noch in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dann die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit der anschließenden Teilung der Stadt. Nach der Wiedervereinigung dann erst einige hochfliegende Träume, die dann schnell an der ökonomischen Realität platzten – und in hoher Verschuldung mündeten.
Doch mit Beginn des 21. Jahrhunderts begann sich Berlin zu berappeln. „Arm aber sexy“ war zunächst eine wirklich gute Beschreibung der Situation. Niedrige Mieten und freie Flächen im Übermaß lockten Studenten und Kreative in die Hauptstadt. 200.000 Studenten gibt es heute in Berlin, zehntausende gut ausgebildete junge Menschen aus Spanien, Israel, Polen oder anderen Ecken Europas zog es in die Stadt auf der Suche nach Ausbildung, Job oder schlicht dem schönen Leben. Kamen in den 1990er Jahren gerade mal 3 Millionen Touristen nach Berlin, waren es im Vor-Corona-Jahr fast 14 Millionen.
Zur Wiedervereinigung wohnten gut 3,4 Millionen Menschen in Berlin. Im Jahr 2000 sagten die Prognosen der Stadt für 2020 etwa 3,3 Millionen voraus. Doch das Blatt wendete sich. Heute hat Berlin 3,7 Millionen Einwohner – und die Prognosen rechnen für 2030 mit bis zu 3,9 Millionen. Allein die Differenz von 600.000 Menschen zwischen den prognostizierten Einwohnerzahlen für 2020 und 2030 zeigt, wie stark sich die Stadt und die mit ihr verbundenen Erwartungen verändern.
Berlin ist zum wachsenden Magneten geworden. Seit 1990 stieg die Einwohnerzahl um 7 Prozent. In der gleichen Zeit schrumpften die ostdeutschen Länder um 24 Prozent (Sachsen-Anhalt) bis 15 Prozent (Sachsen), einzig das Berlin umgebende Brandenburg hat eine insgesamt stabile Einwohnerzahl. In den nächsten zehn Jahren könnte die Einwohnerzahl der neuen Länder nochmals um eine Million zurückgehen.
Nun ist derzeit wenig mehr sicher, als dass die Zukunft unsicher ist
In der Berliner Wirtschaft hat sich erstaunliches getan. Erst seit 2014 liegen Berlins Wachstumsraten über dem deutschen Durchschnitt. Seit 2010 sind 22 Prozent mehr Menschen erwerbstätig in Berlin – der Arbeitsmarkt wuchs damit so schnell wie in keinem anderen Bundesland. Nun ist derzeit wenig mehr sicher, als dass die Zukunft unsicher ist. Dennoch: Die Rahmendaten sprechen dafür, dass Berlin auch in den kommenden Jahren prosperieren wird.
Schon lange ist Berlin kulturelles und wissenschaftliches Zentrum Deutschlands. Auch die politische Bedeutung der Stadt ist in den vergangenen Jahren – parallel mit den Erwartungshaltungen an die Problemlösungskompetenz Deutschlands – gestiegen. Wann immer es ein Problem in Europa (und manchmal auch darüber hinaus, man denke nur an Libyen oder den Iran) gibt: Schnell wendet sich der Blick nach Berlin in der Erwartung, Deutschland werde das Problem schon lösen. Gefehlt hat bisher nur die wirtschaftliche Power. Berlin war bisher die einzige europäische Hauptstadt, die nicht das ökonomische Zentrum ihres Landes ist.
Für die nächsten Jahre steht viel auf dem Spiel. Digitalisierung, demografische Wandel, Energiewende und Klimawandel sind nur die wichtigsten Stichworte für die weitere Entwicklung unserer Ökonomie und Gesellschaft. Berlin hat dabei die Chance zu den „Superstars“ unter den Metropolen Europas aufzuschließen: mit multinationalen Unternehmen, gut ausgebildeten Fachkräften und einer hoch entwickelten räumlichen Verflechtung. Die Berliner Start up-Landschaft ist eine der größten und am schnellsten wachsenden Europa. 2020 stiegen gleich zwei Berliner Unternehmen in den deutschen Aktien-Leitindex DAX auf – es sind die einzigen in ganz Ostdeutschland. Der neue Flughafen wurde eröffnet. Vor den Toren der Stadt baut Tesla ein neues Zentrum der Elektromobilität auf – wahrscheinlich ergänzt durch ein Forschungs- und Entwicklungszentrum innerhalb Berlins. Die Batteriewirtschaft erfindet sich um Berlin herum gerade neu. Die Anziehungskraft der Stadt für Unternehmen und Menschen ist nach wie vor enorm, was sich in massiv steigenden Immobilienpreisen und Mieten niederschlägt.
Lokomotivfunktion Berlins für Ostdeutschland
Damit steigt auch die Verflechtung der Hauptstadt mit ihrem Umland – dort wohnen demnächst fast 5 Millionen Menschen. Das ist die größte Metropole Deutschlands und Mitteleuropas. Und immer mehr zeigt sich: Das Umland Berlins endet nicht am Autobahnring, sondern reicht weit darüber hinaus. Die neuen Länder sind dünn besiedelt und nicht reich an größeren und starken Städten. Umso wichtiger ist die Bedeutung Berlins. In nackten Zahlen ausgedrückt: War der Anteil Berlins an den neuen Ländern 1990 bei knapp 19 Prozent, wird er demnächst bei 25 Prozent liegen. Und damit trägt die Stadt auch eine größere Mitverantwortung für die weiteren Perspektiven Ostdeutschlands. Ähnlich wie München die Lokomotive Oberbayerns geworden ist. Wie kann also die Lokomotivfunktion Berlins für Ostdeutschland ausgespielt werden? Es geht vor allem darum, dass eine aktive Raum- und Strukturpolitik sich selbst verstärkende Prozesse anstößt.
Forschung und Wissenschaft als zentrale Treiber von Innovation leben heute vom Austausch, international und national. Sie brauchen die Verknüpfung untereinander, mit Start-ups und Unternehmen, sie brauchen den Zugang zu Staat und Verwaltung. Für die zahlreichen meist kleineren ostdeutschen Unis und Fachhochschulen ist der Großraum Berlin mit der größten Forscherdichte Deutschlands damit ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Bisher gibt es in Ostdeutschland außerhalb Berlins nur eine einzige Eliteuniversität. Es wird ganz wesentlich auf Verbünde von Hochschulen – gerade auch mit Berliner Einrichtungen – ankommen, will man in Ostdeutschland an die deutsche Forschungselite Anschluss halten. Aber auch um das Matching vieler Unternehmen mit Forschern und Entwicklern, die ihre Prozesse zwingend digitalisieren und klimaneutral gestalten müssen, wollen sie auch in Zukunft wettbewerbsfähig sein.
Aus „Nachbau West“ wird gerade „Vorsprung Ost“
Darüber entsteht in Ostdeutschland gerade eine Wirtschaftsstruktur für das 21. Jahrhundert, deren Kern Elektromobilität, Batterie- und Wasserstoffwirtschaft ist. Neben Tesla investieren auch VW und BMW in E-Autos in Ostdeutschland, BASF, Tesla und CATL revolutionieren die Produktion und Wiederverarbeitung von Batterien, Wasserstoff als zentraler Energieträger spielt beim Strukturwandel in der Lausitz und in Mitteldeutschland eine ganz zentrale Rolle. In der Summe entwickelt sich in den neuen Ländern eine Ökonomie, die erstmals in der Lage sein kann, den alten Ländern voraus zu sein, statt dort erprobte Strukturen einfach nur nachzubauen. Aus „Nachbau West“ wird gerade „Vorsprung Ost“.
Diese Entwicklungen gilt es in den kommenden Jahren zu verstärken. Und es gilt, dass ihre Effekte möglichst weit in Ostdeutschland spürbar sind. Dazu gehört, räumlich Entwicklungen nicht mehr in konzentrischen Kreis, sondern in Strahlen und Achsen zu denken. Und damit auch nicht mehr nur in Kilometern, sondern in Zeit. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass man nicht jeden Tag ins Büro muss. Mit superschnellen Regionalverbindungen lassen sich von den Großstädten damit auch viele Orte im ländlichen Raum erreichen, die bisher auf keiner mentalen Landkarte waren. So kann man auch Innovationskorridore entwickeln, die sich auf bestimmten Wachstumsfelder profilieren – und so auch internationale Strahlkraft entwickeln. Sei es zu Fragen der Wasserstoffwirtschaft, der Gesundheitswirtschaft oder der Elektromobilität. Der dünn besiedelte Osten Deutschlands kann darüber hinaus Flächen für Gewerbe und Innovationsparks anbieten, die es in großen Agglomerationen Deutschlands kaum noch gibt, als auch Laborräume für den Einsatz von Zukunftstechnologien wie autonome Fahrzeuge oder Drohnen.
Seit dem Herbst 2021 steht mit dem BER der drittgrößte deutsche Flughafen mitten in Ostdeutschland. Er bietet tägliche Verbindungen in alle Ecken Europas (und manchen Teilen der Welt) – ein Standortvorteil, über den kein anderer Flughafen in den neuen Ländern verfügt. Und so wird er ein ganz wichtiger Standortfaktor für alle neue Länder.
Bis 1991 war nahezu jede Kreisstadt in Ostdeutschland mindestens einmal, teilweise bis zu vier oder fünf Mal täglich per Schnellzügen mit Berlin verbunden. Das mag angesichts der zentralistischen DDR keine Überraschung gewesen sein. Heute haben Großstädte wie Chemnitz, Zwickau und Gera gar keine direkten Zugverbindungen nach Berlin, auch wichtige Hochschulstandorte wie Görlitz, Wernigerode oder Mittweida haben keine oder wie Weimar und Jena gerade mal einen direkten Zug, der sie in die größte Stadt ihrer Region bringt. Was es also dringend braucht sind mehrmals täglich fahrende Schnellzüge, die die ostdeutschen Hochschulstandorte und Wachstumszentren mit Berlin und vor allem auch seinem Flughafen verbinden.
Die Karten Ostdeutschlands stehen heute gut, besser als in den vergangenen Jahren. Dabei muss es gelingen, aus dem vermeintlichen Nachteil – dünne Besiedelung und geringe Wertschöpfungstiefe – durch kluge Strategien einen Vorteil zu entwickeln. Und zu diesen Vorteilen gehört, die zentrale Lage Berlins innerhalb der neuen Länder stärker zu nutzen. Das wäre auch ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen und demografischen – und damit auch zur demokratischen – Stabilisierung Ostdeutschlands. Dabei geht es gar nicht darum, die alte DDR-Zentralität Berlins wieder herzustellen, sondern um eine kluge Verknüpfung unterschiedlicher Stärken miteinander. Von großer Internationalität, enormer Dichte an Wissenschaft und Forschung auf der einen Seite, von erfolgreichen Unternehmen in Nischenbereichen, viel Raum und großer Lebensqualität auf der anderen Seite. Wenn es gelingt, all dies zusammenzuführen, kann der Osten insgesamt zum neuen Oberbayern werden.
Der Autor: Thomas Kralinski ist Vorstandsmitglied des Berliner Thinktanks „Das Progressive Zentrum“ und war Chef der Staatskanzlei Brandenburgs.