Großinvestitionen wie Tesla, Intel oder TSMC beherrschen die Schlagzeilen über die ostdeutsche Wirtschaft. Doch wie sieht es in den Regionen abseits der Ballungsräume aus? Wirtschaft + Markt beleuchtet in einer neuen Serie die wirtschaftliche Entwicklung und Zukunftsperspektiven in den Randlagen Ostdeutschlands. Von Matthias Salm
Die Prignitz: Zwischen den Metropolen
In weniger als einer Stunde mit dem ICE in Berlin oder Hamburg — mit ihrer Lage zwischen den beiden größten Städten Deutschlands kann die Prignitz bei Firmenansiedlungen punkten. Doch noch ist der Standortvorteil zu wenig bekannt.
Grünheide ist fern – doch die Gigafactory des US-amerikanischen Autokonzerns Tesla in der kleinen Gemeinde im Speckgürtel des boomenden Südosten Berlins zieht ihre Kreise bis in die Prignitz. Hier im Nordwesten Brandenburgs sagt Andreas Ditten, Geschäftsführer der Wirtschaftsfördergesellschaft Prignitz: „Auch wir spüren den Tesla-Effekt.“ Zwar steht der Landstrich an der Grenze zu Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern nicht im Fokus der Automobilindustrie, aber die lokalen Wirtschaftsförderer verspüren ein gesteigertes Interesse an Gewerbeflächen, seit der US-Milliardär Elon Musk Brandenburg auf die internationale Landkarte der Top-Wirtschaftsstandorte gehievt hat.
Insbesondere das Tempo, mit dem Tesla seine Autofabrik in Brandenburg hochziehen konnte, habe Eindruck hinterlassen, weiß Ditten zu berichten. Auch von der Intel-Fabrik in Magdeburg werde die Prignitz profitieren, ist sich der Wirtschaftsförderer sicher. „Erste Anfragen laufen bereits ein“, sagt Ditten, der die Wirtschaftsförderung aber nicht nur als Anlaufstelle für Investoren, sondern auch als Netzwerker für bereits angesiedelte Firmen versteht.
Die Prignitz kann vor allem mit ihrem Standortvorteil punkten: die Lage zwischen den Metropolen Berlin und Hamburg. Im Bahnverkehr mit dem ICE-Halt in Wittenberge einfach zu erreichen und auf der Straße an der A 24, der Achse zwischen Berlin und Hamburg. In den ersten 15 bis 20 Jahren nach der Wende orientierte sich die Prignitz stark nach Hamburg, heute zählt sie zur Metropolregion Berlin/Brandenburg. „Unser Standortvorteil muss noch bekannter gemacht werden“, weiß Ditten, dass die Prignitz als Wirtschaftsregion vor allem noch mehr Öffentlichkeitsarbeit benötigt.
Noch besser ließe sich der Standort vermarkten, gäbe es nicht die ewige Dauerbaustelle der A 14, die die Prignitz an die ostdeutschen Landeshauptstädte Magdeburg und Schwerin anbinden soll. Die Planung für die Nord-Süd-Verbindung hatte bereits 2008 begonnen. „Die A14 ist ein klassisches Beispiel für das, was sich in Deutschland ändern muss. Für ein Stückchen Autobahn brauchen wir 20 Jahre — das geht so nicht mehr“, machte Ministerpräsident Dietmar Woidke anlässlich einer Kabinettssitzung der Potsdamer Landesregierung in der Prignitz im letzten Sommer seinem Unmut Luft. Konkret wartet der Abschnitt zwischen der Elbe und Karstädt auf die Vollendung. Immerhin wurde jüngst der Planfeststellungsbeschluss erlassen. Mit der Fertigstellung ist 2028 zu rechnen.
Wirtschaft in ruhigem Fahrwasser
Trotz der bürokratischen Gemächlichkeit beim Ausbau der Infrastruktur hat sich die Wirtschaft rund um Wittenberge, Pritzwalk, Perleberg und Karstädt gut entwickelt. „Unsere Wirtschaft ist breit aufgestellt“, sagt Andreas Ditten. Der Vorteil: Von den Krisen einzelner Branchen in den letzten Jahren blieb die Prignitz einigermaßen verschont. „Wir befinden uns da in ruhigerem Fahrwasser“, so Ditten.
Zu den Säulen der Wirtschaft zählen u.a. das Ernährungsgewerbe, die metallverarbeitende Industrie, die Erzeugung erneuerbarer Energien, Chemie und Pharma sowie die Logistik. Die Unternehmen sind nicht nur regional, sondern auch auf internationalen Märkten unterwegs. Beispielsweise die 2001 gegründete Prignitz Mikrosystemtechnik mit Standorten in Wittenberge und Weisen, die mit über 100 Beschäftigten weltweit Drucksensoren, Temperaturtransmitter und Füllstandssonden vertreibt. Das Unternehmen ist hochinnovativ, lebt mehrheitlich vom Export und hat aktuell Drucksensoren für die wachsende Wasserstoff-Industrie entwickelt. Aber auch in Bau- und Landwirtschaftsmaschinen, in der Erdölförderung oder der industriellen Prozesssteuerung finden die Sensoren aus der Prignitz Anwendung.
Über eine lange Tradition in der Region verfügt der Möbelhersteller Meyenburger Möbel GmbH, hervorgegangen aus einer 1946 gegründeten Tischlerei. Das berühmte „Billy-Regal“ oder die Kommodenserie „Malm“ des schwedischen Möbelgiganten IKEA werden in Meyenburg gefertigt. Die vollautomatisierte Produktion von Mitnahmemöbeln gilt als Spezialität der über 500 Mitarbeitenden. Der Möbelproduzent ist mit seinen zwei Werken am Meyenburger Stadtrand einer der größten Arbeitgeber der Prignitz.
Zu den Prignitzer Traditionsunternehmen zählt auch das Zahnradwerk Pritzwalk mit fast 200 Beschäftigten –— führend in der Herstellung von hochpräzisen Zahnrädern. Als Partner der Baubranche und Hersteller von klimaschonendem Schall- und Feuchtigkeitsschutz für Gebäude hat sich die Gefinex GmbH, ebenfalls in Pritzwalk daheim, einen Namen gemacht.
Erfolgreiche Ansiedlungen schufen Arbeitsplätze
Nicht so traditionsreich am Standort, aber ebenfalls ein wichtiger Arbeitgeber ist der österreichische Dämmstoffherstelller Austrotherm, der sich 2013 in Wittenberge angesiedelt hat. Es ist mit mehr als 70 Mitarbeitenden das einzige deutsche Werk des Unternehmens. Austrotherm hat sich auf energiesparende Wärmedämmung spezialisiert. In Wittenberge werden so etwa wasser- und druckresistente XPS-Dämmplatten sowie die Austrotherm Uniplatte, eine Bauplatte für Sanitärräume, gefertigt und von dort an den deutschen Baufachhandel geliefert. Trotz kriselnder Baubranche hat Austrotherm zuletzt drei Millionen Euro in eine Solaranlage investiert, um nachhaltiger und energiesparender produzieren zu können — ein Bekenntnis zum Standort.
In Wittenberge stellt die MV Pipe Technologies GmbH Rohre für die Brandschutzindustrie her. Die Tochtergesellschaft der Minimax Viking Gruppe gilt im Landkreis als eine der wichtigsten Ansiedlungen der vergangenen Jahre. Seit 2017 finden die Rohre aus Wittenberge ihren Weg in Brandschutzanlagen von Automobil- und Kraftwerken, Bürogebäuden oder Rechenzentren.
Für die Chemie- und Pharmaindustrie der Region steht u.a. die zur malaysischen IOI Group gehörende IOI Oleo GmbH in Wittenberge mit einer breiten Palette oleochemischer Produkte für die pharmazeutische und kosmetische Industrie. Das zur chinesischen Sirio Pharma Group gehörende Werk Ayanda expandiert hingegen am Standort Falkenhagen als Produzent von Gelatinekapseln für Nahrungsergänzungs- und Arzneimittel.
Ebenfalls im Gewerbepark Falkenhagen produziert der US-Konzern Glatfelter mit mehr als 400 Mitarbeitenden seit 1996 Zellulose-Fasern im Airlaid-Verfahren. Dem Hauptbestandteil Zellulose werden je nach Produkt zusätzlich Chemiefasern, Pulver oder Granulate beigemischt. Die Produkte kommen in Hygieneartikeln, in der Medizin und in der Gastronomie zum Einsatz — so beispielsweise in Windeln, Binden oder Einlegesohlen.
Größter Arbeitgeber der Region ist aber das Werk Wittenberge der Deutschen Bahn Fahrzeuginstandhaltung. Ein Standort, der auf eine Geschichte bis ins Jahr 1876 zurückblicken kann. Heute ist das Werk auf die Modernisierung und Instandhaltung von Reisezugwagen spezialisiert.
Ernährungswirtschaft bedeutender Faktor
In der Potenzialregion, wie sich die Prignitz werbewirksam selbst nennt, finden Besucher neben der Industrie vor allem auch viel Natur vor. Das entdecken auch immer mehr Reisende: Verglichen mit 2019 stieg die Zahl der Übernachtungen in der Prignitz 2023 um 21,8 Prozent, gegenüber dem Vorjahr um 1,8 Prozent auf 514.537 Übernachtungen.
Touristen schätzen den ländlichen Raum an der Elbe, die Weite und Ruhe. Er ist aber auch ein idealer Standort für die Ernährungswirtschaft. Am Ortsrand von Dallmin etwa produziert die Firma Avebe Kartoffelstärke für die Lebensmittelindustrie und neuerdings auch Kartoffeleiweiße für vegane Produkte. Die Avebe Kartoffelstärkefabrik Prignitz/Wendland GmbH ist Teil einer in den Niederlanden ansässigen Genossenschaft. Kartoffeln werden in Dallmin im Übrigen schon seit 1911 verarbeitet. Auch Haferflocken kommen aus der Prignitz, genauer gesagt aus Karstädt und das auch schon seit 1870. Heute zeichnet für Haferflocken und Müsli die Avena Cerealien GmbH, ein Unternehmen der Flechtorfer Mühlengruppe, verantwortlich und verarbeitet dazu in Karstädt mehr als 40.000 Tonnen Hafer jährlich.
Der größte Schlachtbetrieb der Region in Perleberg mit 400 Beschäftigten wechselte Anfang des Jahres den Besitzer. Der Schlachthof Uhlen aus Nordrhein-Westfalen übernahm den Schweineverarbeitungsbetrieb von der niederländischen Vion Food Group. Das letzte Milchwerk der Prignitz in Karstädt allerdings wurde vor drei Jahren geschlossen.
Erneuerbare Energien rücken in den Fokus
„Die Prignitz ist für ganz unterschiedliche Branchen interessant, nicht nur für die Ernährungswirtschaft und die Logistik mit der Nähe zu den Metropolen“, sagt Wirtschaftsförderer Ditten. Vor allem die Energiebranche entdeckt den Nordosten Brandenburgs zunehmend. Bei erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne ist die Region bereits gut aufgestellt. Auf der Wunschliste der Wirtschaftsförderer stehen nun z.B. Batteriespeicherwerke oder Wasserstoff-Kraftwerke.
Den Anfang macht die brandenburgische Firma ENERTRAG mit einer geplanten Wasserstoffproduktionsanlage im Gewerbepark Prignitz-Falkenhagen. Das Vorhaben umfasst den Bau einer Elektrolyseanlage mit 130 MW Leistung. Die Inbetriebnahme ist bis Ende 2027 vorgesehen. Der Gewerbepark eignet sich vor allem, weil die anliegende Ontras-Gasleitung komplett auf Wasserstoff umgestellt werden kann. Von dem Vorhaben erhoffen sich die Wirtschaftsförderer eine Signalwirkung für weitere Ansiedlungen. Die geplante Investition von 150 bis 200 Millionen Euro ist Bestandteil des Verbundprojektes „doing hydrogen“, das den Grundstein für ein flächendeckendes Wasserstoffnetz in Ostdeutschland legen soll.
Umstrittener in der lokalen Bevölkerung wegen der möglichen Verkehrs- und Geruchsbelästigung ist das Vorhaben des Shell-Konzerns, an der künftigen Autobahn 14 in Karstädt in einer Biomethananlage aus jährlich rund 500.000 Tonnen Gülle und Mist Biomethan zu produzieren, das später im Ruhrgebiet zu Flüssiggas für den Lkw-Verkehr weiterverarbeitet werden soll.
Landesgartenschau als Initialzündung
Auch Thomas Götz, Geschäftsführer der Technologie- und Gewerbezentrum Prignitz GmbH und als solcher Leiter der Wirtschaftsförderung für die Städte Wittenberge und Perleberg, sieht die Wirtschaft in der Prignitz auf einem guten Weg, kennt aber auch die gegenwärtigen Hürden für eine weitere Expansion: Zum einen fehlen wie in ganz Brandenburg Fachkräfte, zum anderen müssen weitere Gewerbeflächen noch neu entwickelt werden. „In Wittenberge und Perleberg konzentrieren wir uns auf Ansiedlungen, die maximale Wertschöpfung in der Region garantieren. Da geht es um Unternehmen in einer Größenordnung bis 200 Mitarbeitenden“, sagt Götz. Zu den Aufgaben der Wirtschaftsförderer gehört es dabei auch, die weichen Faktoren wie etwa attraktive Innenstädte zu entwickeln, um das Wohnen in der Prignitz lebenswerter zu gestalten. Zumal die Prignitzer hoffen, dass viele Hauptstädter wegen der explodierenden Mieten in Berlin auch ins weitere Umland ziehen werden.
Gerade in Wittenberge setzt man diesbezüglich auf den Werbeeffekt der Landesgartenschau 2027 in der Elbestadt. Ein Schlüsselprojekt für eine nachhaltige Stadtentwicklung soll die Leistungsschau der Landschaftsgärtner für die Industriestadt im Wandel werden. Wittenberge erhält dazu u.a. vom Bund eine Millionenspritze für die Sanierung des historischen Bahnhofsgebäudes. Gastronomie, Co-Worker und Existenzgründer, aber auch ein bahnnahes Ausbildungszentrum sollen in das Gebäude einziehen. Zur Landesgartenschau, so der Plan, wird der Bahnhof seinem Beinamen „Tor zu Prignitz“ wieder alle Ehre machen. „Die Landesgartenschau wird ein Sprung in der Attraktivität der Stadt werden“, ist sich TGZ-Chef Götz sicher.
Weitere Infos zur Prignitz
Region: Landkreis Prignitz (75.945 E.)
Städte: Wittenberge (16.965 E.), Perleberg (12.025), Pritzwalk (11.753 E.)
Nachbarregionen: Landkreis Ludwigslust-Parchim (Mecklenburg-Vorpommern), Landkreis Stendal (Sachsen-Anhalt), Landkreis Lüchow-Danneberg (Niedersachsen), Landkreis Ostprignitz-Ruppin (Brandenburg)
Branchen: Landwirtschaft, Energie, Metallbau, Chemie&Pharma, Holzindustrie, Bau, Logistik
Verkehr: Autobahnen A 24 und A 14, Bundesstraßen B 189 und B 5. ICE-Anbindung Berlin-Hamburg, Bundeswasserstraße Elbe.
Gewerbegebiete: 7
Arbeitslosenquote: 8,5 Prozent