Was wäre, wenn zuwanderungswillige ausländische Fachkräfte einen Rückzieher machten und gar nicht erst kämen? Weil sie sich in Deutschland nicht willkommen fühlen? Weil ihnen die aktuelle migrationsfeindliche Stimmung im Land Angst macht? Es wäre ein Debakel für Wirtschaft und Gesellschaft – und würde die negativen Folgen des demografischen Wandels weiter verschärfen. Ein Beitrag des Demographie Netzwerk e.V. (ddn).
Widersprüchlicher geht es kaum: Auf der einen Seite demonstrieren jede Woche Zehntausende bisweilen sogar mehrere Hunderttausend Menschen für Demokratie, eine offene, multikulturelle, diverse Gesellschaft. Auf der anderen Seite wachsen Rassismus und Antisemitismus, nehmen Überfälle auf Geflüchtete zu, spricht die AfD allen Ernstes von Remigration. „Abgesehen davon, dass eine solche Haltung inhuman und inakzeptabel ist, wird Deutschland allein wirtschaftlich einen hohen Preis zahlen, wenn die rechte, ausländerfeindliche Stimmung weiterwächst, wir Zuwanderung einschränken oder wir für Zuwandernde unattraktiv werden“, betont Christian Ramm. Der Arbeitsmarktexperte ist Mitglied im Vorstand von Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn) in Berlin, ehemaliger Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit in Freiburg i.Br. und heute Inhaber der Agentur Christian Ramm Arbeitsmarktmanagement.
Laut Statistischem Bundesamt hatten in Deutschland zuletzt rund 25 Prozent aller Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 eine Migrationsgeschichte. Viele Berufsfelder wie Gastronomie, Reinigung, Bau, Logistik, Altenpflege oder Medizin würden ohne sie nicht funktionieren. In Zukunft umso mehr: Um die demografische Lücke auszugleichen, braucht die deutsche Wirtschaft eine Netto-Zuwanderung von – je nach Schätzung – 400.000 (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) bis 500.000 (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) Fach- und Arbeitskräften pro Jahr. „Zuwanderung ist für den Arbeitsmarkt existenziell“, so Ramm. „Ohne Zuwanderung geht der deutschen Wirtschaft die Luft aus.“
Zugleich sind Rassismus und Ausländerfeindlichkeit Fakt, wie der Lagebericht „Rassismus in Deutschland“ der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration Anfang 2023 bestätigte. Aus ihm geht hervor, dass 90 Prozent der Befragten anerkennen, dass es Rassismus in Deutschland gibt, 22 Prozent haben ihn selbst erfahren. „Bleibt dieser Trend so oder verschärft sich noch weiter, wird dies viele Zuwanderungswillige abschrecken. Warum sollten Menschen in ein Land einwandern, in dem sie befürchten müssen, abgelehnt oder gar angegriffen zu werden?“, fragt sich nicht nur Ramm. „Oder umgekehrt: Warum sollten jene Zugewanderten, die partiell seit Generationen hier leben, sich noch für eine Gesellschaft engagieren, in der sie sich nicht oder nicht mehr zu Hause fühlen können, die ihr Engagement nicht anerkennt?“
Neben einem wachsenden Teil der Zivilgesellschaft positioniert sich inzwischen auch die Wirtschaft deutlich gegen Rassismus, für Zuwanderung und Multikulturalität. „Das ist gut so, denn nur wenn wir der Zuwanderung positiv gegenüberstehen, bleiben wir demografiefest und wirtschaftlich stark“, betont Martina Schmeink, Geschäftsführerin von ddn. Die Chancen, die Zuwanderung im Hinblick auf unsere Herausforderungen am Arbeitsmarkt bietet, sind erkannt. Nun gilt es, in Wirtschaft und Gesellschaft Haltung zu zeigen. Eine erfolgreiche Integration von Zugewanderten ist eine gemeinschaftliche Aufgabe.“
Einen wichtigen Hebel für die Integration sieht ddn-Vorstand Ramm in einer beschleunigten Bürokratie: „Schlankere Prozess sowohl bei der Einwanderung von Fach- und Arbeitskräften als auch bei der beruflichen Integration von Geflüchteten sind das Gebot der Zeit.“ Die neuen Optionen, die das Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit der Erfahrungssäule, Anerkennungspartnerschaft oder Chancenkarte nun vorsieht, seien die richtigen Signale. Auch die Tatsache, dass das Bundesarbeitsministerium und die Bundesagentur für Arbeit den „Job-Turbo“ anwerfen und die vielen Förderinstrumente offensiver anbieten wollen, die Geflüchtete und ihre Arbeitgebenden beim Einstieg in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt unterstützen, begrüßt Ramm. „Unternehmen sollten sie individuell abgestimmt auf ihre Bedürfnisse einsetzen.“ Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2023 (DIW) zum Werdegang von zumeist 2015/2016 nach Deutschland eingereisten Geflüchteten zeigt: Ihre Erwerbstätigkeit stieg mit der Zeit deutlich an, und vergleichsweise viele schafften den Aufstieg in höhere Positionen. Sprachkurse und Bildungsabschlüsse spielten dabei eine große Rolle. „Sprache und Qualifizierung gehören zu den wichtigsten Bedingungen für eine gelungene Integration“, beobachtet auch Ramm.
Neben bürokratischen Erleichterungen oder Instrumenten wie Sprachkursen oder dem Job-Turbo fordert Ramm aber nicht zuletzt auch eine freundliche Willkommenskultur: „Diese ist essenziell. Hier können insbesondere die Unternehmen viel beitragen, indem sie die neuen Mitarbeitenden gut in die bestehenden Teams integrieren, bei der praktischen Arbeit oder beim Deutschlernen unterstützen, sie in Freizeitaktivitäten einbinden, sich für ihre Kultur und ihr Leben interessieren.“ Der Austausch in Netzwerken wie dem ddn helfe Unternehmen, pragmatische und zugleich wirksame Integrationsideen zu finden. „Aber auch die Zivilgesellschaft muss weiterhin Haltung zeigen und neben Demonstrationen die Integration in Nachbarschaften, Vereinen, Initiativen, Stadtteilen, Kitas, Schulen, Universitäten voranbringen. Es entstehen Begegnungsräume, man lernt sich besser kennen, trifft sich von Mensch zu Mensch, baut Vorurteile ab. So ermuntern wir Menschen auch, zu kommen und zu bleiben, anstatt sie abzuschrecken – miteinander kommen wir weiter.“
Über Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn):
Das Demographie Netzwerk e. V. (ddn) ist ein gemeinnütziges Netzwerk von Unternehmen und Institutionen, die den demografischen Wandel als Chance begreifen und aktiv gestalten wollen. ddn wurde 2006 auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und im Kontext der Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA) gegründet. Die Mitglieder engagieren sich mit dem Anspruch „gemeinsam Wirken“ und in kollaborativer Zusammenarbeit. In regionalen und überregionalen Foren, in digitalen und persönlichen Treffen bearbeitet das Netzwerk Themen wie Qualifizierung, Digitalisierung, Führung und Diversity. ddn initiiert, leitet und unterstützt Förder- und Forschungsprojekte zu seinen Themen. Seit 2020 verleiht ddn den Deutschen Demografie Preis ddp.