Franziska Giffey: „Wir wollen Europas Innovationsstandort Nummer Eins werden“
Franziska Giffey, Berlins Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, spricht im W+M-Interview über den Industriestandort Berlin, den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Hauptstadt und mehr Langstreckenflüge am BER.
W+M: Frau Senatorin, wie bewerten Sie die Berliner Wirtschaft 2023?
Franziska Giffey: Ende Oktober waren wir mit einer Delegation in Dubai auf der GITEX, der weltgrößten Technologie- und Startup Messe. Als auf großer Bühne vor Hunderten von internationalen Messegästen verkündet wurde, dass das Megaevent ab 2025 nach Europa kommt und sich für Berlin als Standort entschieden hat, brach der ganze Saal in Jubel aus. Dieser Moment und dieser Erfolg machen deutlich, wie stark sich Berlin als Innovationsstandort entwickelt hat. Unsere Wirtschaft wächst seit zehn Jahren über dem Bundesschnitt. Das vergangene Jahr haben wir trotz Mehrfachkrisen mit 4,9 Prozent Wachstum und 65.000 neuen Arbeitsplätzen als erfolgreichstes Bundesland abgeschlossen. Natürlich können wir uns nicht von der allgemeinen Situation ganz abkoppeln, auch unsere Wirtschaft steht aktuell unter Druck, aber wir rechnen weiterhin mit einem Wachstum, während die Zeichen in Deutschland auf Rezession stehen. Wir gehören heute zu den Zugpferden der deutschen Wirtschaft, und zwar als Teil einer aufstrebenden, innovativen ostdeutschen Wirtschaftsregion. Das wird international gesehen und das sollten wir öfter und mit mehr Selbstbewusstsein sagen.
W+M: Welche Branchen sind Ihre Hoffnungsträger?
Franziska Giffey: Was Berlin als Nachteil ausgelegt wurde, erweist sich immer mehr als Vorteil, gerade in Krisenzeiten. Unsere Wirtschaftsstruktur mag kleinteiliger sein, mit einem breiten Branchenmix, aber genau das macht uns widerstandsfähiger. Angetrieben wird die positive Entwicklung gerade vor allem durch die Digitalbranche und viele Technologieunternehmen, aber auch der Dienstleistungssektor, das Messegeschäft und der Tourismus haben sich stark zurückgemeldet.
W+M: Und welche Branchen bereiten Ihnen Sorgen?
Franziska Giffey: Wir sehen, dass der für uns sehr wichtige Handel leidet. Das Kaufverhalten verändert sich, verstärkt noch durch die Preissteigerungen und Inflation der vergangenen Monate. Vor allem für die großen Kaufhäuser als Anker in den vielen Einkaufsstraßen Berlins werden neue Konzepte benötigt. Im Berliner Senat wollen wir das mit der Entwicklung eines Programms für Einkaufszentren und Einkaufsstraßen unterstützen.
W+M: Berlin hat gut 100.000 Industriebeschäftigte. Kann Berlin wieder eine Industriestadt werden?
Franziska Giffey: Es gibt ein klares Bekenntnis zur Industrie in Berlin und einen Masterplan, mit dem wir den Standort ausbauen. Siemens, BMW, Stadler, Mercedes, ASML, Bayer oder Berlin Chemie – das sind nur einige große Namen, die für „Made in Berlin“ und für Investitionen stehen. Die Industriestadt wächst und sie zeigt, wo die Reise hingeht: Digitalisierung und neue Fertigungstechnologien. Das ist Berlins Markenzeichen. Die Unternehmen profitieren dabei von dem starken Innovationsumfeld aus Hochschulen, Forschung und vielen Start-ups. Das zeigt sich etwa bei Themen wie 3D-Druck, Additive Manufacturing oder Leichtbau. Hier positioniert sich Berlin zunehmend als ein Spitzenstandort. Das ist auch insgesamt unser Anspruch, wir wollen Europas Innovationsstandort Nummer Eins werden.
W+M: 2022 drohte ein Krisenwinter. Wie stabil geht die Berliner Wirtschaft in diesen Winter?
Franziska Giffey: Es war richtig, einen Schutzschirm für unsere Unternehmen in der Energiekrise zu spannen, und ich bin froh, dass die allermeisten von ihnen die Hilfen am Ende doch nicht gebraucht haben. Wir gehen gut vorbereitet in diesen Winter, die Gasspeicher sind voll, die Versorgungswege gesichert und die Energiepreise wieder deutlich unter dem Niveau vom letzten Herbst. Die Maßnahmen auf EU-Ebene, im Bund und in den Ländern wirken und wir rechnen aktuell nicht mit Einschnitten wie im letzten Jahr. Es wäre jetzt allerdings falsch, sich zurückzulehnen. Es geht nicht allein um diesen oder den nächsten Winter. Die Energiekrise hat nochmal verdeutlicht, dass wir bei der Energiewende und beim Wandel der deutschen Wirtschaft mehr Tempo brauchen und das gerade beim Ausbau erneuerbarer Energien auch schon oft zeigen.
W+M: Welche Lösungen kann es für energieintensive Branchen geben? Hilft ein Industriestrompreis?
Franziska Giffey: Berlin hat einen geringeren Anteil an sehr energieintensiven Unternehmen, aber auch wir sehen die Notwendigkeit für einen Industriestrompreis, damit nicht ganze Wirtschaftszweige in Deutschland in Schieflage geraten. Das kann allerdings nur ein überbrückendes Instrument sein und darf nicht von der notwendigen Transformation ablenken. Die deutsche Wirtschaft muss sich wandeln. Wir müssen schneller auf erneuerbare Energie umstellen, die Energieeffizienz in Gebäuden und Produktionsabläufen erhöhen, auch die Abwärme konsequent nutzen.
W+M: Kann die Transformation gelingen?
Franziska Giffey: Ja, das ist eine große Herausforderung, aber auch eine große Chance. Wir erleben derzeit nicht weniger als die nächste industrielle Revolution. Unser Ziel muss sein, uns an die Spitze dieser Veränderung zu setzen. In Berlin unterstützen wir die Unternehmen dabei und wollen mit einem milliardenschweren Sondervermögen für Klimaschutz, Resilienz und Transformation für die nötige Beschleunigung sorgen.
W+M: Ist ein schnellerer Umstieg auf erneuerbare Energien in Berlin möglich?
Franziska Giffey: Wir arbeiten daran, dass Berlin deutlich vor 2045 klimaneutral wird. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist eine Toppriorität in meinem Ressort. Ende des Jahres kommt eine Windkraftpotenzialanalyse, für die Nutzung der Geothermie werden neue Probebohrungen durchgeführt. Aber unser größtes Potenzial liegt auf den Dächern der Stadt. Bis 2035 wollen wir 25 Prozent unserer Energieproduktion aus Sonnenkraft gewinnen. Die Zahl der Solaranlagen wächst immer schneller, in Relation zur Fläche verzeichnen wir den bundesweit größten Zubau.
W+M: Wo sehen Sie noch Potenziale?
Franziska Giffey: Wir sehen, dass die Berlinerinnen und Berliner mitmachen und wir unterstützen das gezielt mit Beratung und Förderprogrammen, auch für Unternehmen. Wobei ich mir aus der Wirtschaft noch mehr Dynamik wünschen würde. Auf den Hallendächern unserer Messegesellschaft entsteht Deutschlands drittgrößte Solaranlage, das ist ein tolles Beispiel. Aber insgesamt nutzen die Berliner Unternehmen bislang nur drei Prozent ihres Solarpotenzials. Da ist noch viel Luft nach oben.
W+M: Kann Berlin seinen Energiebedarf überhaupt selbst decken?
Franziska Giffey: Nein, dafür brauchen wir Flächenländer. Wir arbeiten eng mit Brandenburg zusammen und diese Zusammenarbeit wird in Zukunft noch wichtiger, auch mit Mecklenburg-Vorpommern. Das gilt besonders für das Thema grüner Wasserstoff. Die Wärmeversorgung unserer Gebäude macht 40 Prozent der Berliner CO2-Emissionen aus. Wenn die Wärme nicht klimaneutral wird, wird Berlin nicht klimaneutral. Wir sind gerade in exklusive Verhandlungen mit Vattenfall über den Rückkauf des Berliner Fernwärmenetzes eingetreten, das das größte in Westeuropa ist. Wir wollen die Dekarbonisierung der Wärme schneller vorantreiben und arbeiten bereits daran, in einem ersten Schritt bis 2030 eine Wasserstoffinfrastruktur in der Stadt zu schaffen, die uns ermöglicht 50 Prozent des gesamten Berliner Gasverbrauchs durch Wasserstoff zu ersetzen.
W+M: Wird Berlin auch grünen Wasserstoff produzieren?
Franziska Giffey: Es gibt konkrete Pläne für eine große Wasserstofffabrik in Berlin, aber damit wird nur ein kleiner Teil unseres Bedarfs gedeckt. Wir werden ganz klar grünen Wasserstoff aus unseren Nachbarländern benötigen. Dazu führen wir Gespräche und planen den Anschluss Berlins an die Wasserstoff-Backbone.
W+M: Die Berliner und die ostdeutsche Wirtschaft wünschen sich eine stärkere Anbindung an die Welt, etwa über den BER. Wird diese kommen?
Franziska Giffey: Der Osten wird immer mehr zum Magneten für Investitionen. Ob Tesla, Batteriehersteller, neue Chipfabriken oder die 44 Unternehmen, die sich allein im ersten Halbjahr 2023 in Berlin neu angesiedelt haben. Wir bilden eine starke Region und dazu gehören vernünftige Verbindungen für Geschäftsreisende und für den Tourismus. Aber 34 Jahre nach dem Mauerfall zählen wir in Ostdeutschland ganze 6 Langstreckenflüge pro Tag, verglichen mit 180 von westdeutschen Flughäfen. Die Berliner und Brandenburger IHKs haben just eine Umfrage unter ihren Mitgliedern gemacht: Sowohl die Langstreckenverbindungen, als auch die Verbindungen innerhalb Europas werden als unzureichend gesehen. Das wird unserer wirtschaftlichen Entwicklung schlicht nicht gerecht und kann sie im schlimmsten Fall bremsen. Dabei gibt es Fluggesellschaften, die den Flughafen BER anfliegen wollen. Ich sprach vor wenigen Tagen mit dem Emirates-Chef Tim Clark. Die Airline würde gerne ab BER fliegen, aber seit Jahren sperrt sich die Bundesregierung dagegen. Auch den Lufthansa-Kranich würden wir am Flughafen der deutschen Hauptstadtregion gerne öfter sichten und nicht nur auf der Strecke nach München und Frankfurt. Das kann so nicht bleiben, hier verdient der Osten Bewegung.
Fragen: Frank Nehring