Wolfgang Tiefensee, Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft in Thüringen, spricht im W+M-Interview über die wirtschaftliche Entwicklung in Thüringen, den Boom der Photonik-Branche und die Ansiedlungserfolge des Freistaats.
W+M: Herr Minister, wir gehen auf das Jahresende zu. Wie fällt Ihre Bilanz der thüringischen Wirtschaft im Jahr 2023 nach den vorläufigen Zahlen aus?
Wolfgang Tiefensee: Wenn wir auf die reinen Zahlen schauen, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Thüringen in 2023 um 0,6 Prozent gefallen. Damit liegt Thüringen zwar im bundesdeutschen Durchschnitt, aber der ist natürlich alles andere als berauschend. In Ostdeutschland gibt es einen erfreulichen Ausreißer nach oben, das ist das Land Brandenburg mit einem Plus beim BIP von sechs Prozent, aber es gibt auch Länder, die mit minus drei oder sogar minus fünf Prozent zu Buche schlagen. Wir sollten aber den Blick nicht nur auf das reine BIP richten, sondern auf das BIP pro Erwerbstätigenstunde. Diese Zahlengröße berücksichtigt nämlich den demografischen Faktor. Das ist für die Betrachtung der thüringischen Wirtschaftsleistung aussagekräftiger.
W+M: Inwiefern?
Wolfgang Tiefensee: Weil wir in Thüringen die im Durchschnitt älteste Bevölkerung in Deutschland haben und zudem unter einem der stärksten Bevölkerungsrückgänge leiden. Deshalb können wir kaum große Sprünge beim BIP machen. Wir haben beim Kiel Institut für Weltwirtschaft daher eine Studie in Auftrag gegeben, um zu klären, wie es um die Wachstumsstärke Thüringens wirklich bestellt ist.
W+M: Zu welchem Ergebnis sind die Wirtschaftsforscher gekommen?
Wolfgang Tiefensee: Thüringen ist beim BIP pro Erwerbstätigenstunde überproportional gewachsen, sowohl im bundes- als auch im ostdeutschen Vergleich. Thüringens Wirtschaft mit ihrem im Vergleich höheren Industriebesatz ist beim Produktivitätszuwachs im vorderen Feld anzusiedeln. Wir liegen um die 2,5 Prozent besser als der Bundesdurchschnitt. Die Thüringer KMU weisen in allen Größenklasssen eine höhere Produktivität auf als der ostdeutsche Durchschnitt. Bei den größeren KMU wird sogar der gesamtdeutsche Durchschnitt übertroffen. Das sind positive Nachrichten. Was mich bedenklich stimmt, ist die allgemeine Lage in Deutschland.
W+M: Was genau bereitet Ihnen Sorgen?
Wolfgang Tiefensee: Die wirtschaftliche Entwicklung ist aufgrund der bekannten Umstände im europäischen Maßstab nicht gut. In Thüringen sorgen mich vor allem die Bauwirtschaft und die energieintensiven Branchen wie etwa die Glasindustrie, die sich mitten in der Transformation befinden. In diesem Zusammenhang muss sich die Bundesregierung fragen lassen, ob es richtig ist, Unternehmen, die beim Transformationsprozess bisher hinterherlaufen, genauso zu unterstützen, wie die, die bereits mit eigenerwirtschaftetem Geld in neue Energieträger investiert haben. Das würde zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Als Beispiel möchte ich da die Stahlwerk Thüringen GmbH in Unterwellenborn nennen, die in ihren Produktionsprozessen bereits zu 60 Prozent erneuerbare Energien einsetzt. Sie darf nicht für diese Eigenanstrengung bestraft werden. Darüber hinaus braucht es dringend eine allgemeine Entlastung für die KMU beispielsweise durch eine Senkung der Stromsteuer.
W+M: Wie kommt die Transformation in der Automobilbranche voran?
Wolfgang Tiefensee: Da bin ich sehr optimistisch, sowohl was das Opel-Werk in Eisenach als auch die Zulieferer betrifft. BMW hat in seinen weltweit größten Werkzeugbau-Standort in Krauthausen bei Eisenach investiert, Mercedes-Benz plant Investitionen bei seiner Tochtergesellschaft in Kölleda. Der Automobilzulieferer Marquardt, der Systeme zur Batteriesteuerung herstellt, erweitert seinen Standort am Erfurter Kreuz, um nur einige positive Beispiele zu nennen.
W+M: Gilt Ihr Optimismus auch für die klassischen Zulieferer?
Wolfgang Tiefensee: Bei den Zulieferern geht es ja um vier Bereiche: Antriebsstrang, Interieur, Exterieur und Elektronik. Bei den letzteren drei Produktgruppen sind wir in Thüringen gut aufgestellt. Bei den Zulieferern für den Antriebsstrang, die durch das Aus für den Verbrennermotor unter Druck sind, sehe ich vielfach Bemühungen, sich ein zweites Standbein aufzubauen und die vorhandenen Arbeitskräfte für neue Tätigkeiten zu qualifizieren. Die gegenwärtige Entwicklung bei VW in Sachsen mit einem Herunterfahren der Produktion für E-Autos sehe ich allerdings mit großer Sorge. Es nutzen alle Umrüstungen auf Elektromobilität nichts, wenn die Absatzzahlen einbrechen.
W+M: In der Optik und Photonik läuft es hervorragend. Wie bewerten Sie diese Erfolge?
Wolfgang Tiefensee: Thüringen ist auf dem Weg zu einem Opto-Valley: Mit OptoNet, dem Photonik-Netzwerk mit 120 Akteuren aus Industrie, Forschung und Bildung, den guten Verbindungen zum Netzwerk der Thüringer Kunststoffindustrie und den global playern Carl Zeiss und Jenoptik. Der nächste Schritt wird der Ausbau der Quantentechnologie sein. Im Quantum Hub Thüringen haben die Forschungseinrichtungen im Freistaat bereits ihre Kräfte gebündelt. Thüringen wird zudem ein Knotenpunkt für das Quantennetz zur abhörsicheren Kommunikation in Deutschland.
W+M: Sie haben eine Zahl von 290 Investoren genannt, mit denen der Freistaat über eine Ansiedlung verhandelt. Welche Branchen zieht es nach Thüringen?
Wolfgang Tiefensee: Das Spektrum der Unternehmen ist sehr breit gefächert. Das Batteriewerk von CATL entfaltet hier natürlich eine besondere Sogwirkung. Aktuell steht beispielsweise die Ansiedlung eines Unternehmens für das Batterierecycling im Raum. Aber auch Unternehmen aus der Optik, Metallverarbeitung, Kunststoffindustrie oder Ernährungswirtschaft zeigen Interesse am Standort Thüringen.
W+M: Was macht Thüringen für die Unternehmen attraktiv?
Wolfgang Tiefensee: Es sind verschiedene Faktoren: Zum einen die hervorragende Lage mitten in Europa. Zum zweiten verfügen wir über eine Vielzahl von Flächen bzw. entwickeln sie zügig. Zu nennen wären z.B. größere Gebiete wie die Goldene Aue nahe Nordhausen, das Industriegebiet Gera-Cretzschwitz, Gewerbeflächen in Gotha, Kölleda, am Erfurter Kreuz oder in Suhl speziell für die Holzwirtschaft. Aber auch kleinere Gewerbegebiete können wir bieten. Und wir legen Wert auf die Vermarktung von Altstandorten. Drittens verfügt Thüringen trotz des Fachkräftemangels über hochqualifizierte Arbeitskräfte und viertens in Nord- und Ostthüringen auch noch über Höchstfördergebiete. Zuletzt sei hier noch die einzigartige Arbeit der Landesentwicklungsgesellschaft zu loben, die konzentriert mit Investoren, aber auch über Erweiterungsvorhaben bestehender Unternehmen verhandelt.
W+M: Wie bedeutsam war die Ansiedlung des Batterieherstellers CATL für Thüringen?
Wolfgang Tiefensee: Dank dieser Ansiedlung sind wir international als Industriestandort auf die Landkarte gekommen. Die ersten Effekte sind bereits sichtbar wie etwa die Investitionen des Zulieferers Marquardt am Erfurter Kreuz. Sollte es gelingen, auch noch ein Werk für Batterierecycling nach Thüringen zu lotsen, decken wir die gesamte Wertschöpfungskette in der Batterieproduktion in unserem Land ab.
W+M: Gegenwärtig wird die Gefahr der Abwanderung von Industrieunternehmen diskutiert. Wie groß ist diese Gefahr für Thüringen?
Wolfgang Tiefensee: Die Thüringer Wirtschaft basiert auf kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in der Regel standorttreu sind, für die die Frage der Abwanderung sich zumindest nicht sofort stellt. Wir sollten auch keine Horrorszenarien an die Wand malen. Die Politik sollte stattdessen in den Vordergrund rücken, welche Krisen wir in den letzen Jahren gemeistert haben. Angefangen bei der Bankenkrise über die Corona-Pandemie bis hin zur jetzigen Energiekrise, in der wir in den letzten zwölf Monaten ebenfalls viele Herausforderungen bewältigt haben. Die Politik ist gut beraten, die Verunsicherung im Land nicht noch selbst weiter zu befördern.
W+M: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang einen Brückenstrompreis?
Wolfgang Tiefensee: Einem Brückenstrompreis kann ich zustimmen, wenn gleichzeitig andere Reformen umgesetzt werden. Dazu gehören eine Absenkung der Stromsteuer auf das europäische Niveau, eine Neuregelung der Netzentgelte, um diese an den Ausbau der erneuerbaren Energien in der jeweiligen Region zu koppeln und ein neues Strommarktdesign. Was ist nicht akzeptiere, ist eine Subventionierung des Industriestrompreises zu Lasten der Bürger oder der kleinen und mittelständischen Unternehmen.
W+M: Wie zufrieden sind Sie mit den Fortschritten bei der Wind- und Solarenergie?
Wolfgang Tiefensee: Da bin ich gar nicht zufrieden, denn gerade der Ausbau der Windenergie verläuft in Thüringen weiterhin eher schleppend. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir der Bevölkerung offen und ehrlich verdeutlichen müssen, dass es ein Spannungsfeld gibt: Einerseits soll die Natur unberührt bleiben, frei von Windkraftanlagen und gleichzeitig erwartet die Bürgerschaft niedrige Energiepreise. Wir sollten auch nicht den Naturschutz und die Errichtung von Solar-, Wind- oder Wasserkraftwerken gegeneinander ausspielen. Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn uns nicht eine kluge Abwägung von Umweltbelangen und den Erfordernissen der erneuerbaren Energien gelingt.
W+M: Inwieweit lähmt der Fachkräftemangel den wirtschaftlichen Erfolg in Thüringen?
Wolfgang Tiefensee: Das ist eine wachsende Herausforderung. Beim Thema Fachkräfte dürfen Sie nicht nur auf die Großansiedlungen im Land schauen. Denn diese verschärfen die Fachkräfteproblematik gerade für den Mittelstand zusätzlich. Die Wechselbereitschaft im Job war beispielsweise bei den über 50jährigen nie so hoch wie gegenwärtig. Es gibt in dieser Frage aber Möglichkeiten, die die Unternehmen selber beeinflussen können: Das fängt an bei Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geht über Angebote zur Aufstockung der Teilzeitbeschäftigung bis hin zur besseren Einbindung von Schulabbrechern, älteren Arbeitnehmern oder Menschen mit Behinderung. Über allem steht natürlich eine höhere, meint wettbewerbsfähige Entlohnung.
W+M: Was kann der Freistaat tun, um den Fachkräftemangel zu lindern?
Wolfgang Tiefensee: Wir müssen in manchen Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe verstärkt aus Menschen aus dem Ausland zurückgreifen. Thüringen ist in dieser Frage auch bereits aktiv, beispielsweise in Vietnam. Ein neuer Ansatz ist die in Thüringen in Gründung befindliche German Professional School. Mit ihr werden wir ausländische Schulabsolventen in Thüringen rundherum für ein Ausbildungsverhältnis beim Mittelstand und insbesondere abseits der großen Städte vorbereiten. Bei all diesen Maßnahmen sind wir auch auf den Bund angewiesen. Oft sind es die deutschen Botschaften, die den Zuzug erschweren, sei es durch hohe Hürden bei der Visaerteilung oder schlicht durch mangelndes Personal bei der Bearbeitung von Anträgen.
W+M: Teilen Sie die These, dass die Umfrageerfolge der AfD Investoren und Arbeitskräfte abschrecken?
Wolfgang Tiefensee: Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, die diese These belegen. Was wir aber selbstverständlich generell benötigen, ist eine Willkommenskultur, ein offensives Zugehen auf Fachkräfte aus dem Ausland. Da ist eine Partei, die europafeindlich ist und Stimmung gegen Fremde macht, nicht nur menschenverachtend, sondern ein gravierendes Hemmnis für zukünftiges Wirtschaftswachstum.