Stefan Kapferer, CEO von 50Hertz, und 50Hertz-Arbeitsdirektorin Sylvia Borcherding sprechen im W+M-Interview über das Tempo bei der Energiewende, aktuelle Projekte von 50Hertz und den Fachkräftemangel in der Energiewirtschaft.
W+M: Herr Kapferer, Frau Borcherding, trotz gegenteiliger Befürchtungen blieb die System- und Versorgungssicherheit bei der Energie im letzten Winter durchgehend gewährleistet. Wie bewerten Sie die nun aktuelle Situation?
Stefan Kapferer: Dass die Versorgungssicherheit im Winter jederzeit gegeben war, ist eine gute Nachricht. Nun muss man darauf schauen, welche Erfolgsfaktoren dazu beigetragen haben und was daraus für den kommenden Winter abzuleiten ist. Entscheidend war das Einsparverhalten der Verbraucher und Unternehmen. Dadurch wurde der Stromverbrauch Anfang des Jahres um fünf Prozent reduziert. Diese Einsparung war wichtig, denn dadurch wurden das Stromnetz entlastet und Engpasssituationen reduziert. Das Verbrauchsverhalten war ein entscheidender Faktor für die Versorgungssicherheit neben der höheren Auslastung der Leitungen, den ausreichenden Kohlekapazitäten an den Kraftwerksstandorten und dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Nun nimmt das Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze Fahrt auf, so dass ich glaube, dass im nächsten Winter auch nach Abschaltung der Atomkraftwerke die Stromversorgung gesichert ist.
W+M: Ist denn das Aus für den Atomstrom aus Ihrer Sicht eine richtige Entscheidung?
Stefan Kapferer: Es ist eine politische Entscheidung. Wir haben gemeinsam mit den anderen Übertragungsnetzbetreibern geprüft, ob das Abschalten der Atomkraftwerke ein Risiko für das Stromnetz darstellt. Das ist aus unserer Sicht nicht der Fall, deshalb haben wir kein Stoppsignal gesetzt. Alles andere muss die Politik entscheiden.
W+M: Wie beurteilen Sie die wirtschaftlichen Chancen für Ostdeutschland bei der Energiewende? Täuscht der Eindruck, dass Ostdeutschland hier seine einstige Vorreiterrolle verloren hat?
Stefan Kapferer: Dem möchte ich widersprechen. Ostdeutschland als Region befindet sich definitiv immer noch in einer guten Position. Über das Jahr gesehen liegt der Anteil der Erneuerbaren im Netzgebiet von 50Hertz bei 65 Prozent, das ist so viel wie nie zuvor, selbst wenn man den leichten Rückgang beim Stromverbrauch berücksichtigt. Diese gute Versorgung mit erneuerbarem Strom spielte eine zentrale Rolle bei der erfolgreichen Ansiedlung von Tesla in Brandenburg und ich hoffe, dass die Intel-Chipfabrik in Magdeburg oder die neue Infineon-Fabrik in Dresden ebensolche Erfolgsgeschichten schreiben werden. Auch der Zubau an erneuerbarer Energie entwickelt sich positiv, zumindest sehen wir ordentlich steigende Zubauraten insbesondere bei der Photovoltaik. Wir haben in diesem Jahr die Voraussetzungen geschaffen, dass zwei neue Offshore-Windparks in der Ostsee vor der Küste Rügens in Betrieb gehen können. Arcadis Ost 1 läuft bereits mit einigen Windrädern im Testbetrieb, Baltic Eagle folgt im kommenden Jahr. Und noch ein Punkt: Die Produktion von grünem Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Industrie wird große Chancen für Mecklenburg Vorpommern als Standort für die dafür benötigten Elektrolyseure eröffnen. Da gibt es konkrete Projekte, zum Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Umspannwerk in Lubmin.
W+M: Welches sind denn die aktuell größten Herausforderungen, denen sich der Netzbetreiber 50Hertz ausgesetzt sieht?
Stefan Kapferer: Der Gesetzgeber hat Maßnahmen beschlossen, um die Genehmigungsprozesse für den Netzausbau deutlich zu beschleunigen. Das ist eine gute Nachricht. Nun müssen wir sehen, ob sich das höhere Tempo beim Ausbau der Netze auch umsetzen lässt. Wir benötigen beispielsweise im Jahr 2026 etwa viermal so viele Transformatoren wie in diesem Jahr, ebenso etwa drei Mal so viele Kabel. Deshalb müssen wir darauf hinarbeiten, dass Materialknappheit nicht zu einem limitierenden Faktor wird.
Sylvia Borcherding: Die zweite große Herausforderung ist sicher der Arbeitskräftemangel. Allein in der Wind- und Solarenergiebranche sind über 200.000 Stellen nicht besetzt, es fehlen nicht nur Fachkräfte im Bereich der Elektrotechnik und der IT, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Auch 50Hertz ist von dieser Situation betroffen. Aber bisher ist es uns als Unternehmen gelungen, diese Herausforderung zu bewältigen und allein im vergangenen Jahr über 300 neue Mitarbeitende an Bord zu holen. Dabei kommt uns zugute, dass wir als Teil der Energiewende jungen Menschen eine sinnstiftende Arbeit anbieten können und unsere Unternehmenskultur eine gewisse Sogwirkung ausübt.
W+M: Sie haben die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren angesprochen. Reichen diese aus, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen?
Stefan Kapferer: Es wurden die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen. Dieser Punkt hat jetzt nicht mehr oberste Priorität. Jetzt steht die Frage im Raum, wie wir die neuen regulatorischen Möglichkeiten nutzen können. Es reicht nicht, dem Sachbearbeiter in der Behörde mehr Freiheiten einzuräumen. Die Behörden, aber auch die Unternehmen, müssen nun auch bereit sein, mehr ins Risiko zu gehen. Dazu bedarf es eines neuen Mindsets bei allen Beteiligten.
W+M: Wenn sie von einem höheren Tempo beim Netzausbau sprechen, welche Zeiträume schweben Ihnen etwa für den Leitungsbau vor?
Stefan Kapferer: Vier bis fünf Jahre sollten zur Realisierung solcher Projekte die Regel sein. Auch wenn die EU-Notfallverordnung nun Ausnahmen von Verfahrensschritten erlaubt, sind natürlich weiterhin zur Erfüllung der Natur- und Umweltschutzauflagen Daten zu sammeln, deren Ermittlung sich beispielsweise über eine ganze Vegetationsperiode hinziehen kann. Unser Vorteil ist, dass sich manche unserer Projekte bereits im zweiten oder dritten Jahr befinden und jetzt von der Beschleunigung profitieren werden. Wir haben damit gerechnet, dass der Regierungswechsel in dieser Richtung etwas bewegen wird und uns deshalb einen gewissen Vorsprung erarbeitet.
W+M: Bei welchen Projekten ist denn eine höhere Geschwindigkeit zu erwarten?
Stefan Kapferer: Bei der Anbindung der Offshore-Anlagen sind wir auf einem guten Pfad und können sie oft vor der geplanten Zeit abschließen. Bei den Wechselstromprojekten an Land, also Freileitungen, bringt 50Hertz viel Erfahrung mit. Deshalb sind wir auch hier gut unterwegs, auch weil wir die Marktstimmung und die Ziele der Bundesregierung zum Ausbau der erneuerbaren Energien rechtzeitig antizipiert haben. Nun müssen wir gemeinsam mit den Verteilnetzbetreibern dafür sorgen, mit der notwendigen Geschwindigkeit die Anlagen ins System zu integrieren, das betrifft zum Beispiel die Umspannwerke. Ich bin optimistisch, dass dies gelingen wird. Bei den großen Gleichstromtrassen wie dem SuedOstLink nach Bayern oder dem NordOstLink von Schleswig-Holstein nach Mecklenburg-Vorpommern betreten wir mit der Verlegung der Erdkabel technologisches Neuland und müssen mit sehr vielen Grundstückseigentümern zu Vertragsabschlüssen kommen. Bei Freileitungen können Sie zum Beispiel Flüsse oder Autobahnen relativ einfach überspannen, bei Erdkabeln müssen Sie unterqueren – das ist technisch eine ganz andere Herausforderung. Deshalb versuchen wir durch eine geänderte Organisation unserer Projektteams diesem Umstand Rechnung zu tragen und trotz der Komplexität schnell zum Ziel zu kommen.
W+M: Sie haben ambitionierte klimapolitische Ziele. So will 50Hertz bis zum Jahr 2032 in seinem Netzgebiet 100 Prozent der Stromnachfrage aus erneuerbaren Energien decken. Als Netzbetreiber haben Sie auf den Ausbau der Erneuerbaren aber eigentlich gar keinen Einfluss?
Stefan Kapferer: Das Ziel der Bundesregierung ist es, in den 2030er Jahres das Stromsystem dekarbonisert zu haben. Unser strategisches Ziel von 50Hertz ist, dass im Jahr 2032 in unserem Netzgebiet 100 Prozent der Stromnachfrage durch Erneuerbare gedeckt wird. Es wird dann natürlich immer noch konventionelle Kraftwerke geben, die dann einspringen, wenn Wind, Sonne und andere regenerative Energieträger nicht genug liefern können. Ich bin überzeugt, dass es uns gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen. An dieser Stelle muss ich sagen, dass ich mir wünsche, dass Ostdeutschland insgesamt ruhig selbstbewusster auftritt.
W+M: Inwiefern?
Stefan Kapferer: Das von uns ausgegebene 100-Prozent-Ziel würde sich in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg so nicht realisieren lassen. Da sind wir einfach besser aufgestellt. Die Ansiedlung von Tesla ist ein großer Erfolg, ebenso die Investitionen von Intel und Infineon. Offensichtlich gelingen uns in Ostdeutschland also Erfolge, die anderen nicht gelingen. Und darauf kann man ja auch mal stolz sein und die Standortvorteile betonen.
Was unsere Initiative betrifft: Wenn wir Landesministerien, Verteilnetzbetreiber und Investoren an einen Tisch bekommen, um zu analysieren, welche Hürden dem Ausbau der Erneuerbaren im Weg stehen, dann entspricht das unserem Selbstverständnis, über den Netzausbau hinaus Prozesse in Gang setzen zu wollen. Ich denke, als Unternehmen mit bald 2.000 Mitarbeitenden in ganz Ostdeutschland, Berlin und Hamburg, mit Milliardeninvestitionen in die Netzinfrastuktur und damit von zentraler Bedeutung für viele Wertschöpfungsprozesse in unserem Land, steht uns das zu.
W+M: Wie reagiert 50Hertz auf die neuen Herausforderungen intern? Müssen Sie auch in Ihrer eigenen Organisation umdenken?
Sylvia Borcherding: Unsere Belegschaft war auch bisher schon in der Projektarbeit oder in der Systemführung extrem gefordert – und das mit einer geringeren Zahl an Mitarbeitenden. Jetzt beschleunigen sich viele Prozesse, gleichzeitig wächst deren Komplexität. Unsere Herausforderung besteht darin, dass wir im Unternehmen neue Kompetenzen benötigen, die vielleicht in unserer Gesellschaft noch gar nicht so ausgebildet sind: Gutes Netzwerken und das Managen von komplexen Vorgängen beispielsweise. Wir achten deshalb nicht nur darauf, die Belegschaftszahl hochzufahren, sondern wissen, dass wir eine Unternehmenskultur brauchen, in der die Mitarbeitenden sich entwickeln können und sich gehört fühlen.
W+M: Welche Fragen verbinden sich damit?
Sylvia Borcherding: Das fängt an beim Image, dass das Unternehmen am Markt hat, geht über die Ansprache der Mitarbeitenden bis hin zu der Frage, welche Perspektiven ich den Mitarbeitenden gebe und welches Vertrauen und Zutrauen wir in die Belegschaft setzen.
W+M: Wie entwickeln sich denn die Beschäftigtenzahlen bei 50Hertz?
Sylvia Borcherding: Wir beschäftigen gegenwärtig 1.700 Mitarbeitende und werden bis Ende nächsten Jahres die Belegschaftszahl auf 2.000 erhöht haben. Wir erleben zusätzlich auch einen Generationswechsel im Unternehmen, da die Baby-Boomer-Generation aus dem Berufsleben ausscheidet. Der Arbeitsmarkt verändert sich aber derzeit sehr stark und deshalb muss sich auch unsere Ansprache am Arbeitsmarkt ändern. Heute suchen wir Menschen mit einer guten Haltung, die wir dann selber im Unternehmen weiterentwickeln. Die positive Nachricht ist, dass wir Menschen mit ganz unterschiedlichen Ausbildungen – ob z.B. Juristen, Geologen oder Biologen – für die Arbeit bei 50Hertz einsetzen können, wenn es nicht um spezielle Aufgabengebiete im technischen Bereich geht.
W+M: Wie hat sich ihre Personalakquise verändert?
Sylvia Borcherding: Sie gewinnen heute Mitarbeitende sehr stark über das Wertesystem des Unternehmens. Dazu müssen sie verstehen, wie sich die Werte in der Gesellschaft entwickeln. Deshalb teile ich auch nicht die Klischees über die so genannte Generation Z, diese sei nicht arbeitswillig oder leistungsfähig. Ich erlebe sie als gut ausgebildet und haltungsorientiert. Es ist auch nicht entscheidend, ob jemand acht oder zehn Stunden arbeitet, sondern welches Ergebnis am Ende der Arbeit steht. Die Energiewirtschaft gilt natürlich bei jungen Menschen immer noch als eher konservative Branche. Auch das müssen wir aufbrechen, etwa beim Thema Diversität. Wir haben beispielsweise über 30 Nationalitäten in unserem Unternehmen und haben es geschafft, dass sich unsere Mitarbeitenden mit all ihren Facetten zeigen können. Das entfaltet eine ungeheure Wirkung auf dem Arbeitsmarkt.
W+M: Wie vermittelt man heutzutage die eigene Unternehmenskultur nach außen?
Sylvia Borcherding: Das Geheimnis ist Authentizität, denn sie müssen diese Kultur auch nach innen leben. Diese Unternehmenskultur versuchen wir auch über Social-Media-Netzwerke nach außen zu vermitteln, wo wir sehr aktiv sind. Aber wir gewinnen beispielsweise viele neue Beschäftigte über ein Programm, bei dem unsere Mitarbeitenden neue Arbeitskräfte werben. Dafür gibt es aber nicht einfach nur einen finanziellen Bonus. Dieser fällt zum Beispiel dann höher aus, wenn die angeworbene Person die Gender Balance in einem Unternehmensbereich verbessert. Damit wollen wir zum Beispiel mehr Frauen gewinnen in Bereichen, in denen überwiegend Männer beschäftigt sind und umgekehrt mehr Männer gewinnen in Bereichen, in denen wir das umgekehrte Geschlechterverhältnis haben.
W+M: Auf welche Veränderungen der Arbeitswelt müssen Sie besonders reagieren?
Sylvia Borcherding: Ein Beispiel: Unsere Subunternehmer arbeiten zunehmend mit internationalen Kräften. Dadurch verändert sich der Arbeitsrhythmus. Diese Mitarbeiter arbeiten beispielsweise zehn Tage am Stück und sind dann wieder für eine Woche in ihrer Heimat. Darauf müssen wir uns einstellen, etwa bei der Frage, ob wir künftig auch samstags arbeiten müssen.
W+M: Hat sich das Homeoffice bei 50Hertz nach der Corona-Pandemie durchgesetzt?
Sylvia Borcherding: Wir haben eine Betriebsvereinbarung, die den Abteilungen flexibel ermöglicht, sich selbst zu organisieren. Dazu gehört auch die Entscheidung, ob die Arbeit im Homeoffice getätigt werden kann. Wir haben jedenfalls keinerlei Produktivitätseinbrüche durch die Arbeit im Homeoffice erlitten.
W+M: Fühlen Sie sich durch die Politik in Ihrer Personalarbeit ausreichend unterstützt?
Sylvia Borcherding: Das ist verbesserungswürdig. Es werden Rahmenbedingungen geschaffen, die es den Unternehmen erschweren, schlanke und sinnvolle Arbeitsabläufe zu installieren. Vorgaben wie die Arbeitszeiterfassung in der aktuellen Form sind einfach nicht mehr zeitgemäß, auch wenn wir natürlich die gesetzlichen Anforderungen erfüllen. Über diese Probleme stehen wir mit der Politik etwa über unserer Mitgliedschaft in der „Allianz der Chancen“ auch im Gespräch, denn da gibt es aus unserer Sicht seitens der Politik Nachholbedarf.
Interview: Frank Nehring