Donnerstag, April 18, 2024

Die größten Fehler beim Management des radikalen Wandels/ Fehler 4: Aus schnellen Prototypen werden Monsterprojekte

In Zeiten des Wandels wird Bewährtes auf den Prüfstand gestellt, weil das bisher erfolgreiche Konzept oder Geschäftsmodell nicht mehr für die Zukunft taugt. Darüber reden wir seit Jahren, ohne uns ernsthaft zu bemühen. Erst in den letzten zwei Jahren begriffen viele, dass es ernst ist und ein Durchmogeln und eine Rückkehr zu alten Zeiten nicht mehr möglich ist. Gebraucht wird der radikale Wandel. Dazu hat Dr. Jens-Uwe Meyer ein Buch geschrieben. Wir veröffentlichen daraus in einer sechsteiligen Serie „Die größten Fehler beim Management des radikalen Wandels“.

Fehler 4: Aus schnellen Prototypen werden Monsterprojekte

„Wir wollen neue Wege gehen. Anders denken. Schnell und agil werden.“ Das ist das Leitmotiv der Topmanagement-Tagung der Erfolgs- und Verwöhnt AG. Gerade sind die Beteiligten von einem Kongress zurückgekommen. Geschwindigkeit und Agilität, das waren die beherrschenden Themen. „Lasst uns einfach Dinge einmal ausprobieren. Sehen, ob es funktioniert. Lasst uns handeln wie ein Startup.“

Die Suche nach geeigneten Partnern beginnt. Hochmotivierte Verantwortliche des Unternehmens beginnen zu telefonieren. „Wir möchten am liebsten heute noch ein Pilotprojekt starten, um zu testen, ob dieses Thema ein künftiges Geschäftsmodell für uns ist. Die wichtigsten Faktoren für uns sind Geschwindigkeit, Flexibilität und Lernerfolge. Wir möchten die ersten im Markt sein, die herausbekommen, was funktioniert und aus Fehlern schnell lernen. Können wir in ein bis zwei Monaten starten?“

Das war der Plan. 18 Monate später ist aus dem kleinen schlanken Piloten ein Monsterprojekt geworden. Die IT, der Datenschutzbeauftragte, der Einkauf, das Marketing und weitere Fachabteilungen sind involviert. Aus „Können wir nächsten Monat starten?“ ist ein mehrstufiges Ausschreibungsverfahren geworden. Es umfasst inzwischen 17 Dokumente. Die Anhänge tragen Namen wie Governance IT, Template RV Time_and_Material, Anlage_4_Ratecard und DIU FCN LS02. Es sind mehr als 200 Seiten.

  • Der Nachhaltigkeitsbeauftragte lässt sich ausführlich erklären, wie die potenziellen künftigen Partner das Konzept der Klimaneutralität umsetzen und welche Schritte sie in den kommenden Jahren planen, um ihre CO2-Bilanz weiter zu verbessern.
  • Die Konzernjuristin verhandelt darüber, wer im Falle von Datenschutzinspektionen im Rechenzentrum die Tagessätze der Prüfer bezahlt.
  • Die IT-Abteilung weigert sich, eine Lösung zu akzeptieren, die nicht im Rechenzentrum des Unternehmens gehostet wird. Und weist der Vollständigkeit halber darauf hin, dass in den nächsten zwölf Monaten keine Ressourcen für die Implementierung zur Verfügung stehen.

Um dem Ausschreibungsverfahren nicht im Weg zu stehen, fordern sie einen Implementierungsplan für die Umsetzung an, in der alle potenziellen Partnerunternehmen sämtliche notwendigen Kapazitäten und Prozessschritte für sechs Monate einzeln beschreiben sollen. Die Rückfrage eines Bieters, in der Ausschreibung werde doch ausdrücklich eine Cloud-Lösung gesucht, beantwortet die IT mit den Worten: „Gemäß unserer internen Richtlinien sind Cloud-Lösungen nicht zulässig.“

Nicht nur die ersten potenziellen Partner, auch die ersten Kunden, die 18 Monate zuvor von dem Projekt begeistert waren, haben sich entnervt aus dem Verfahren zurückgezogen. Doch es geht unbeirrt weiter voran. Ausschreibung ist Ausschreibung. So sehen es die Richtlinien vor. Das Projekt ist Schritt für Schritt zu einem bürokratischen Monster verkommen. Gemessen an den mutigen Plänen, die zuvor aufgestellt wurden, ist die Erfolgs- und Verwöhnt AG keinen Schritt vorangekommen.

Und doch sind alle Beteiligten zufrieden. Denn sie alle machen – oberflächlich betrachtet – alles richtig.

  • Der Einkauf hat eine auf digitale Ausschreibungsprozesse spezialisierte Beratung engagiert, die streng darauf achtet, dass alle internen Richtlinien erfüllt werden. Und die nebenbei jede Verkomplizierung des Einkaufsprozesses mit hohen Tagessätzen in Rechnung stellt.
  • Die IT-Abteilung hat die Richtlinien, wonach Cloud-Lösungen im Unternehmen nur in Ausnahmefällen akzeptiert werden, erfüllt, indem sie strengste Prüfkriterien entwickelt und umgesetzt hat.
  • Der Nachhaltigkeitsbeauftragte hat das getan, wozu er sich nach den gesetzlichen Vorschriften über die Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten verpflichtet fühlt.
  • Die Marketingabteilung hat ihre langjährige Strategie, zunächst ein Marktforschungsinstitut mit der Analyse von Kundenbedürfnissen zu beauftragen, erfolgreich umgesetzt. Eine Studie wurde in Auftrag gegeben.

Die Preise des Projekts sind inzwischen explodiert. Lagen die ursprünglichen Schätzungen für den schnellen Prototypen noch bei einem mittleren fünfstelligen Betrag, haben sie sich inzwischen verzehnfacht. Es erinnert an die Hamburger Elbphilharmonie. Was trotz allem auch die Anbieter zufrieden macht. Weil die Anforderungen mit jedem Ausschreibungsschritt gewachsen sind, waren sie auch sie an ihr ursprüngliches Angebot nicht mehr gebunden. Sie konnten schließlich einen mehrjährigen Vertrag heraushandeln. Im Gegenzug ließen sie 20 % nach.

Alle sind zufrieden. Doch was verliert die Erfolgs- und Verwöhnt AG?

Eigentlich könnte man sagen: Ziel erreicht. Die Erfolgs- und Verwöhnt AG hat etwas ausprobiert, war mutig und hat erkannt, dass das Geschäftsmodell in der ursprünglich geplanten Form nicht funktioniert.

Nach knapp vier Jahren ist das Unternehmen dort angekommen, wo es eigentlich nach vier Monaten hätte sein sollen. Doch nach wie vor sind alle Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden. Denn niemand hat etwas falsch gemacht. Heißt das: alles perfekt?

Es liegt ein Verdacht nahe: wenn alle im Unternehmen alles richtig machen, bewegt sich wenig. Das, was die Erfolgs- und Verwöhnt AG im operativen Geschäft erfolgreich macht, verhindert Innovation. Die gleichen Richtlinien und Vorgaben, die gleichen Strukturen und Zuständigkeiten, die die Organisation zur Spitzenleistung bringen, verhindern den Fortschritt.

Bei der Umsetzung von Strategien müssen Unternehmen permanent abwägen: Geschwindigkeit versus Genauigkeit.

  • Ist es für die Umsetzung eines schnellen prototypischen Projekts erforderlich, die Nachhaltigkeitsstrategien aller Beteiligten sorgfältig zu prüfen?
  • Braucht die IT genaue Implementierungs- und Ressourcenpläne für die nächsten 18 Monate, wenn das Projekt nach sechs Monaten möglicherweise schon wieder beendete ist?
  • Und ist es wirklich erforderlich, zunächst eine spezialisierte Beratung für die Ausgestaltung eines Ausschreibungsverfahrens zu suchen?

Für Unternehmen wie die Erfolgs- und Verwöhnt AG ein Spagat, der einen permanenten Reset erfordert. Was ist wichtiger? Wollen wir für die Durchführung eines schnellen prototypischen Projekts die gleichen Anforderungen gelten lassen wie für die Einrichtung eines Hochsicherheits-Rechenzentrums?

Genauigkeit hat einen Preis. Geschwindigkeit. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn die Erfolgs- und Verwöhnt AG bereits nach vier Monaten für ein Zehntel des Preises eine höhere Lernkurve gehabt hätte? Wie viele personelle und materielle Ressourcen wären frei gewesen, um den nächsten Schritt zu gehen?

Wird fortgesetzt. Bisher erschienen:

Fehler 1: Der Fokus auf Bewahren und Verbessern
Fehler 2: Ein falscher Blick auf neue Technologien
Fehler 3: Innovation kann warten – Wir haben gerade andere Themen

Der Autor: Dr. Jens-Uwe Meyer

Jens-Uwe Meyer. Foto: Innolytics

Dr. Jens-Uwe Meyer gilt als einer der renommiertesten Vordenker für die Wirtschaft im radikalen Wandel. Er promovierte über die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Die von ihm geleitete Innolytics AG entwickelt ein digitales Betriebssystem für zukunftsorientiertes Management und revolutioniert die Art, wie Unternehmen auf neue Herausforderungen reagieren.

Er ist Autor von mittlerweile 13 Büchern zu den Themen Innovation und Digitalisierung.

Das Buch:

Dr. Jens-Uwe Meyer: RESET – Wie sich Unternehmen und Organisationen neu erfinden. BusinessVillage, 262 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-89980-8

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