Dienstag, April 16, 2024

W+M-Exklusiv: Smart Countries – Aufbruch in der Stille

Die Gigafabriken in Grünheide und Magdeburg und der milliardenschwere Umbau der Braunkohlereviere bestimmen die Schlagzeilen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Droht dabei der ländliche Raum auf der Strecke zu bleiben? Eine Reise zu den Orten der Zeitenwende in der Altmark und der Prignitz. Von Matthias Salm

Wittenberge: Die Elbestadt soll zur Landesgartenschau erblühen
Copyright Matthias Salm

Wittenberge blüht auf – ein großes Banner am Bahnhof von Wittenberge kündet bereits jetzt die Landesgartenschau 2027 in der Elbestadt an. Ein Schlüsselprojekt für eine nachhaltige Stadtentwicklung soll die Leistungsschau der Landschaftsgärtner für die Industriestadt im Wandel werden. Viele Wittenberger würden sich allerdings wünschen, dass das Bahnhofsgebäude selbst erst einmal wieder erblüht. Wie ein kleines  Stadtschloss thront das mehrgeschossige, 1846 errichtete und danach mehrfach erweiterte Empfangsgebäude im klassizistischen Stil am Rande der Innenstadt. Einst lag das Gebäude auf einer Insel inmitten eines Meers von Gleisen. Zur Jahrtausendwende verschwanden die Gleise zur Stadtseite dann hinter den Bahnhof. Zur Eröffnung des modernisierten Wittenberger Bahnhofs reiste einst eigens der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder samt Entourage an die Elbe.

Lang ist´s her: Hinter der äußeren Pracht der Bahnhofsfassade herrscht heute innere Leere. Ein Leerstand, der die Elbestädter schmerzt und der nun beendet werden soll. Wittenberge erhält dazu vom Bund eine Millionenspritze für die Sanierung des historischen Gebäudes. Der einstige Mitropa-Saal soll zu einem modernen Servicepoint mit Gastronomie ausgebaut werden. Doch dabei bleibt es nicht. Auch Co-Worker und Existenzgründer sollen hier einziehen, ebenso ein bahnnahes Ausbildungszentrum für Zerspanungsmechaniker. Zur Landesgartenschau, so der Plan, wird der Bahnhof seinem Beinamen „Tor zu Prignitz“ wieder alle Ehre machen.

Der Sommer der Pioniere

Wittenberge, früher liebevoll „Stadt der Nähmaschinen“ genannt, wurde im vergangenen Jahrzehnt in der überregionalen Presse zum Inbegriff des Niedergangs ostdeutscher Industriestädte stilisiert. Nähmaschinen werden hier schon lange nicht mehr gefertigt. Doch anders als ähnlich gebeutelte Kommunen zog sich Wittenberge angesichts der negativen Schlagzeilen nicht in den Schmollwinkel zurück. 2019 lud die Stadt zum „Summer of Pioneers“. Rund 30 Digitalschaffende wurden in die größte Stadt der Prignitz zum Arbeiten und Leben eingeladen. Die kreativen Köpfe rückten die Elbestadt bundesweit in ein positiveres Licht.

Der Sommer ging – einige Pioneers aber blieben. Sie etablierten die Initiative Elblandwerker, eine Anlaufstelle für Co-Worker, Existenzgründer und großstadtmüde digitale Nomaden, die es in die Prignitz zieht. „Initiativen wie die Elblandwerker sind wichtig für die Stadt“, heißt es auch aus der lokalen Wirtschaftsförderung. Akademiker in die Region zu locken, gehört zu den Zielen der Wirtschaftsakquisiteure, gilt sie doch als eine der Landstriche mit der geringsten Akademikerquote bundesweit.

Dennoch zählt auch in Wittenberge vor allem immer noch die bare Münze der industriellen Arbeitsplätze, die etwa der österreichische Dämmstoffhersteller Austrotherm oder der größte Arbeitgeber der Stadt, das Fahrzeuginstandhaltungswerk der Deutschen Bahn, bieten. Wittenberge wirbt auch mit seiner günstigen logistischen Lage auf halben Weg zwischen Berlin und Hamburg – in manch außerbrandenburgischen Landeshauptstadt wie Hamburg, Schwerin oder Magdeburg ist man von hier schneller als in Potsdam.

Ritter Roland wacht über Perleberg

Perleberg: Ritter Roland hält die Stellung
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15 Kilometer weiter nordöstlich, in Perleberg, wuchern sie noch mit einem anderen Pfund: der mittelalterlichen Altstadt. Sie liegt auf einer Insel inmitten zweier Flussarme der Stepenitz. „Früher“, weiß die Landschaftsarchitektin Maria Pegelow, „wurde Perleberg „Klein-Venedig“ genannt, weil viele schmale Kanäle die Altstadt durchzogen.“ Ende des 19. Jahrhunderts wurden die kleinen Wasserläufe aus hygienischen Gründen zugeschüttet. „Heute wären sie eine Attraktion“, bedauert Pegelow. Die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Brandenburgischen Architektenkammer bewohnt den letzten erhaltenen Wehrturm der Stadt und rührt in ihrer Freizeit die Werbetrommel für die „Perle der Prignitz“. Perleberg als „Klein-Venedig“ ist eine schöne Vision, ganz pragmatisch wäre es Pegelow aber lieber, wenn die öffentlichen Plätze in der Altstadt nicht mehr als Parkraum dienten. Eine von vielen Ideen, wie Perleberg an Lebensqualität gewinnen könnte.

2021 bezog Pegelow den Co-Working-Space „Hallo Perle“ nahe der Rolandstatue, die seit jeher über den Großen Markt der Stadt wacht. Pegelow hat das Projekt mitinitiiert. Als Voraussetzung für die Anmietung des leer stehenden Ladenlokals gab man ihr auf den Weg, dass der Co-Working-Space sich als eine offene Anlaufstelle in der Stadt etablieren solle.

Kommunikative Orte wie „Hallo Perle“ sind nicht nur in der Rolandsstadt gern gesehene Initiativen, um Menschen in die Innenstädte zurückzuholen. Auch Jens Knauer schätzt es, wenn Co-Working-Räume die Zentren beleben. Knauer bekleidet seit 2019 die Stelle des Leerstandsmanagers für die Städte Wittenberge und Perleberg am Technologie- und Gewerbezentrum Prignitz: „Durch das Leerstandsmanagement konnte der Leerstand in Perlebergs Innenstadt um 30 Prozent zurückgeführt werden“, sagt Knauer, der die direkte Kommunikation mit Kommunen, Einzelhändlern und Immobilienbesitzern sucht. „Es sind vor allem Geschäftsideen in der Nische wie qualitätsvolle Lebensmittel oder handwerkliche Arbeiten, die Erfolg versprechen.“ Auch Pop-up-Stores als Zwischennutzung werden unterstützt, um leere Ladenlokale wiederzubeleben.

Das Land wird smart

Dass der ländliche Raum nicht abgehängt werden darf, haben auch die Landesregierungen in Potsdam und Magdeburg erkannt. Die Wirtschaftsfördergesellschaften der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt, WFBB und IMG, unterzeichneten deshalb 2021 eine Kooperationsvereinbarung. Länderübergreifend soll demnach die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Sachsen-Anhalt und im westlichen Brandenburg mithilfe der Digitalisierung vorangetrieben werden.

Smart Country: Ohne digitale Infrastruktur geht es nicht
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Das Zauberwort heißt „Smart Country“. Co-Working-Spaces, Kreativorte und digitale Dörfer sollen eine neue Dynamik in die dünnbesiedelte Region bringen. Die Zusammenarbeit leuchtet ein: Die Ausgangslage dies- und jenseits der Elbe ähnelt sich. Auch wenn der Blick in der Prignitz sich oft schon gen Norden richtet, während etwa das auskömmliche Durchschnittseinkommen der Menschen in der westlichen Altmark von Berufspendlern zum VW-Werk in Wolfsburg gespeist wird. Eine Studie der Wüstenrot-Stiftung beispielsweise nährt die Hoffnung auf das digitale Comeback des ländlichen Raums, das helfen soll, die Abwanderung zu stoppen. Co-Working-Spaces sind demnach oft auch Angebote für Pendler, die nicht mehr täglich den langen Weg in die Stadt zu ihren Arbeitsorten zurücklegen wollen oder für Selbständige, die sich einen Schreibtisch oder Besprechungsraum fern der eigenen vier Wände wünschen.

Ein ruhiger, langer Fluss

Ortswechsel Altmark. „Kann ich hier in der Nähe etwas einkaufen?“, ruft der Radfahrer vom Elbedeich herab. Er hat schon die Regenjacke gegen das nahende Gewitter eng geschnürt. „Am besten umkehren und nach Wittenberg zurück, acht Kilometer“, entgegnet ihm Norbert Krebber. Direkt hinter Krebbers Elbehof im Storchendorf Wahrenberg verläuft der Elberadweg, Deutschlands populärster Fernradweg, durch die Elbauen. „Oder weiter bis Schnackenburg“, ruft Krebber dem Radler zu. Der nördlichste Punkt Sachsen-Anhalts ist von Wahrenberg nicht mehr weit entfernt, Schnackenburg liegt schon jenseits der Grenze in Niedersachsen. „Na, irgendwas wird vor Hamburg schon noch kommen“, seufzt der Radler und tritt in die Pedale, noch bevor Krebber ihm spontan ein Lunchpaket packen kann. Das wäre kein Problem, schließlich lädt am Elbehof auch ein kleines Café Ausflügler, Radler oder Storchenliebhaber bei Veranstaltungen zum Verweilen ein.

Krebber ist Ende der 1990er Jahre aus dem Ruhrgebiet zugewandert und hat den historischen Dreiseithof in Wahrenberg übernommen, um ihn in einen Kreativort umzuwandeln. „Kreativort alleine funktioniert aber nicht“, räumt Krebber gleich ein, „sie müssen auch das Dorf mitnehmen.“ Wie Krebber versuchen auch in der Altmark oftmals Zugewanderte die Dörfer zu erneuern und den Leerstand zu beleben. „Wir wollen ein Angebot machen für die Menschen, die hier leben, und für die Gäste. Große Gewinne lassen sich damit aber nicht erwirtschaften“, sagt Krebber.

Ein alter Theatersaal, aus den Zeiten, als hier noch eine Fähre verkehrte und ein Gasthof betrieben wurde, dient als Veranstaltungsort, eine Seminarscheune bietet Raum für Seminarveranstalter, die es etwas rustikaler und abgeschiedener mögen, das Café arbeitet auch mal mit „Vertrauenskasse“, weil festes Personal zu kostspielig wäre. Ein wenig hat sich der Fortschritt von Krebbers Kreativ-Projekt über die Jahre dem Lauf der Elbe angepasst, die hinterm Deich gemächlich und ruhig ihre Bahn durch die Auen zieht.

Warten auf das olympische Feuer

Anderen kann es dagegen nicht schnell genug gehen. Wie Daianira Leja, Leiterin des IDA Integrationsdorfs Arendsee. Ein Unternehmen aus dem Alten- und Pflegebereich hat vor zwei Jahren die Anlage übernommen, nachdem der Vorbesitzer nicht ohne Grund Insolvenz anmelden musste. „Hier ist zwanzig Jahre nicht investiert worden“, klagt Daianira Leja. Nun soll das Gelände über zehn Jahre zu einem Schmuckstück für inklusive Ferienangebote am Ostufer des Arendsees modernisiert werden. Vor der Wiedervereinigung war hier ein Ferienlager untergebracht, doch Fragen nach der Geschichte des Ortes hört die aus Ostwestfalen zugewanderte IDA-Chefin nicht ganz so gern. „Ich schaue lieber nach vorn“, sagt sie. Bis zu 200 Personen können auf dem Gelände mit 44 Wohnungen ihre Ferien genießen. Von Ostern bis Oktober läuft das Hauptgeschäft im Integrationsdorf. „Urlaubsangebote für Menschen mit Handicap sind ein wachsender Markt“, ist Daianira Leja überzeugt.

Das Integrationsdorf als Wandmalerei
Copyright Matthias Salm

Der Arendsee mit über fünf Quadratkilometern Wasserfläche ist der größte natürliche See in Sachsen-Anhalt. Zwar lockt das Strandbad Arendsee mit diversen Freizeitmöglichkeiten, der Schaufelraddampfer „Queen Arendsee“ lädt zu Seerundfahrten ein und das mehrfach preisgekrönte Jugendfilmcamp sorgte in den letzten Jahren für überregionale Aufmerksamkeit, doch Leja hält das touristische Potenzial der Region noch längst nicht für ausgeschöpft. Das 30-Millionen-Projekt „Waldheim-Ressort“, eine kombinierte Anlage mit Hotel, Ferien- und Eigentumswohnungen, kommt beispielsweise nur schleppend voran.

Umso begeisterter ist Daianira Leja deshalb, dass es dem Integrationsdorf in Kooperation mit der Kommune gelungen ist, als „Host Town“ der Special Olympics 2023 in Berlin ausgewählt zu werden. Die Weltspiele der Menschen mit geistiger Behinderung sind die einzige Sportveranstaltung weltweit, der das Internationale Olympische Komitee die Nutzung des Namens „Olympics“ und die Verwendung der olympischen Symbole erlaubt.

„Es gibt deutschlandweit 170 Gastgeberorte, an denen sich die Teams vor den Spielen aufhalten und akklimatisieren werden. Arendsee ist die kleinste der Host Towns“, erklärt Leja stolz. Im kommenden Jahr werden sie im IDA Integrationsdorf 60 Sportler aus Syrien samt Begleitung empfangen. „Die Special Olympics sind ein riesiges Event mit sehr hohen Anforderungen an die Gastgeber, bei dem die ganze Kommune eingebunden wird.“ Der Höhepunkt: Das olympische Feuer wird auf dem Weg nach Berlin auch durch Arendsee getragen. Für Leja ein echter Glücksfall: „Es entsteht ein Marketingwert für die Region, der gar nicht groß genug zu beziffern ist.“

Bis es soweit ist, spiegelt sich auch im Berufsalltag von Daianira Leja das Wechselspiel von Aufbruchsstimmung und Beharrungsvermögen in der Altmark täglich wieder. Das ehemalige Kinder-Café auf dem Gelände etwa, ein Gebäude im typischen DDR-Baustil, sollte zeitgemäßer Bebauung weichen. Doch weil hier einst die Menschen aus der Region ihre Jugendweihen feierten, regte sich Unmut über die Abrisspläne für den emotionalen Erinnerungsort. Jetzt entsteht dort ein Co-Working-Space – eine Verbindung von Ostalgiecharme mit modernen Arbeitsformen.

Lichtkunst in Lindstedt

Auch in Lindstedt vor den Toren von Gardelegen versucht man, Gäste aufs Land zu locken. An Ideen mangelt es auch hier nicht. So soll ein Lichtblütenfestival getauftes Event prägnante Orte wie das alte Rittergut Lindstedt mit kunstvollen Lichtinstallationen erstrahlen lassen. Der historische Vierseitenhof verfiel über Jahre, ehe der Förderverein „Historische Region Lindstedt“ mühevoll das nach der Wende scheibchenweise in alle Welt verkaufte Gebäudeensemble erwarb. Nun finden hier Kulturveranstaltungen, Seminare, Workshops und private Feiern statt. Denn während anderswo in Brandenburg und Sachsen-Anhalt Gigafabriken und neue Forschungszentren das Tempo der Zeitenwende diktieren und Fachkräfte aus aller Welt anziehen, geht es in der Prignitz und der Altmark noch immer darum, die Menschen in den Dörfern zu halten. Die Zeitenwende im ländlichen Raum – sie wird vor allem von engagierten und risikobereiten Menschen – Einheimische wie Zugewanderte – in dem ihnen eigenen Tempo gestaltet.

 

 

 

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