Sonntag, Dezember 22, 2024

Daten statt Kohle – die Lausitz im Wandel

Wo einst der Tagebau die Landschaft prägte, sollen bald Daten aus dem All gesammelt, verbrauchsarme Flugzeuge erdacht und das Wasserstoff-Zeitalter eingeläutet werden. In der Lausitz steht Spitzenforschung von internationalem Rang vor dem Start. Von Matthias Salm.

Die Lausitz als Tor zum Weltall: Ende September gab das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Sieger im Wettbewerb um zwei neue Großforschungszentren in den ehemaligen ostdeutschen Braunkohlerevieren bekannt. Während in Sachsen-Anhalt als bedeutendem Chemiestandort folgerichtig das „Center for the Transformation of Chemistry“ (CTC) angesiedelt wird, entsteht in der sächsischen Lausitz für viele eher ein wenig überraschend das Deutschen Zentrum für Astrophysik (DZA). Das DZA entstand als gemeinsame Initiative der Astronomie und Astroteilchenphysik in Deutschland. Aus über 100 Ideenskizzen hatten es sechs Projekte im letzten Jahr auf die Shortlist des Bundesforschungsministeriums geschafft. Dem CTC und dem DZA trauen die Experten nun am ehesten zu, das Gesicht der Lausitz tiefgreifend zu verändern.

Als treibende Kraft der Bewerbung und designierter Gründungsdirektor des DZA steht mit dem wissenschaftliche Direktor der Europäischen Weltraumorganisation ESA, Prof. Dr. Günther Hasinger, ein Star der Astroforscherszene in den Startlöchern: „Dieser Wettbewerb eröffnete neue Perspektiven, für die Regionen in Sachsen und für unsere Gesellschaft“, sagt Hasinger. Dass Astrophysik keine abgehobene Wissenschaft ist, betonen die Macher des DZA dabei ausdrücklich: „Astrophysik war und ist eine Hightech-Wissenschaft mit großer Innovationskraft. Gleitsichtbrillen, Ceranfelder, wesentliche Bestandteile von Mobiltelefonen, Navis oder schnelle elektronische Banküberweisungen via Satellit – das alles gibt es dank astronomischer Forschung.“ Den Praxiswert der Astrophysik betonen die DZA-Initiatoren nicht ohne Grund. Denn mancher in der Lausitz hätte lieber eine andere Entscheidung mit einem stärkeren Bezug zu den wirtschaftlichen Traditionen der Region gesehen.

Mehr Daten als im Internet

Im ersten Schritt wird die astronomische Spitzenforschung am DZA das gesamte elektromagnetische Spektrum bis hin zu den Gravitationswellen abdecken. Im zweiten Schritt werden im DZA Datenströme aus aller Welt verarbeitet, auch die Daten zukünftiger Großteleskope sind eingeplant wie etwa die des Square Kilometre Array oder des Einstein-Teleskops, ein europäisches Großprojekt. Letzteres, so die Vision, könnte Gravitationswellen entdecken, die ein neues Bild vom Universum schaffen würden. Um die Dimension zu veranschaulichen: Die Daten dieser Teleskope machen ein Mehrfaches des Datenverkehrs im heutigen Internet aus. Diese zu sammeln und zu verarbeiten, erfordert gänzlich neue Technologien.

Der dritte Schritt wird ein Technologiezentrum sein, an dem neue Halbleitersensoren, Silizium-Optiken und Regelungstechniken für Observatorien entwickelt werden sollen. Und hier entstehe der direkte Nutzen, versprechen die Astrophysiker: Vor allem im Bereich der optischen Technologien und der Halbleitertechnik sehen die Forscher enormes wirtschaftliches Potenzial und die Chance, sich in der Mikroelektronik unabhängiger von anderen Märkten aufzustellen – ein brennend aktuelles Thema. Firmen für neuartige Halbleiter-Sensorik, Regelungstechnik, Mechanik oder Optik sollen um das Zentrum entstehen. Standort des DZA wird ein Campus für Spitzenforschung auf dem Kahlbaum-Areal in Görlitz sein.

Bevor die Daten aus dem Weltall gesammelt werden, geht es aber vielleicht erst einmal in die Tiefe. Die seismographischen Bedingungen im Granitgestein der Lausitz will das DZA für seine Forschung und Entwicklung neuer Geräte nutzen. Zwischen Hoyerswerda, Bautzen und Kamenz soll in einem unterirdischen Tunnelsystem ein Forschungslabor, das Low Seismic Lab, entstehen. Die Förderung sieht eine dreijährige Aufbauphase vor. Die TU Dresden wird die Projektträgerschaft übernehmen und ihr Know-how in Data Analytics, Künstlicher Intelligenz und High Performance Computing einbringen.

High-Tech und Hollywood

Görlitz wird zum Standort des Zentrums für Astrophysik. Foto: Nikolai Schmidt.jpg

Bisher rührte der internationale Bekanntheitsgrad der östlichsten Stadt Deutschlands eher daher, dass ihre historischen Fassaden als Kulisse für Filme aus der Traumfabrik Hollywood dienen. Nun könnte sich Görlitz in die Liga nationaler und internationaler Standorte für Spitzenforschung katapultieren. Denn die Astrophysiker sind beileibe nicht die einzigen Wissenschaftler, die es an die Neiße zieht. Auch die Forscher der Fraunhofer-Institute für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU sowie Windenergiesysteme IWES wollen dort ihre Zelte aufschlagen und am Hydrogen Lab Görlitz (HLG) innovative Lösungen für großindustrielle Wasserstofftechnologien entlang der gesamten H2-Wertschöpfungskette ermöglichen: grüne H2-Produktion mittels Elektrolyse, H2-Speicherung in Röhrenspeichern und H2-Nutzung in Gasturbinen vorrangig für die Bereiche Industrie, Quartiere und Mobilität. Für Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig eine Fortführung der energiewirtschaftlichen Historie der Region: „Unser Ziel ist es, dass die Lausitz auch nach dem Strukturwandel die Energieregion im Land bleibt. Das Hydrogen Lab Görlitz leistet dafür einen entscheidenden Beitrag.“

Den wirtschaftlichen Aspekt sieht auch Prof. Welf-Guntram Drossel, geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IWU, im Vordergrund. »In der Produktion innovativer Wasserstoff-Systemkomponenten steckt viel Potenzial für neue Wertschöpfung und hochwertige Arbeitsplätze. Gerade die Unternehmen in der Lausitz können sich an die Spitze eines Technologiewandels hin zu Klimaschutz und nachhaltiger Wettbewerbsfähigkeit stellen.“

Noch ist es allerdings nicht so weit. „Auch wir sind von gestörten Lieferketten und Preissteigerungen betroffen, die wiederum Umplanungen erforderlich machen, aus denen sich oft weitere Verzögerungen ergeben. Daher gehen wir nun davon aus, das Hydrogen Lab Görlitz (HLG) Ende 2023 in Betrieb nehmen zu können“, so Institutssprecher Andreas Hemmerle auf W+M-Anfrage.

Wärmewende in  der Industrie

100 Kilometer weiter nördlich, im brandenburgischen Cottbus, ist man da schon weiter. „Es geschieht gerade ungemein viel in der Region“, freut sich Prof. Dr. Uwe Riedel. Riedel leitet das 2019 gegründete Institut für CO2-arme Industrieprozesse des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Cottbus und Zittau. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit des Instituts steht die Dekarbonisierung großer energieintensiver Industriebereiche. Einen passenderen Standort als Brandenburg hätte man dafür kaum wählen können. Ob die Chemieindustrie in Schwarzheide, die Papierproduktion und Petrochemie in Schwedt, die Zementherstellung in Rüdersdorf oder die Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt – Brandenburgs Schlüsselindustrien sind allesamt Energiefresser und CO2-Emittenten in großem Maßstab.

Die Pilotanlage Cobra in der Versuchshalle in Cottbus.
Copyright: DLR

Ein Forschungsschwerpunkt der Cottbuser sind Hochtemperatur-Wärmepumpen auf Basis erneuerbarer Ressourcen für industrielle Prozesse. Sie sollen den Einsatz fossiler Brennstoffe in der Industrie entbehrlich machen. „Für viele industrielle Bedarfe sind Temperaturen von 150-300 Grad Celsius ausreichend“, erklärt Institutsleiter Riedel. Eine Versuchsanlage, die Hochtemperatur-Wärmepumpe CoBra, haben die DLR-Forscher bereits in Betrieb genommen. „Wir können bisher weltweit einmalige Werte beim Temperaturhub und der Wärmeabgabe-Temperatur von 300 Grad Celsius erzielen.“ Langfristig sollen auch Temperaturen bis 500 Grad Celsius möglich sein. Den Bau der Anlage wickelte das DLR vorrangig mit Betrieben aus der Region ab.

Neben Cottbus unterhält das DLR-Institut noch einen zweiten Standort in Zittau. Während in Cottbus mit Luft oder Edelgasen als Arbeitsmedien geforscht wird, arbeitet die Pilotanlage in Zittau mit Wasser. Zudem werden in Cottbus „digitale Zwillinge“ von realen Produktionsanlagen erstellt, um den Einsatz erneuerbarer Energien in den Produktionsprozessen etwa der Stahlindustrie simulieren zu können. Die Entwicklung allerdings, dämpft Institutsleiter Riedel überzogene Erwartungen, benötige Zeit. In drei bis fünf Jahren könne eine Demonstrator-Anlage in der Industrie zum Einsatz kommen.

Anziehungskraft entwickeln die neuen Forschungseinrichtungen in der Lausitz aber jetzt schon, ist Prof. Dr. Uwe Riedel überzeugt: „Rund 30 Prozent unserer Institutsbeschäftigten sind von außerhalb zugezogen.“

Neben dem Institut für CO2-arme Industrieprozesse hat das DLR 2021 in der Universitätsstadt auch noch das In­sti­tut für Elek­tri­fi­zier­te Luft­fahrt­an­trie­be gegründet. Hier werden emissionsärmere und stärker elektrifizierte Luftfahrtantriebe für zivile Transportflugzeuge entwickelt, gemeinsam mit der BTU Cottbus-Senftenberg, aber auch mit dem Triebwerkshersteller Rolls-Royce. An der BTU ist das Zentrum zur Erforschung hybrid-elektrischer und elektrischer Systeme für den Mobilitätssektor erster Ansprechpartner. Das Center for Hybrid Electric Systems Cottbus (CHESCO) sucht nach alternativen Antrieben zunächst in der Luftfahrt, später aber auch in den Bereichen Automobil, Bahn und Schifffahrt.

Überhaupt fungiert die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg als Dreh- und Angelpunkt beim Strukturwandel, beispielsweise bei der Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG. So untersucht z.B, der gebürtige Cottbuser und Lausitz-Rückkehrer Prof. Dr. Mario Ragwitz in einer gemeinsamen Professur des Fraunhofer IEG und der BTU ganzheitlich integrierte Energieinfrastrukturen des Strom-, Wärme- und Gassektors und der energierelevanten IT-Infrastrukturen. Ragwitz ist zudem Sprecher des Wasserstoff-Netzwerkes der Fraunhofer-Gesellschaft.  Seit seiner Gründung im Jahre 2020 unterstützt das Fraunhofer IEG Energieversorger, Netzbetreiber, Industrieunternehmen, Wohnungsbaugesellschaften und Kommunen bei der Transformation der Energieinfrastrukturen mit markt- und anwendungsnaher Forschung.

Ein Sciencepark für Cottbus

Ein großes und prägendes Vorhaben im Strukturwandel der Kohleregion Lausitz der kommenden Jahre steht allerdings noch auf dem Papier – der Lausitz Science Park. Hier haben sich BTU, DLR, Fraunhofer-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und Unternehmen wie BASF, LEAG und Rolls Royce gemeinsam verpflichtet, einen Technologie- und Innovationspark mit den Themen „Energiewende und Dekarbonisierung“, „Gesundheit und Life Sciences“, „Globaler Wandel und Transformationsprozesse“ sowie „Künstliche Intelligenz und Sensorik“ am Rande des BTU-Campus entstehen zu lassen. 10.000 Arbeitsplätze und Raum für 200 kleine und mittelständische Unternehmen nach dem Vorbild des Wissenschafts- und Technologieparks Adlershof in Berlin, so lautet die Vision. „Städtischerseits sind die planerischen Grundlagen für die Bebauung weiter voranzutreiben. Diese Prozesse werden noch einige Jahre in Anspruch nehmen, vermutlich bis etwa 2026“, schätzt der Pressesprecher der Stadt, Jan Gloßmann. Erst dann wird sich zeigen, ob und wie die Spitzenforschung das neue Gesicht der Lausitz prägen wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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