Sonntag, Dezember 22, 2024

Konjunktur: Der ostdeutschen Wirtschaft gehen die Fachkräfte aus

In vielen ostdeutschen Branchen bremsen offene Stellen den Aufschwung aus. Die für die Transformation benötigten Fachkräfte fehlen nicht nur dem Mittelstand. Auch Großansiedlungen wie Intel oder Tesla erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt. Von Matthias Salm

Anfang des Jahres schlugen Sachsens Kammern Alarm. Die sächsischen Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern hatten ihre Mitglieder befragt und das Ergebnis war eindeutig: Mit 64 offenen Stellen je 1.000 Beschäftigte wurde der bisherige Höchstwert von 52 offenen Stellen aus dem Jahr 2018 nochmals deutlich überschritten. Besonders fehlt es laut Umfrage an Technikern und Meistern. Gerade der kleine Mittelstand – Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern – leidet unter dem Fachkräftemangel. Bis 2030 werden 150.000 Erwerbsfähige auf dem sächsischen Arbeitsmarkt fehlen im Vergleich zu 2020. 2035 soll die Lücke schon 210.000 Beschäftigte betragen.

Der Freistaat will die Misere gleich auf mehreren Ebenen bekämpfen. Allein 132 Millionen Euro will die sächsische Regierung in den nächsten Jahren in die Förderung des akademischen Nachwuchses pumpen. Das Wirtschaftsministerium hat darüber hinaus einen 31-Punkte-Plan zur Gewinnung internationaler Arbeitskräfte aufgelegt, für dessen Umsetzung zunächst 17,5 Millionen Euro eingeplant sind. Zu den Maßnahmen zählen eine schnellere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, Praktika für im Ausland lebende Menschen bei sächsischen Unternehmen und die Schaffung kommunaler Integrationszentren als Anlaufstelle.

Der Maschinenbau sucht Nachwuchs

In einer der sächsischen Schlüsselindustrien, dem Maschinenbau, fehlt es nicht nur im Freistaat, sondern in ganz Ostdeutschland schon jetzt an geeignetem Nachwuchs. Vier von fünf ostdeutschen Maschinen- und Anlagenbauern bilden ihren Fachkräftenachwuchs noch selbst aus. Doch die Bewerberzahlen sinken und die Betriebe klagen zudem über eine unzureichende Ausbildungsfähigkeit der Berufsstarter. Dies ergab eine Umfrage des Branchenverbands des Maschinenbaus VDMA Ost unter seinen 350 Mitgliedern in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

„Das Fachkräftedilemma der Branche beginnt bereits bei den Jüngsten. So hatten in diesem Jahr nahezu 60 Prozent der Betriebe Probleme, geeignete Mädchen und Jungen für eine kaufmännische oder gewerblich-technische Berufsausbildung zu gewinnen“, beschreibt Oliver Köhn, Geschäftsführer des VDMA Ost, die Lage. „Besonders schwierig ist die Situation in den technischen Berufsfeldern. Hier gibt es in vier von zehn Firmen freie Ausbildungsplätze.“

In Brandenburg arbeiten LEAG und Deutsche Bahn in der Ausbildung zusammen. Copyright: LEAG

Dem großen Angebot an gewerblich-technischen Ausbildungsstellen im ostdeutschen Maschinenbau steht eine schrumpfende Nachfrage gegenüber. Gründe hierfür sind der demografische Wandel, die Konkurrenz von Konzernen und großen Mittelständlern und die hohe Studienneigung vieler Jugendlicher. Übrigens ist der Mangellage im Maschinenbau kein rein ostdeutsches Problem. Laut ifo-Institut sahen sich im Juli 2022 43 Prozent der befragten Maschinenbau-Unternehmen in Deutschland durch fehlende Fachkräfte in ihren Produktionsaktivitäten gebremst. Besonders die Berufsgruppen Mechatronik, Automatisierungstechnik, spanende Metallbearbeitung, Maschinen- und Betriebstechnik sowie Elektrotechnik erweisen sich als Problemzone.

Thüringer Betrieben fehlen IT-Kräfte

In Thüringen erlitten 2021 neben dem Chemie- und Textilsektor auch die Reisebranche sowie der Messe- und Vermietungsbereich den stärksten Einbruch beim Fachkräftepersonal, ergab eine Auswertung der Regionaldirektion Halle der Agentur für Arbeit. Vor allem aufgrund der Verrentung müssen jährlich knapp 25.000 Mitarbeiter im Freistaat ersetzt werden. Schon jetzt liegt das Land deutschlandweit auf dem letzten Platz bei der Dauer der Wiederbesetzung von offenen Stellen. Auch die Thüringer Agentur Für Fachkräftegewinnung (ThAFF) weiß um den Wettbewerb der Unternehmen um die Fachkräfte: „Die Intensität der Suche nach Fachkräften ist ungebrochen, gefragt sind vor allem Lehrende, IT-Fachleute und Personal im Gesundheits- und Sozialwesen“, erläutert Sabine Wosche, Geschäftsführerin der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen mbH (LEG Thüringen), bei der die ThAFF angesiedelt ist. „Regional betrachtet finden sich die meisten Gesuche in Jena und Erfurt sowie in den Landkreisen Schmalkalden-Meiningen, Gotha und Ilmkreis.“

Den Engpass bei den IT-Kräften teilen die Thüringer mit ganz Ostdeutschland. Lediglich in Berlin, ergab eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), ist die Lage noch entspannt. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern gestaltet sich die Suche nach Personal mit Digitalisierungskompetenzen hingegen besonders schwierig. Die Studie warnt davor, dass Ostdeutschland bei der Digitalisierung aus Mangel an Humankapital abgehängt werden könnte. Hinzu kommt für den Mittelstand die Konkurrenz durch Großinvestoren in Ostdeutschland. Allein der IT-Konzern Intel sucht für seine Gigafabrik in Magdeburg 3.000 Fachkräfte (siehe auch S. 48). Experten rechnen damit, dass im Umfeld der Intel-Investitionen bei Zuliefererfirmen weitere Arbeitsplätze – insgesamt rund 10.000 – entstehen werden, die es zu besetzten gilt.

Auch die Chemie benötigt Digitalisierungsexperten

Auch in der für Ostdeutschland wirtschaftlich lebensnotwendigen Chemieindustrie schauen die Betriebe mit Sorge auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Der Verband der Chemischen Industrie in Ostdeutschland stellt bei Facharbeitern und Facharbeiterinnen Engpässe vor allem in den Produktionsberufen fest, z. B. in den Berufsfeldern Chemikanten oder Verfahrensmechaniker für Kunststoff- und Kautschuktechnik, bei den Laborberufen, den Berufen der Instandhaltung sowie in den Berufen der IT und Softwareentwicklung.

Gerade bei den Fachkräften für die Digitalisierung suchen die ostdeutschen Chemiefirmen mit Ausnahme weniger Arbeitsagenturbezirke flächendeckend nach geeignetem Personal. Regionale Fachkräfteengpässe in chemierelevanten Berufen gibt es auch in der Forschung und Entwicklung, beispielsweise bei den pharmazeutisch-technischen Assistent/-innen. Insbesondere in Teilen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns können über 70 Prozent der offenen Stellen in chemierelevanten Berufen der Forschung und Entwicklung nicht besetzt werden, weil passend qualifizierte Arbeitslose fehlen. Beim akademischen Fach- und Führungspersonal tritt hingegen der Mangel nur in bestimmten Bereichen auf, etwa in der Informatik/Wirtschaftsinformatik und im Ingenieurwesen. Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen sind für die Chemieunternehmen hingegen noch ausreichend zu gewinnen, so die Nordostchemie-Verbände.

Das Handwerk schlägt Alarm

Fachkräfte Copyright. Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH)

Dem Handwerk geht der Nachwuchs aus, auch wenn sich der Dachdeckerberuf wieder größerer Beliebtheit erfreut. Copyright. Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH)

In der Hauptstadtregion treffen in vielen Branchen ebenfalls zu wenig Arbeitssuchende auf zu viele offene Stellen. Auswertungen der Arbeitsagentur bescheinigen besonders dem Flächenland Brandenburg wachsende Schwierigkeiten bei der Besetzung freier Stellen bei Pflegeberufen, in der Mechatronik, der Medizin- und Energietechnik, der Pharmazie, bei Rettungsdiensten, aber auch bei Klimatechnikberufen. Gerade der Fachkräftemangel im Handwerk könnte das Gelingen der Energiewende auf eine harte Probe stellen, schließlich sind es die Handwerker, die etwa die Umrüstung in der Wärmeversorgung auf Wärmepumpen oder Maßnahmen zur Energieeffizienz umsetzen müssen. Dass manche Ausbildungsberufe, etwa bei  Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikern oder in der Dachdeckerei laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) wieder größerer Beliebtheit erfreuen, auch weil sie sich in der Corona-Pandemie als krisenresistent erwiesen haben, kann den wachsenden Bedarf allein nicht decken.

„Die Beschäftigtenzahlen gehen auch im Brandenburger Handwerk seit Jahren zurück. Ursächlich sind u.a. der demografische Wandel und sinkende Geburtenzahlen. Zudem sind vom demografischen Wandel auch eine hohe Zahl von Inhabern betroffen, die ebenfalls in nicht ausreichender Zahl Betriebsnachfolger finden“, sagt Ines Weitermann, Pressesprecherin der Handwerkskammer Potsdam.

Wie hoch die Dringlichkeit von Unternehmensnachfolgen oder Gründungen im Handwerk ist, zeigen die aktuellen Zahlen am Beispiel des Kammerbezirks Potsdam: In rund 43 Prozent der 17.400 Mitgliedsbetriebe sind die Betriebsinhaberinnen oder Betriebsinhaber in Westbrandenburg 55 Jahre oder älter. Konkret sind damit in den nächsten Jahren zirka 7.500 Handwerksbetriebe mit rund 30.000 Mitarbeitern nur allein in Westbrandenburg vom Thema Nachfolge betroffen.

Es gibt faktisch kein Gewerk, das vom Fachkräftemangel verschont bleibt. Besonders hoch ist der Bedarf im Bauhaupt- und im Ausbaugewerbe, einem der wichtigsten Handwerksbereiche zur Erreichung der Klimaziele. Es fehlen Installateure und Heizungsbauer, Kälteanlagenbauer, Metallbauer und Elektroniker. Aber auch in den Gesundheitshandwerken wie etwa den Augenoptikern oder Hörakustikern steigt der Bedarf an neuem Personal weiter.

Das Handwerk selbst versucht entgegenzuwirken, mit Ausbildungscoachings für Azubis und Workshops für Ausbilder, mit Willkommenslotsen für Geflüchtete oder ausländische Fachkräfte und Nachfolgeprojekten.

Aber nicht nur das Handwerk in Brandenburg muss auf die personelle Notlage reagieren. Auch Großbetriebe wie die LEAG und die Deutsche Bahn (DB) arbeiten mittlerweile eng zusammen und setzen einen Trend zu gemeinsamen regionalen Ausbildungsinitiativen. Der Ausbildungspakt des Energiekonzern mit der Deutschen Bahn für die gemeinsame Strukturentwicklung in der Lausitz sieht vor, dass die DB bis zum Jahr 2025 einen Teil ihrer Auszubildenden unter Federführung der LEAG in der Ausbildungsstätte Jänschwalde ausbilden lässt. Die DB wird diese Einrichtung dann ab 2025 betreiben. Dann wird dort der Nachwuchs der DB, der LEAG und auch von Drittunternehmen beruflich fit gemacht für die Zukunft.

Flaute in der Tourismuswirtschaft

Kaum eine Branche hat unter den Beschränkungen der Corona-Pandemie so gelitten wie das Hotel- und Gaststättengewerbe. Mit fatalen Folgen: 216.000 Kellner, Köche und Hotelangestellte verließen 2020 deutschlandweit ihrem Beruf, so eine Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Viele von ihnen suchten ihr Glück im Einzelhandel oder in der Logistik. Besonders hart trifft diese Entwicklung das Tourismusland Mecklenburg-Vorpommern. Nirgends in Deutschland ist die Stellenüberhangquote mit rund 60 Prozent höher als im Küstenland.

Rund jedem zweiten Tourismus-Unternehmen (49 Prozent) zwischen Müritz und Ostsee setzt der Arbeitskräftemangel laut einer Umfrage des Tourismusverbands Sachsen-Anhalt zu. Im Einzelnen sind es die Beherbergunsbetriebe zu 55 Prozent, Gastronomen zu 58 Prozent, Freizeitanbieter zu 38 Prozent, Tourist-Informationen zu 25 Prozent, Verkehrsträger zu 100 Prozent und wassertouristische Betriebe zu 31 Prozent. Besonders drückt der Schuh in den Betrieben beim Service, Housekeeping und beim Küchenpersonal.
Reagieren wollen die Unternehmen ganz unterschiedlich auf die angespannte Personallage. Einer höheren Entlohnung der Arbeitskräfte und einer verstärkten Rekrutierung von Menschen aus anderen Regionen in Deutschland oder der EU stehen auch eingeschränkte Öffnungszeiten oder eine Verknappung des Angebots als Optionen gegenüber.

Das Land will mit der Gründung einer Tourismusakademie gegensteuern. „Die Fachkräftesicherung im Tourismus ist eines der drängendsten Herausforderungen der Branche. Wir wollen vor allem auch deshalb eine Tourismusakademie in Mecklenburg-Vorpommern aufbauen mit dem Ziel, Fachkräfte für unser Land auszubilden, zu qualifizieren und auch hier zu halten. Das geht nur zusammen mit der Wirtschaft im Land. Darüber hinaus können Qualifizierungsmaßnahmen der unterschiedlichen Akteure im Land vernetzt und auch optimiert werden“, so MV-Wirtschaftsminister Reinhard Meyer.

Unter Federführung des Wirtschaftsministeriums wird nun eine Fachkräftestrategie für Mecklenburg-Vorpommern erarbeitet. Sie soll vier Säulen umfassen: die Qualifizierung von Fachkräften, die Sicherung und Ausschöpfung von Erwerbspotenzialen, die Gewinnung von Fachkräften aus dem In- und Ausland sowie die Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen im Land.

 

 

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