Die ostdeutsche Wirtschaft gerät im zweiten Halbjahr in die Rezession
Halle (Saale). Die ostdeutsche Wirtschaft hat im ersten Halbjahr 2022 kräftig expandiert, gerät im zweiten Halbjahr aber in die Rezession. Implikationen der Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2022 und jüngerer Veröffentlichungen des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder.
Die Energiekrise stürzt die deutsche Wirtschaft in eine Rezession. Das betrifft auch die Konjunktur in Ostdeutschland. In diesem Jahr wird die ostdeutsche Produktion laut Prognose des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) mit 1,5% etwas stärker expandieren als in Deutschland insgesamt. Für das kommende Jahr dürfte der Rückgang in Ostdeutschland mit 0,1% weniger deutlich ausfallen als im Westen (Deutschland: ‒0,4%). Für das Jahr 2024 wird ein Zuwachs von 1,7% prognostiziert (Deutschland: 1,9%).
Die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose konstatiert in ihrem Herbstgutachten, dass die krisenhafte Zuspitzung auf den Gasmärkten zu einem massiven gesamtwirtschaftlichen Kaufkraftentzug führt und die deutsche Wirtschaft in die Rezession drückt. Das trifft auch für die ostdeutsche Wirtschaft zu. Dabei war die Konjunktur in Ostdeutschland im ersten Halbjahr 2022 noch recht kräftig: Hier lag die Produktion um reichlich 3% höher als ein Jahr zuvor, in Deutschland insgesamt waren es nur 2,6%. (1) „Dabei kam der ostdeutschen Wirtschaft zugute, dass das Gewicht des schwächelnden Verarbeitenden Gewerbes geringer ist als im Westen“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in Ostdeutschland werden von der schrittweisen Angleichung des ostdeutschen Rentenwerts an den westdeutschen gestützt, weshalb die Ostrenten jährlich um etwa einen ¾ Prozentpunkt stärker steigen. Ferner spielt der im Jahr 2022 besonders starke Anstieg des Mindestlohns im Osten eine größere Rolle, da hier ein deutlich größerer Teil der Arbeitnehmerschaft davon betroffen ist als im Westen. Dabei halten sich aufgrund der derzeit günstigen Arbeitsmarktlage die negativen Beschäftigungseffekte des Mindestlohnanstiegs bislang in engen Grenzen. „Darüber hinaus haben möglicherweise auch einige der vielbeachteten industriellen Großprojekte in Ostdeutschland, etwa die Tesla-Fabrik in Grünheide oder neue Chipfabriken in Dresden, bereits gesamtwirtschaftlich messbare Effekte“, ergänzt Holtemöller.
Diese stützenden Effekte sind freilich gering im Vergleich mit den zu erwartenden Kaufkraftverlusten aufgrund der stark steigenden Energiepreise. Ebenso wie in Deutschland insgesamt werden auch in Ostdeutschland privater Konsum und Produktion im Winterhalbjahr schrumpfen. Große Unterschiede in der Belastung von Haushalten und Unternehmen sind nicht zu sehen: Erdgas hat als Heizmittel in Ost und West etwa dieselbe Bedeutung, (2) und die besonders energie- und gasintensiven Wirtschaftszweige des Verarbeitenden Gewerbes haben in Ost- und Westdeutschland in etwa das gleiche Gewicht. (3)
Alles in allem wird die ostdeutsche Produktion im Jahr 2022 mit 1,5% wohl etwas stärker expandieren als in Deutschland insgesamt (1,4%, vgl. Abbildung). Für das Jahr 2023 dürfte der Rückgang in Ostdeutschland mit 0,1% weniger deutlich ausfallen als im Westen (Deutschland: ‒0,4%), nicht zuletzt, weil der größere Anteil der Wertschöpfung durch öffentliche Dienstleister im Osten die Produktion in der Krise stützt. Für das Jahr 2024 wird ein Zuwachs von 1,7% prognostiziert (Deutschland: 1,9%). Die ostdeutsche Arbeitslosenquote nach der Definition der Bundesagentur für Arbeit steigt von 6,8% im Jahr 2022 auf 7,1% im nächsten Jahr, um im Jahr 2024 wieder auf 6,8% zurückzufallen.
1 Schätzung des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts aus den Länderangaben durch das IWH.
2 Vgl. dazu Arbeitskreis Konjunktur des IWH: Energiekrise in Deutschland. IWH, Konjunktur aktuell, Jg. 10 (3), 2022, 78.
3 Die fünf von den insgesamt 28 Wirtschaftszweigen des Verarbeitenden Gewerbes, welche sowohl die höchste Gas- als auch die höchste Energieintensität aufweisen, sind (nach Berechnungen des IWH auf Grundlage von Angaben des Statistischen Bundesamts): Herstellung von Papier und Pappe/Kokerei und Mineralölverarbeitung/Herstellung von chemischen Erzeugnissen/Herstellung von Glaswaren, Keramik und Verarbeitung von Steinen und Erden/Metallerzeugung und -bearbeitung. In Westdeutschland machen diese Wirtschaftszweige 11,5% der gesamten Bruttolohn- und Gehaltssumme im Verarbeitenden Gewerbe aus, in Ostdeutschland mit 12% etwas mehr, vor allem wegen der größeren Bedeutung des sehr energieintensiven Zweigs Herstellung von Glaswaren, Keramik und Verarbeitung von Steinen und Erden.