Im W+M-Interview spricht Franziska Giffey über ihre Arbeit als Regierende Bürgermeisterin Berlins, über die aktuellen Herausforderungen für die hauptstädtische Wirtschaft angesichts der bestehenden Krisen und über die Zusammenarbeit mit den ostdeutschen Ländern.
W+M: Angesichts der Krisen von Corona bis zum Ukraine-Krieg mit seinen Folgen für die Menschen und die Wirtschaft hatten Sie kaum Zeit zur Einarbeitung. Sind Sie im Amt schon richtig angekommen oder gibt es noch Themen, die Sie vorerst hintenangestellt haben?
Franziska Giffey: Im Roten Rathaus hatte ich schon an meinem ersten Tag das Gefühl, dass ich angekommen bin. Es ist für mich eine große Ehre, Regierende Bürgermeisterin der deutschen Hauptstadt zu sein und Verantwortung für rund 3,7 Millionen Menschen zu tragen.
Die ersten Monate waren aber von Krisen geprägt. Wir haben unseren Koalitionsvertrag in einer Zeit vereinbart, in der wir dachten, wir könnten nach der Pandemie wieder richtig durchstarten. Dann begann am 24. Februar der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mit vielen tausend Geflüchteten, die seitdem auch Berlin erreicht haben. Nach der Pandemie und der Flüchtlings- und Kriegssituation haben wir aktuell die Energiekrise mit Fragen der Versorgungssicherheit, von Preissteigerungen und Inflation. Das sind alles Geschehnisse, die zu den drängenden Aufgaben wie Wohnungsbau, Verwaltungsmodernisierung oder dem Neustart unserer Wirtschaft hinzukommen, und die wir bewältigen müssen.
W+M: Wie unterscheidet sich der Alltag einer Bundesministerin vom Alltag einer Regierenden Bürgermeisterin?
Franziska Giffey: Es ist die Breite der Themen und die Führungsrolle in der Regierung. Im Ministerium hatte ich Verantwortung für ein Fachressort – einem recht genau abgegrenzten fachlichen Themenbereich: Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Eine Regierende Bürgermeisterin ist für alles Ansprechpartnerin – aktuelle Themen und genauso die großen Linien und herausgehobenen Prioritäten. Die wichtigste Priorität ist jetzt, die Berlinerinnen und Berliner gut durch diesen Herbst und Winter zu bringen und dafür zu sorgen, dass die Stadt funktioniert und denjenigen geholfen wird, die Unterstützung brauchen.
W+M: Wie würden Sie Ihren Politikstil beschreiben, was ist Ihnen persönlich wichtig als Regierende Bürgermeisterin von Berlin?
Franziska Giffey: Mein Motto ist seit meiner Zeit in der Kommunalpolitik: hingehen, zuhören, anpacken. Nicht die Lage beklagen, sondern pragmatisch Lösungen finden, sich kümmern. Als Regierende Bürgermeisterin bin ich in dieser Verantwortung und arbeite gemeinsam mit meinem Team und den Mitgliedern der Landesregierung dafür, dass die Dinge auch gelingen.
Was mir auch wichtig ist: Berlin hat ein riesiges Potenzial. Wir sind die Stadt der Freiheit und der Vielfalt. Wir haben eine Kulturlandschaft, die einzigartig ist, die größte Start-up-Szene Europas, eine starke Wirtschaft, einen gut ausgebauten ÖPNV. Die Berlinerinnen und Berliner haben allen Grund, stolz auf ihre Stadt zu sein. Auch das möchte ich durch meine Arbeit vermitteln.
Als Senat setzen wir auf eine starke und nachhaltige Berliner Wirtschaft
W+M: Wie geht es der Berliner Wirtschaft? Wo liegen Ihre Schwerpunkte in Sachen Wirtschaftsentwicklung?
Franziska Giffey: Unsere Wirtschaft erholt sich erfreulicherweise recht gut vom Einbruch während der Pandemie. Im zweiten Halbjahr 2021 ist das Bruttoinlandsprodukt Berlins im Vergleich zum Vorjahr schon wieder um 3,3 Prozent gewachsen und liegt damit über dem Bundesdurchschnitt. Die aktuelle Entwicklung, in der viele Unternehmen und Betriebe wegen hoher Strom- und Gaspreise unter Druck geraten, dämpft diesen Trend. Dem steuern wir mit Wirtschaftshilfen entgegen. Als Senat setzen wir auf eine starke und nachhaltige Berliner Wirtschaft. Berlin soll auch in den nächsten Jahrzehnten wettbewerbsfähig sein. Die Berliner Landesregierung fördert deshalb aktiv das Wachstum sowie Unternehmensansiedlungen und –gründungen.
W+M: Wie krisenstabil ist die Berliner Wirtschaft?
Franziska Giffey: Wir kommen vergleichsweise gut aus der durch die Pandemie verursachten Krise. Ohnehin war die Berliner Wirtschaft in sehr unterschiedlicher Weise getroffen: Besonders Gastronomie, Hotellerie, Tourismus, die Veranstaltungs-, Film- und Kulturbranche, aber auch der Einzelhandel hatten mit großen Einschränkungen zu kämpfen. Aber wir sehen in diesen Bereichen glücklicherweise bereits eine deutliche Erholung. Die Stadt ist wieder voll, es kommen fast so viele Gäste wie vor der Pandemie zu uns. Messen wie die ILA und IFA ziehen Tausende von Besuchern an. Berlin hat nichts von seiner Attraktivität verloren. Als Land Berlin fördern wir diese Entwicklung mit unserem Neustart-Programm für die Berliner Wirtschaft und die Kultur mit über 330 Millionen Euro für 2022 und 2023.
Besondere Krisenfestigkeit hat übrigens die Berliner Digitalbranche bewiesen. Sie war mit ihren vielen Produkten und Dienstleistungen gut auf die Anforderungen vorbereitet, vor denen Gesellschaft und Wirtschaft durch die Pandemie standen. Die Krise hat der Digitalisierung insgesamt einen großen Schub gegeben. Homeoffice, digitaler Unterricht, innovative Formen von Onlineshopping, virtuelle Treffen im beruflichen und familiären Kontext, neue Apps für medizinische Zertifikate und Gesundheitswarnungen sowie virtuelle Arztkonsultationen – all diese neuen Instrumente werden bleiben und haben uns insgesamt vorangebracht. Die Digitalwirtschaft ist auch ein wesentlicher Wachstumsmotor mit fast 120.000 Beschäftigten und einem Anteil von 18 Prozent am Berliner Wachstum in den vergangenen sieben Jahren. Man kann sagen: Berlin ist schon heute Startup-Metropole Nummer 1 in Europa.
Dennoch treffen die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auch Berlin, das gilt insbesondere für die Baubranche. Energieversorgungssicherheit, Lieferkettenengpässe, Rohstoffknappheit und Preissteigerungen sind dabei nur die wichtigsten Problemstellungen, die natürlich in erster Linie vom Bund bewältigt werden müssen. Das Land wird hier wo möglich ergänzend zum Bund zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für die Berliner Wirtschaft schaffen.
W+M: Welche Leuchttürme ragen aus der Berliner Wirtschaft hervor?
Franziska Giffey: Berlin ist schon heute eine der größten Wissenschaftsregionen Europas mit international renommierten Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gibt es eine intensive Zusammenarbeit. Im Mai war ich beispielsweise beim Richtfest für zwei moderne Forschungsgebäude am Charité Campus Virchow-Klinikum, wo die Technische Universität, Land und Bund anwendungsorientiert zusammenarbeiten. Stichworte sind „BeCat – Berlin Center für Advanced Therapies“ und „Si-M – Der simulierte Mensch“. Solche Projekte haben auch eine große wirtschaftliche Bedeutung.
Berlin verfügt über zahlreiche moderne Technologiezentren und Zukunftsorte mit wissenschaftsnaher Infrastruktur. Das sind ideale Standorte für junge und technologieorientierte Unternehmen, Leuchttürme, die auch international ausstrahlen. Unter dem Label „innoBB 2025“ entwickeln wir im Rahmen der Metropolregion Berlin-Brandenburg die gemeinsame Innovations- und Clusterstrategie weiter. In den fünf länderübergreifenden Clustern Gesundheitswirtschaft, Informations- und Kommunikationstechnologien mit Medien und Kreativwirtschaft, sowie Verkehr, Mobilität und Logistik, Optik und Photonik und Energietechnik haben wir viele verschiedene Leuchtturmvorhaben zu bieten.
Schwerpunkt auf Investitionen in Klimaschutz und in Klimaanpassungsmaßnahmen
W+M: Die Wirtschaft der Bundesrepublik steht vor einem gewaltigen Umbau in Sachen Klimaschutz. Wie ist Berlin darauf vorbereitet?
Franziska Giffey: Der Klimaschutz ist für uns Querschnittsthema in allen Politikbereichen. Das hat konkrete Konsequenzen für unsere Regierungsarbeit: Alle Senatsvorlagen unterliegen einem Klimacheck, so dass jeweils im Zweifel klimafreundlichere Alternativen in der Abwägung gestärkt werden können. Unsere ambitionierten Ziele werden wir aber nur gemeinsam mit unseren Partnern in Wirtschaft, Industrie, Handwerk und Gewerbe umsetzen können. Wir nutzen die Innovationsförderung bei der Investitionsbank Berlin für die Unterstützung der klimafreundlichen Transformation von Produkten und Unternehmen. Dabei beziehen wir bei der Wirtschaftlichkeitsberechnung von Förderprojekten die Klimakosten mit ein. Als Senat setzen wir einen deutlichen Schwerpunkt auf Investitionen in Klimaschutz und in Klimaanpassungsmaßnahmen unter anderem bei der energetischen Sanierung, dem Solarausbau, der Flächenentsiegelung, dem Stadtgrün, der Begrünung von Dächern und Fassaden und beim Regenwassermanagement.
W+M: Gibt es schon greifbare Fortschritte bei der Modernisierung der Verwaltung, um beispielsweise Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen?
Franziska Giffey: Unsere Verwaltung muss Dienstleister für alle Berlinerinnen und Berliner und natürlich auch für die Unternehmen sein. Sie muss digital, aber eben auch nach wie vor analog erreichbar sein. Unser Ziel ist es deshalb, die Verwaltung auch personell in die Lage zu versetzen, diese Aufgaben bewältigen zu können. Das Thema Verwaltung ist selbstverständlich auch für den gesamten Bereich der Stadtentwicklung und des Bauens wichtig. Im Berliner Wohnungsbündnis haben wir für den Senat zugesagt, Bau- und Planungsverfahren zu digitalisieren und auch zu beschleunigen. Dazu gehört zum Beispiel die digitale Bauakte und der elektronische Wohnberechtigungsschein (e-WBS), die bald an den Start gehen sollen.
W+M: Was braucht eine moderne Verwaltung, um die anstehenden Aufgaben zu aller Zufriedenheit erfüllen zu können?
Franziska Giffey: Das „Unternehmen Berlin“ mit seinen etwa 140.000 Mitarbeitenden muss ein attraktiver Arbeitgeber mit besten Arbeitsbedingungen sein. Das ist eine zentrale Voraussetzung für die funktionierende Stadt. Eine moderne und bedarfsgerechte Verwaltung ist ohne Digitalisierung nicht möglich. Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode mit Ralf Kleindiek erstmals einen Chief Digital Officer eingestellt. Er arbeitet aktuell zum Beispiel daran, unsere rund 30 „Topseller“, also die am meisten nachgefragten Verwaltungsdienstleistungen, zu digitalisieren. Wenn das funktioniert, decken wir etwa 90 Prozent des Bedarfs bei den Anfragen von Bürgerinnen, Bürgern und Wirtschaft. Damit wäre schon sehr viel erreicht. Bei den Bürgerämtern können wir mittlerweile bei fast 40 Prozent der Fälle das 14-Tage-Ziel erreichen.
W+M: Fachkräftegewinnung ist überall ein großes Thema. Auch in Berlin? Hat Berlin besondere Ideen?
Franziska Giffey: Der Fachkräftemangel betrifft uns in Berlin genauso wie überall. Wir merken das auch in unserer Verwaltung, zum Beispiel im Bereich der Lehrkräfte, bei Polizei und Feuerwehr oder im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Schwerer noch wiegt der Fachkräftemangel im Handwerk oder in den Energie- und Klimaberufen, also im technischen Bereich. Hier bleiben jedes Jahr auch sehr viele Ausbildungsplätze unbesetzt.
Als Politik müssen wir hier gegensteuern, soweit wir es können. Der Senat nutzt deshalb alle Instrumente von einer Ausbildungsoffensive bis zur deutlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Gemeinsam mit der Handwerkskammer, mit Verbänden und Innungen haben wir beispielsweise ein Bündnis für und ein Programm zur Verbesserung der Aus- und Fortbildung und der Gewinnung von Fachkräften für baulichen und gebäudetechnischen Klimaschutz entwickelt, dass auch gezielt Menschen ohne Abschluss oder mit fehlenden Grundfertigkeiten einbezieht. Wir werden das Landeskonzept für die Berufsorientierung und berufliche Bildung anpassen und auch an Gymnasien stärker für die duale Ausbildung werben.
Berlin in Ostdeutschland
W+M: Sie waren Bürgermeisterin von Neukölln, dann als Ostdeutsche und Bundesfamilienministerin Mitglied der Bundesregierung. Ist es für die Regierende Bürgermeisterin von Berlin von Relevanz, Ostdeutsche zu sein?
Franziska Giffey: Ich finde es wichtig, dass Menschen aus Ostdeutschland in Führungspositionen des Landes und auch in der Wirtschaft und Wissenschaft präsent sind. Wir sehen hier leider immer noch eine gravierende Unterrepräsentanz. Als ostdeutsche Frau bin ich da schon noch in der Minderheit. Auch bei manchen Debatten, zum Beispiel um Einkommen, Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung, merke ich, ob jemand mit einer ost- oder mit einer westdeutschen Perspektive argumentiert. Insgesamt würde ich also sagen, dass es für mich durchaus eine Relevanz hat.
W+M: Ist Berlin ein Teil Ostdeutschlands?
Franziska Giffey: Geografisch ist das keine Frage. Brandenburg – eines der fünf „neuen Bundesländer“ – umgibt Berlin vollständig. Politisch und gesellschaftlich ist die Frage natürlich komplexer: Berlin war die geteilte Metropole, West-Berlin war Teil der Bundesrepublik und diese Zugehörigkeit war eine Freiheitsgarantie. Das hat genauso Spuren hinterlassen wie die DDR bei den Menschen im Osten der Stadt. Diese doppelte Perspektive gehört zur Identität unserer Stadt. Für die jungen Leute und erst recht für die vielen, die von woanders zu uns gekommen sind, hat das Thema Ost oder West aus meiner Sicht aber kaum noch eine Bedeutung.
W+M: Wie wichtig ist die Kooperation mit den ostdeutschen Nachbarländern? Gibt es besondere Beispiele?
Franziska Giffey: Diese Zusammenarbeit ist außerordentlich wichtig. Das aktuellste Beispiel ist sicherlich, dass wir ostdeutschen Länder in besonderem Maße abhängig von russischen Energielieferungen sind. Denken Sie an die PCK-Raffinerie in Schwedt, die auch den Berliner Raum mit Kraftstoffen und Ölprodukten versorgt. Aber auch bei anderen Themen tauschen wir uns regelmäßig miteinander aus. In der Konferenz der ostdeutschen Ministerpräsidenten, der MPK-Ost, bringen wir Themen nach vorne, die uns aus ostdeutscher Sicht gemeinsam betreffen. Im Juni haben wir uns zu unserer alljährlichen Konferenz auf der Insel Riems in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Bundeskanzler getroffen und neben den Problemen bei der Energieversorgung auch darüber gesprochen, dass Ostdeutschland zum Vorreiter zukunftsträchtiger Investitionen in Schlüsseltechnologien geworden ist. In Berlin planen Bayer und die Charité ein Zentrum für Translation im Bereich der Gen- und Zelltherapien, in Brandenburg hat sich Tesla angesiedelt, in Mecklenburg-Vorpommern das Wasserstoffversorgungsnetzwerk von APEX/Energy, in Sachsen das Mobilfunkfunk-Entwicklungszentrums von Vodafone, in Sachsen-Anhalt der US-amerikanische Chiphersteller INTEL und in Thüringen der chinesische Batteriehersteller CATL – um nur mal ein paar aktuelle Beispiele zu nennen. Beim Thema Wasserstoff wollen will alle zusammen unsere Stärken in Ostdeutschland bündeln und beabsichtigen die Errichtung einer gemeinsamen Interessenvertretung Wasserstoff Ostdeutschland.
W+M: Spielt Brandenburg eine besondere Rolle?
Franziska Giffey: Mit unserem Nachbarland Brandenburg besteht eine besonders enge Verbindung. Es gibt viele Themen, die uns gemeinsam beschäftigen. Wirtschaft und Fachkräfte, Wissenschaft, Wohnen, Sicherheit und Mobilität sind einige davon. Anfang Juni haben Ministerpräsident Dietmar Woidke und ich beispielsweise zu einem Bahngipfel beider Länder nach Potsdam geladen. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Bahn und des Bundes haben wir wichtige zukunftsweisende Vereinbarungen zum Ausbau der Schieneninfrastruktur in der Metropolregion getroffen. Zusätzlich zu unserer bestehenden i2030-Mobilitätstrategie werden wir den Bahnknoten Berlin stärken – durch Kapazitätserweiterung, Gebietserschließung, Taktverdichtung und Digitalisierung. Berlin und Brandenburg stehen jeweils für sich, sind aber auf eine sehr enge Zusammenarbeit angewiesen, die gut funktioniert. Gemeinsam wollen wir die Metropolregion Berlin-Brandenburg zum bedeutendsten Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technologiestandort Europas entwickeln.
Interview: Frank Nehring