Mittwoch, Juli 24, 2024

Zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen

Auch nach über 30 Jahren deutscher Einheit sind die Ostdeutschen in Führungspositionen unterrepräsentiert. Das ist ungerecht. An diesem Thema finden Politiker aus Ostdeutschland und Medien aller Couleur großen Gefallen. Daraus aber immer wieder eine Diskriminierungsdebatte zu machen, darf man auch hinterfragen. Wir haben mit der i-potentials-Geschäftsführerin Constanze Buchheim gesprochen.

W+M: Was sind Ihrer Einschätzung nach die wichtigsten Gründe dafür, dass auch nach 32 Jahren deutscher Einheit Ostdeutsche in der Wirtschaft unterrepräsentiert sind?

Constanze Buchheim: Zum einen haben wir in Deutschland ein offensichtliches Diversity Problem. Machtstrukturen und stereotypische Führungsriegen reproduzieren sich permanent selbst. Besetzungsentscheidungen werden auf Basis des Ähnlichkeitsprinzips getroffen, statt durch rationale Besetzungsprozesse. Gerade in unsicheren Zeiten – das ist wissenschaftlich belegt – sorgen unbewusste Vorannahmen, sogenannte ‘Unconscious Bias’, dafür, dass Unternehmensentscheider:innen offene Stellen nach Ähnlichkeit und damit Bauchgefühl besetzen.

Dies ist umso problematischer, als dass wir noch immer eine Stigmatisierung der ostdeutschen Bevölkerung erleben. Ich habe Menschen getroffen, die ihre Herkunft verheimlicht haben, um nicht in einer Schublade zu landen. Es ist also mehr denn je an der Zeit, neue Wege einzuschlagen, damit sich nicht die permanent gleiche Elite fortlaufend reproduziert.

Als allererstes sollten wir damit aufhören, davon zu sprechen, Ostdeutschland “helfen zu wollen”. Diese Sprache steht sinnbildlich für eine Haltung der Überlegenheit bzw. der fehlenden Gleichwertigkeit. Ja, Strukturschwäche ist ein Problem, aber diese gibt es auch in anderen Regionen. Es ist daher vielmehr Aufgabe der politischen und wirtschaftlichen Entscheider:innen und auch der Medien, das Bild von Ostdeutschland und den Menschen in der Region zu verändern und Arbeitsplätze in strukturschwache Regionen zu bringen, um das vorhandene Potenzial auszuschöpfen. Es müssen Vorbilder mit klarer Verbindung nach Ostdeutschland öffentlichkeitswirksam gemacht werden, denn die gibt es. Nur so können Vorurteile aufgehoben werden, weil Menschen nun mal durch Vorbilder inspiriert werden und solche gut nachahmen können.

W+M: Kann es sein, dass die Zugehörigkeit zu Eliten nichts Erstrebenswertes mehr ist und es dabei einen Clash zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland gibt?

Constanze Buchheim: Ganz grundsätzlich streben im Verhältnis zu Westdeutschland weniger Ostdeutsche nach Führungspositionen, weil sie den Begriff der “Elite” per se ablehnen. Vielerorts gibt es in Ostdeutschland keinen stark ausgeprägten Wunsch, sich hierarchisch abzusondern und einem ausgewählten Kreis anzugehören. Der Wert, der vorrangig gelebt wird, ist die soziale Gemeinschaft und Zusammenhalt. Der Elitebegriff widerspricht diesem wichtigen Grundwert.

Die viel wichtigere Frage, ungeachtet von Ost- und West, lautet allerdings, was die Führungskräfte von morgen eint. Und dieser gemeinsame Nenner beruht auf einem sich ändernden Wertesystem in der Gesellschaft: Für aufstrebende Talente genießen Geld, Macht und Karriere längst nicht mehr so einen hohen Stellenwert wie beispielsweise frei verfügbare Lebenszeit oder Autonomie. Damit Mitarbeitende darüber verfügen können, ist es extrem wichtig, dass Führungskräfte ihnen alle wichtigen Informationen stets zugänglich machen. Das neue Credo für sie lautet daher: Sprich die Wahrheit, damit jede und jeder in der Lage ist, seine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Das bedeutet auch, Probleme so klar anzusprechen, wie man sie sieht, anstatt sich und sein Umfeld in Watte zu packen. Ich bezeichne diese Kultur als „Mature Leadership“, also als „reife“ Führung.

Viel mehr als über die Zugehörigkeit zur Elite zu diskutieren, geht es doch darum, dass Persönlichkeiten, die den aktuellen Herausforderungen etwas entgegensetzen können, Gestaltungsspielräume gegeben werden.  Wir brauchen Persönlichkeiten, die in der Lage sind, Organisationen und Mitarbeitenden den Weg gen Zukunft zu weisen. Zu lange haben wir  in Deutschland Wohlstand mit Fortschritt verwechselt und uns auf den wirtschaftlichen Lorbeeren vergangener Tage ausgeruht.

Das hat durchaus auch mit einem überholten Verständnis von Elite zu tun, in der Personen quasi Kraft ihres Amtes und ihrer Titel entscheidungsbefugt sind. Wir sollten uns davon weg bewegen und hin zu einem neuen Verständnis von Führung.

W+M: Die Eliten sind im Durchschnitt zwischen 50 und 65 Jahre alt. Kann es sein, dass es noch zehn Jahre dauert, bis auch sie in Rente sind und dann wird alles anders?

Constanze Buchheim: Wenn wir unbedingt an dem Elite Begriff festhalten wollen: In zehn Jahren werden zur Elite die Persönlichkeiten zählen, die heute verstanden haben, wie sie Kapital – und dazu zählt in Zeiten des Fachkräftemangels insbesondere das Führen von Menschen – nutzen können und dies in einen gesellschaftlich notwendigen Wandel einbringen und hier Verantwortung in der Gestaltung der Zukunft übernehmen. In zehn Jahren besteht unsere Elite mit Sicherheit nicht mehr aus Persönlichkeiten, die sich hierarchischen Machtstrukturen unterwerfen. Es sind vor allem Unternehmer*innen, die etwas Eigenes auf die Beine gestellt und Neues gestaltet haben, das eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat und zur Lösung der Herausforderungen der heutigen Zeit beiträgt.

Diese Persönlichkeiten werden bereits heutzutage das Heft in die Hand nehmen. Zu groß sind die aktuellen Herausforderungen, als dass wir uns weiterhin wie verzweifelt an das Bewahren des Status Quo klammern können. Jetzt braucht es ein unternehmerisches Mindset, das auf der felsenfesten Überzeugung beruht, die Welt selbst zum Positiven gestalten zu können, ganz gleich wie groß die Herausforderungen auch sind. Solchen Führungspersönlichkeiten gelingt es, Mitmenschen für ihre Mission zu begeistern, indem sie zu 100 Prozent hinter ihren eigenen Werten stehen.

W+M: Welche ausgleichende Rolle könnte Berlin spielen, wenn man die Stadt miterfasst hätte?

Constanze Buchheim: Berlin hat sich zum Zentrum der deutschen Digitalwirtschaft entwickelt. Die Stadt genießt hierzulande eine Vorreiterrolle als Hub für Innovation und Startups. Zugleich machen Entwicklungen in Leipzig oder Dresden Hoffnung auf eine ähnliche Entwicklung. Persönlich bin ich überzeugt, dass viele ostdeutsche Regionen vor einer ausgezeichneten Zukunft stehen, insbesondere wenn wir kollaborativ in ganzen Regionen denken und Stärken zu einem gemeinsamen Narrativ zusammenbringen. Viel besorgniserregender sind eigentlich Regionen, in denen etwa durch die Disruption der Automobilwirtschaft tausende von Arbeitskräften wegfallen. Mich verärgert, wenn ich lese, dass mehr als die Hälfte der ostdeutschen Wirtschaftsentscheider einem Gelingen des Strukturwandels in den neuen Bundesländern skeptisch gegenübersteht.

W+M: Wird daraus eine Self-Fulfilling-Prophecy?

Constanze Buchheim: Meine Botschaft umso mehr: Ändert eure Haltung und nutzt das Potenzial der verschiedenen Regionen! Es ist schon so viel da!

W+M: Wie können ostdeutsche Kompetenzen denn optimal im Sinne einer geeinten deutschen Wirtschaft genutzt werden?

Constanze Buchheim: Wie gesagt sollten wir ganz grundsätzlich alle Regionen im Blick behalten und überlegen, wie wir ihr Potenzial am besten nutzen können. Wir erleben einen massiven Fachkräftemangel, der sich noch verschärfen wird, wenn die Baby-Bommer in Rente gehen. Gleichzeitig ändert sich das Anforderungsprofil an Berufe aufgrund der digitalen Transformation rascher als jemals zuvor.

Menschen ganz gezielt auf die eine passende Stelle auszubilden, ist daher kein realistisches Modell mehr. Zu schnell ändern sich das Umfeld und damit die Anforderungen an eine Stelle, zu rasch ändern sich heutzutage ganze Unternehmen. Der Fokus in der Ausbildung muss daher auf Persönlichkeiten liegen.

Verfügen Organisationen über ausreichend Menschen mit entsprechendem Mindset, entsteht eine Unternehmenskultur, die sie in die Lage versetzt, sich in einer sich permanent ändernden Umwelt stetig anzupassen und weiterzuentwickeln – diese bestenfalls sogar aktiv zum Besseren zu gestalten.

Solche Organisationen, in denen die Unternehmenskultur auf Autonomie, Verantwortung und permanentem Lernen basiert, haben die besten Voraussetzungen, sich in ihrer Arbeit räumlich und zeitlich zu flexibilisieren. Wir selbst haben beispielsweise mit i-potentials ein Büro in Querfurt eröffnet, eine Stadt mit 12.000-Einwohnern in Sachsen-Anhalt. Ich will nur sagen: Das Potenzial schlummert in vielen Orten, die Digitalisierung macht es möglich, dieses effizient zu nutzen. Und damit schließt sich der Kreis: Wir brauchen mehr Flexibilität und Diversität – und eine ganz neue Herangehensweise in der Ausbildung unserer Talente im ganzen Land.

Über Constanze Buchheim

Constanze Buchheim. Foto: i-potentials/Anette Koroll

Constanze Buchheim ist Unternehmerin der ersten Stunde in Deutschlands Digitalwirtschaft und anerkannte Vordenkerin für Future Leadership. 2009 gründete sie mit i-potentials die heutzutage führende Executive-Search-Boutique der DACH-Region und besetzt seither die Spitzenpositionen der Digitalwirtschaft mit zukunftsweisenden Führungspersönlichkeiten. Auch als Aufsichtsrätin und Angel Investorin widmet sich Constanze Buchheim ihrem Kernanliegen, Organisationen die Grundlagen von zukunftsfähiger Führung zu vermitteln. Constanze ist unter anderem aktives Beiratsmitglied des Netzwerks ,,Deutsche Digitale Beiräte” sowie Aufsichtsrätin der „HHL Leipzig Graduate School of Management”. Das Handelsblatt zählte sie 2021 zu den 50 einflussreichsten Frauen der Tech-Branche und wählte sie 2022 unter die 50 besten Unternehmerinnen Deutschlands.

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