Sonntag, Dezember 22, 2024

Stefan Kapferer im W+M-Interview: Ostdeutschland hat gute Voraussetzungen für neue Industrieansiedlungen

Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung von 50Hertz, spricht im W+M-Interview über die Folgen des Ukraine-Konflikts, den Fachkräftemangel in der Energiewirtschaft und den wachsenden Strombedarf in Ostdeutschland.

W+M: Herr Kapferer, das Ende der Atomenergie, der vorgezogene Ausstieg aus der Braunkohle bis 2030 und das Erreichen der Klimaneutralität bis 2045 – geraten diese Ziele der Energiewende angesichts des Krieges in der Ukraine und der hohen Abhängigkeit von Gas- und Ölimporten aus Russland ins Wanken? 

Stefan Kapferer: Die Auswirkungen des Ukraine-Konflikts stellen sicher die größte Herausforderung für die Sicherheit der Energieversorgung in der bundesdeutschen Geschichte dar. Auch deshalb, weil sie nahezu alle Bereiche unserer Wirtschaft treffen: den Transportsektor, den Wärmemarkt, die Industrie, wo die Besorgnis augenblicklich wohl am größten ist.

W+M: Wie groß ist die Gefahr für den Strommarkt?

Stefan Kapferer: Auf dem Strommarkt ist die Abhängigkeit von Importen aus Russland nicht ganz so bedeutsam. Deshalb denke ich, dass wir die Situation gut meistern können. Aber nun ist dringend mehr Geschwindigkeit geboten: bei der Umstellung auf alternative Bezugsquellen von Öl und Gas aus anderen Ländern, beim Ausbau sowohl der Erneuerbaren Energien als auch der Stromnetze und bei der Gewinnung von grünem Wasserstoff. Insofern kann die aktuelle Lage auch eine Chance für Deutschland sein, die Energiewende noch einmal zu beschleunigen.

„… neben den bisherigen Zielen der Energiewende wird auch das Ziel der Energiesouveränität an Bedeutung gewinnen.“

 

W+M: Bildet der Begriff der Energiewende die augenblickliche Entwicklung eigentlich noch richtig ab?

Stefan Kapferer: Mit dem Begriff Energiewende bezeichnete man ja zunächst vor allem den Umstieg von fossilen Energieträgern auf Erneuerbare. Jetzt kommt zu diesem Begriff der Aspekt der Energieunabhängigkeit hinzu. Ich spreche bewusst von Energieunabhängigkeit und nicht von Energieautarkie, weil ich nicht glaube, dass wir in Deutschland in der Energieversorgung völlig autark werden können. Wir werden beispielsweise auch weiterhin Strom aus Skandinavien beziehen und wir werden künftig auch grünen Wasserstoff importieren müssen. Insgesamt wird aber neben den bisherigen Zielen der Energiewende auch das Ziel der Energiesouveränität an Bedeutung gewinnen.

W+M: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte dem Ausbau der Erneuerbaren Energien ja schon vor dem Ukraine-Konflikt höchste Priorität eingeräumt. Was muss nun passieren, damit die Bundesregierung ihre ambitionierten Ziele erreicht? 

Stefan Kapferer: Man muss der neuen Bundesregierung zugestehen, dass sie nicht mehr nur über ihre Ambitionen in der Energiepolitik spricht, sondern auch über konkrete Maßnahmen. Die Frage wird nun sein, wie zügig sie diese wird umsetzen können. Für ein Unternehmen wie 50Hertz verbinden sich damit ganz praktische Fragen, beispielsweise: Können wir unsere Anträge bei der Bundesnetzagentur künftig vollständig digital einreichen? Wird es neue Regelungen zum Artenschutz nicht nur für die Windkraftbranche, sondern auch für die Netzbetreiber geben?

„…im täglichen Verwaltungshandeln die Denkweisen hin zu mehr Geschwindigkeit ändern“

W+M: Wie optimistisch sind Sie, dass solche Fragen nun angegangen werden?

Stefan Kapferer: Bei Bundeswirtschaftsminister Habeck, aber auch beim neuen Geschäftsführer der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sehe ich diesbezüglich gute Signale. Aber es müssen sich auch im täglichen Verwaltungshandeln die Denkweisen hin zu mehr Geschwindigkeit ändern. Das gilt übrigens auch für 50Hertz. Auch wir werden unsere Prozesse beschleunigen müssen.

W+M: Sie rechen mit einem Anstieg des Strombedarfs im Netzgebiet von 50Hertz um 30 bis 40 Prozent bis zum Jahr 2030. Wie realistisch sind diese Prognosen?  

Stefan Kapferer: Ich halte diese Prognosen für sehr realistisch. Wir hatten im Netzgebiet von 50Hertz im letzten Jahr einen Anstieg des Stromverbrauchs um drei Prozent. Das ist noch eine verhältnismäßig geringe Zuwachsrate, aber die Tendenz ist eindeutig erkennbar. Der Zuwachs speist sich u.a. aus dem steigenden Strombedarf im Mobilitätssektor, dem stärkeren Stromeinsatz in der Industrie und der wachsenden Zahl von Wärmepumpen. Wir gehen davon aus, dass wir im Jahr 2030 einen Strombedarf von 140 Terrawattstunden in unserem Netzgebiet abdecken müssen, das wären rund 35 Terrawattsunden mehr als gegenwärtig.

W+M: In welchen Regionen steigt der Strombedarf und können Sie diesen im Netz auffangen?

Stefan Kapferer: Der größte Zuwachs wird sich in der Region Berlin-Brandenburg ergeben. Da spielt die Gigafactory von Tesla eine große Rolle, weil sich im Südosten von Berlin rund um Tesla weitere industrielle Wertschöpfung ansiedeln wird. In Berlin wird der Strombedarf durch die Elektromobilität steigen. Auch im Großraum Leipzig, in der Chipindustrie im Raum Dresden und in Magdeburg rund um die neue Intel-Produktionsstätte gehen wir von einem Wachstum der Strommengen aus. Und nicht zuletzt wird die chemische Industrie im mitteldeutschen Chemiedreieck viele industrielle Prozesse auf Strom umstellen. Wir werden diese Strommengen in unserem Netz integrieren können, aber dazu müssen die Netze schneller ausgebaut werden.

„… Offshore-Windenergie wird unserer Ansicht nach die Schlüsseltechnologie bei der Umstellung auf Erneuerbare Energien sein.“

W+M: Welche Rolle wird der Ausbau der Offshore-Windenergie bei der Deckung des wachsenden Strombedarfs spielen?

Stefan Kapferer: Die Offshore-Windenergie wird unserer Ansicht nach die Schlüsseltechnologie bei der Umstellung auf Erneuerbare Energien sein. Der Wind auf hoher See weht stark und zuverlässig. Deshalb besitzt Offshore-Windkraft von allen Erneuerbaren Energien das größte Erzeugungspotenzial. Zwar versucht Bundeswirtschaftsminister Habeck gerade auch den Anlagenbau an Land voranzutreiben, doch dort gibt es, wie wir alle wissen, große Hindernisse. Bei den Solaranlagen erleben wir geraden einen starken Zubau, doch bei der Solarenergie fallen die Vollaststunden im Gegensatz zur Offshore-Windenergie eher gering aus. Bei der Offshore-Windenergie lassen sich die Projekte viel schneller umsetzen, sowohl technisch als auch was die Genehmigungsprozesse betrifft. Ein starker Ausbau der Offshore-Windenergie in der Ostsee erhöht die Energiesouveränität in Deutschland.

W+M: Welches sind aktuell weitere Herausforderungen, denen sich der Netzbetreiber 50Hertz stellen muss? 

Stefan Kapferer. Foto:50Hertz

Stefan Kapferer: Das Thema Personalmangel darf bei der Umsetzung der Energiewende nicht unterschätzt werden. Dieser zeigt sich schon jetzt in vielen Bereichen: Es fehlen Handwerker zur Installation von Solaranlagen, Elektrotechniker für den Netzausbau, es mangelt an Digitalexperten für die Smartifizierung der Netze und auch an Mitarbeitern in den Tiefbaufirmen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die 50Hertz Transmission GmbH alleine hat im letzten Jahr 200 neue Stellen geschaffen und wir werden dieselbe Anzahl an neuen Personen auch in diesem Jahr einstellen.

W+M: Wo sehen Sie weitere Hindernisse für das Gelingen der Energiewende? 

Stefan Kapferer: Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Fertigung der Produkte, die wir für die Energiewende benötigen. Bei den Solarzellen etwa soll uns eine heimische Produktion nun wieder mehr Unabhängigkeit von den internationalen Märkten ermöglichen. Der Schweizer Konzern Meyer Burger hat mit zwei neuen Werken zur Herstellung von Solarzellen und Solarmodulen in Ostdeutschland den Anfang gemacht. Auf der anderen Seite aber will beispielsweise der Windkraftanlagenbauer Nordex seine Produktion in Ostdeutschland einstellen.

W+M: Viele Branchen leiden gegenwärtig auch darunter, dass es zu massiven Störungen in den globalen Lieferketten kommt. Wie betroffen sind Sie als Stromnetzbetreiber von diesen Störungen?

Stefan Kapferer: Die Ausfälle in den weltweiten Lieferketten machen sich bei uns nicht so stark bemerkbar wie etwa in der Automobilindustrie. Wir stehen immer in einem engen Austausch beispielsweise mit den Kabelherstellern, die aber allesamt in Mitteleuropa produzieren. Deshalb ist für uns, verglichen mit anderen Branchen, die Situation gut beherrschbar.

„… Verfügbarkeit von grünem Strom und grünem Wasserstoff wird künftig wesentlich die Standortfrage bei Industrieunternehmen bestimmen.“

W+M: Tesla hat mit seiner Gigafactory in Grünheide den Anfang gemacht, letzte Woche hat Intel seine Standortentscheidung für Magdeburg bekanntgegeben. Kann Ostdeutschland zur neuen Industrieregion aufsteigen und was bedeutet das für die Stromnetze?  

Stefan Kapferer: Die Verfügbarkeit von grünem Strom und grünem Wasserstoff wird künftig wesentlich die Standortfrage bei Industrieunternehmen bestimmen. Ostdeutschland hat deshalb gute Voraussetzungen für neue Großansiedlungen. Das belegt auch die überdurchschnittlich hohe Zahl an Standortentscheidungen für Ostdeutschland in den letzten Jahren. Wir werden als Unternehmen durch einen vorausschauenden Netzausbau unseren Teil dazu beitragen, dass auch die entsprechende Infrastruktur für solche Ansiedlungen vorhanden sein wird.

W+M: Für den US-Autobauer Tesla war die Geschwindigkeit des Genehmigungsprozesses in Brandenburg von herausragender Bedeutung. Lässt sich das auch auf andere Vorhaben übertragen? 

Stefan Kapferer: Bei Tesla waren die Risikobereitschaft des Unternehmens und die besondere Aufmerksamkeit, die die Landesregierung dem Projekt gewidmet hat, entscheidend für das Gelingen. Ähnliches erleben wir nun bei der Chipfabrik von Intel in Magdeburg. Auch dort ist es wichtig, dass wir nun gemeinsam schnellstmöglich die Energieversorgung sicherstellen. Intels Entscheidung zeigt, welche Attraktivität Standorte gewinnen, wenn Klima- und Industriepolitik zusammen gedacht werden und Unternehmen gemeinsam mutig vorangehen.

Interview: Frank Nehring

50Hertz Stromversorgung für 18 Millionen Menschen

50Hertz Netzquartier Foto 50Hertz

50Hertz betreibt das Stromübertragungsnetz im Norden und Osten Deutschlands und baut es für die Energiewende aus. Das 50Hertz-Netzgebiet umfasst die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen- Anhalt und Thüringen sowie die Stadtstaaten Berlin und Hamburg. In diesen Regionen sichert 50Hertz mit rund 1.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Stromversorgung von 18 Millionen Menschen. Dabei ist 50Hertz führend bei der sicheren Integration Erneuerbarer Energien ins Stromnetz. Bis zum Jahr 2032 sollen es übers Jahr gerechnet 100 Prozent Erneuerbare Energien sein.

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