Angesichts unabsehbarer Folgen für die deutsche Wirtschaft warnt das LBBW Research vor einem überstürzten Gasembargo gegen Russland.
„Verzichten wir wegen des Ukraine-Kriegs auf Gaslieferungen aus Russland, würde dies zu einem Einbruch der Industrieproduktion führen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) könnte zwischen zwei und gut fünf Prozentpunkten einbüßen. Die ohnehin hohe Inflation würde weiter angeheizt“, urteilt LBBW Volkswirt Jens-Oliver Niklasch. Bereits seit dem 22. Februar kostet der Krieg Russlands gegen die Ukraine Menschenleben, Wohngebäude und Infrastruktur. In Europa wird deshalb ein unverzügliches Embargo der EU gegen Energielieferungen aus Russland als Maßnahme diskutiert, die Einnahmen Russlands zu schmälern und so die Ukraine zu unterstützen. Dieses könnte jahrelang Bestand haben, wie Embargos gegen Nordkorea, Kuba oder den Iran zeigen. Allein Deutschland hat im Vorjahr Energieträger wie Öl, Gas und Kohle im Umfang von 25 Milliarden Euro aus Russland bezogen. Kohle-Importe sind bereits ausgesetzt; die Öllieferungen sollen spätestens Ende 2022 enden.
Für Gas wird über ein Embargo laut nachgedacht.
„Öl und Gas sind das Rückgrat der deutschen Energie-Versorgung. Zusammen liefern sie etwa 60 Prozent des Primärenergieverbrauchs in Deutschland“, urteilt der Analyst. Ein
gutes Drittel wird durch Mineralöl gedeckt, Erdgas liefert derzeit rund ein Viertel der Primärenergie. Die große Bedeutung von Russland für Deutschland zeigt eine weitere Zahl. Bislang lieferte das Land 38 Prozent des benötigten Öls und sogar 55 Prozent
des Erdgases. Ein Embargo hätte deshalb zwangsläufig Rationierungen zur Folge, die vermutlich zuerst die Industrie, deutlich später die privaten Haushalte (21 Mio. Haushalte heizen mit Gas) und nur im äußersten Notfall lebensnotwendige Einrichtungen träfen.
Zweitrunden-Effekte bei einem Embargo wahrscheinlich Erhalte ein Industrieunternehmen in der Folge weniger Gas zum Heizen oder als Rohstoff für die Fertigung, bedeute dies nicht nur ebenso große Rückgänge beim Ausstoß, warnt Niklasch. „Wer für seine Anlagen eine Gasversorgung von 50 Prozent der Normalversorgung benötigt, um überhaupt Produktionsanlagen betreiben zu können, dem nützt eine Versorgung von 49 Prozent
so viel wie 0 Prozent, nämlich nichts.“ Träfe es die Grundstoffchemie, könnte sich dieser Effekt durch die gesamte Wirtschaft fortpflanzen. Nach dem Ende der Krise könnten
Industrieunternehmen den Standort Deutschland zugunsten von Standorten mit einer höheren Versorgungssicherheit aufgeben.
Einen kurzfristigen Ersatz für russisches Erdgas gibt es nicht.
Förderländer wie Norwegen oder Niederlande, die direkt an das europäische Pipelinenetz angeschlossen sind, können ihre Erdgasproduktion nur geringfügig ausweiten. Eine Beschaffung von Flüssigerdgas (Liquified Natural Gas, LNG), das Tankschiffe aus Katar, den USA oder Australien nach Europa bringen müssten, sei kurzfristig nicht in der erforderlichen Menge möglich und mittelfristig nur deutlich teurer. Aus deutscher Sicht könnte die heimische Produktion zwar durch Fracking ausgeweitet werden, doch stehen dem erhebliche Bedenken wegen der möglichen Grundwasserverschmutzung entgegen.
Wenig Erwartungen hat Analyst Niklasch an Substitutions- und Einsparmöglichkeiten: „Ein kurzfristiger Stopp der Einfuhr würde dennoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu Versorgungs-Engpässen in Deutschland führen.“
Kalte Öfen heizen die Inflation an
Eine bedenkliche Folge eines Embargos ist bereits sicher. Die ohnehin hohe Inflation dürfte mit einem Lieferstopp weiter ansteigen, denn in der Folge dürfte sich Erdgas aus anderen
Quellen deutlich verteuern. „Das ist kaum zu verhindern“, urteilt der Experte. Er rät dazu, die steigenden Preise für private Verbraucher und Industrie als Anreiz zum Energiesparen wirken zu lassen und einkommensschwache Haushalte durch Heizkostenzuschüsse vor einem Abrutschen unter das Existenzminimum zu bewahren.
Als Folgen des Ukraine-Kriegs und der bereits verhängten Sanktionen gegen Russland rechnet das LBBW Research im laufenden Jahr nur noch mit 2,2 Prozent Zuwachs beim
Bruttoinlandsprodukt (BIP). Trotz der wenig rosigen Aussichten hält Jens-Oliver Niklasch ein Trostpflaster parat. Die europäische Wirtschaft habe in der Corona-Pandemie ein erstaunlich hohes Maß an Anpassungs-Fähigkeit unter Beweis gestellt. Wer habe gedacht, dass der Arbeitsmarkt im Euroraum sich so schnell erhole und der Wirtschaft nach dem Einbruch im zweiten Quartal 2020 eine so eindrucksvolle Erholung gelinge?
Die vollständige Studie finden Sie hier:
www.lbbw.de/2022-studie-ukraine-gasembargo