Das ist der dritte Beitrag der W+M-Serie Work + Life. Johannes Grassl, Experte und Berater rund um den Bereich Führung, widmet sich im aktuellen Beitrag dem Thema „Was regiert mich wirklich?“.
Der Manager, der mir im Coaching gegenübersitzt, kommt direkt zum Punkt. Er leide darunter, erzählt er, dass er für das, was ihm eigentlich wichtig ist, zu wenig Zeit habe. Neben einer verantwortungsvollen beruflichen Position berichtet er von diversen ehrenamtlichen Engagements, die fast jeden Abend der Woche mit Terminen belegen. Die vielen Jobs ließen keinen Raum für die Familie und sich selbst. Frau und Kinder, soziale Kontakte und Hobbys seien ihm zwar wichtig, kämen aber immer zu kurz. Auf meine Frage, warum er sich so viel aufhalse, folgt zuerst einmal ratloses Schweigen…
Wir stecken in einem Dilemma. Bestseller-Autor Peter Scazzero beschreibt die Zwickmühle, die viele von uns nur zu gut kennen: „Wenn ich Führungskräfte frage: Was ist das Wichtigste in deinem Leben? sagen viele ‚Ehe und Familie‘. Wenn ich sie dann frage, wie viel Zeit sie in Partner und Kinder investieren, kommen diese aber ziemlich weit hinten auf der Agenda.“ Viele leiden an der Diskrepanz zwischen dem, was ihnen wichtig ist (=Werte) und dem, was sie tatsächlich leben. Wunsch und Wirklichkeit driften auseinander. Dieses Spannungsfeld haben wir nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern auch in Unternehmen und Organisationen. Unsere Leitbilder sind voll mit den wohlklingendsten Werten. Was davon gelebt wird, ist eine ganz andere Frage. Unser Problem ist nicht, dass wir nicht wüssten, was wir wollen. Unser Problem ist die Umsetzung. Es mangelt nicht an Werten, sondern am Tun. Woran liegt das?
Wir haben keinen Mangel an Werten. Das Problem ist die Umsetzung.
Die folgende Grafik, bekannt als Franklin-Pyramide, liefert Hilfestellung. Ganz oben stehen unsere täglichen Aufgaben, die sich (im Idealfall) aus unseren kurz- und langfristigen Zielen ergeben. Das ist all jenes, was unsere Agenda füllt und womit wir jeden Tag unsere Zeit verbringen. Gesteuert wird dies von unseren leitenden Werten bzw. inneren Treibern. Sie bilden das Fundament und wirken vor allem unter der Oberfläche. Mit anderen Worten: Was wir täglich tun, ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Was uns wirklich ausmacht und antreibt, liegt in unserer Persönlichkeit.
Um unser Handeln zu verstehen, müssen wir uns als Person verstehen. Welche Werte leiten mich? Was sind meine inneren Treiber? Nicht Nein sagen können? Die Erwartungen anderer erfüllen wollen? Ein überzogenes Verantwortungs- und Pflichtgefühl? Anerkennung gegen Leistung? Angst? Diese Einflussfaktoren und Prägungen kommen oft aus unserer Kindheit. Der Harvard Business Manager geht in seiner aktuellen Ausgabe genau dieser Thematik nach. Titel-Thema: „Welchen Einfluss unsere Kindheit auf die Karriere hat“ (Ausgabe 4/2022). O-Ton: Die Geister der Vergangenheit (Einstellungen, Glaubenssätze und Verhaltensweisen, die sich aus der Familiendynamik unserer Kindheit entwickelt haben) begleiten uns bis in die Gegenwart – und ins Büro. Was uns wirklich regiert, sind also nicht unsere Werte, sondern unsere Geschichte. Was uns davon abhält, das zu tun, was wir als wichtig und gut erkennen, liegt oft an tieferen inneren Mustern. Deshalb lohnt es sich, genau hinzuschauen.
Wenn das, was uns wichtig ist, in unserer Agenda nicht zum Ausdruck kommt, dann werden wir gelebt!
Mit etwas Mut zur Reflexion und den richtigen Fragen können wir falsche Treiber entlarven und Klarheit schaffen. Wir können über folgendes nachdenken:
- Warum tue ich, was ich tue? Was ist mein tatsächliches Motiv dafür, bestimmte Aufgaben zu übernehmen?
- Passt meine Lebenspraxis mit dem zusammen, wofür ich wirklich leben will?
- Anders ausgedrückt: Entspricht das, was ich täglich tue, meinen Sehnsuchts-Werten?
- Habe ich Zeitfenster für das, was mir wichtig ist (Partner, Kinder, Freunde, Hobbys) fest in meinen Kalender eingetragen?
- Lassen mir meine Aufgaben und Tätigkeiten im äußeren Kreis (Karriere) genügend Raum für die beiden inneren Kreise (Beziehungen und Persönlichkeit)?
Wenn wir uns Zeit nehmen, über diese Fragen nachzudenken und das, was uns wichtig ist, fest in unseren Kalender eintragen, kann uns das helfen, Wunsch und Wirklichkeit besser zu verbinden. Übrigens: In zahlreichen Begegnungen mit Unternehmern und Führungskräften habe ich noch nie jemanden sagen hören: „Wenn ich zurückschaue, bereue ich, zu viel Zeit mit meinem Partner und den Kindern verbracht zu haben“. Das Gegenteil davon aber höre ich ziemlich oft.
Der Autor:
Johannes Grassl ist CEO der Leaders’ Integrity Foundation, Berater für Führungskräfte und Ermutiger aus Leidenschaft. Seit 20 Jahren ist er als Impulsgeber rund um Leadership, Selbstmanagement und erfolgreiche Karrieregestaltung im ganzen deutschsprachigen Raum aktiv. Mehr unter www.johannesgrassl.com und www.lif.ch.