Montag, November 25, 2024

Ostbeauftragter Carsten Schneider: „Ich möchte die spannenden Geschichten sichtbar machen“

Mit der neuen Regierung gibt es einen Ostbeauftragten, der Staatsminister im Bundeskanzleramt ist. W+M sprach mit Carsten Schneider (SPD) über die vor ihm liegenden Arbeit und erste Erfahrungen.

W+M:  Herr Staatsminister, Sie sind jetzt seit Dezember 2021 im Amt des Ostbeauftragten. Sind Sie schon angekommen?

Carsten Schneider: Die letzte Umzugskiste ist ausgeräumt, der Mitarbeiterstab ist zwar noch im Aufbau, aber für mich persönlich kann ich das bejahen, denn es ist kein Neuland für mich, sondern nur ein Seitenwechsel vom Parlament in die Regierungszentrale. Die Themen sind mir nicht neu ich fühle mich gut unterstützt hier im Kanzleramt, aber auch bei den Unternehmen und in der Bevölkerung.

W+M: Wo sehen Sie die eigentlichen Aufgaben des Ostbeauftragten, wo wollen Sie persönliche Akzente setzen?

Carsten Schneider. Foto: W+M

Carsten Schneider: Ich möchte die spannenden Geschichten, die Andersartigkeit des Ostens und die Graustufen sichtbar machen, um von diesem plumpen Schwarz-Weiß-Bild „Stasi, Nazis, Doping“, das in einigen bundesdeutschen Medien gepflegt wird, wegzukommen. Wir haben hier unfassbar engagierte Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben, Menschen, die sich trotz aller Unwägbarkeiten immer wieder aufrappeln und erhobenen Hauptes durch die Welt gehen. Wenn das in ein positives Selbstbewusstsein mündet und nicht in einen Trotz, wie in Teilen beim Thema Impfen, das wäre mein Ziel.

Die Grundsteine für die Wirtschafts- und Sozialpolitik sind gelegt, das werde ich noch verstärken mit Partnern aus der Wissenschaft und durch Forschungskoordinierung zum Beispiel beim Thema Wasserstoff.

Und wenn es in manchen Ministerien Probleme geben sollte, werde ich eingreifen und versuchen, das zu korrigieren. Ein Großteil meiner Arbeit ist aber auch Übersetzungsarbeit von hier nach Erfurt und Rostock und auch umgedreht nach Essen und Osnabrück.

W+M: Was bringt die Aufwertung des Amtes durch die Zuordnung zum Bundeskanzleramt konkret?

Carsten Schneider: Diese Entscheidung folgt einem klaren Bekenntnis von Olaf Scholz, der damit dem Osten eine größere Sichtbarkeit geben wollte und für die tägliche Arbeit macht es vieles einfacher. Im Bundeskanzleramt laufen alle Drähte zusammen. Jede Entscheidung im Kabinett hat einen langen Vorlauf, in den immer das Kanzleramt eingebunden ist. Und so kann ich mich dank der Unterstützung von Olaf Scholz bzw. der Autorität des Amtes auch orientierend einbringen. Für die ersten drei Monate kann ich sagen, dass es sich gut anlässt.

W+M: Sie wurden mit den Worten zitiert, dass Ostler schlecht Kompromisse aushandeln können? Hätte man es anders ausdrücken können?

Carsten Schneider: Ja, das ist ein missverstandener, verkürzter Satz, den ich allerdings selbst verkürzt habe. Gemeint war, dass die Ostdeutschen an der Aushandlung gesellschaftlicher Kompromisse weniger beteiligt sind, weil sie sich in vielen gesellschaftlichen Strukturen nicht wiederfinden. Wir haben vergleichsweise wenige Mitglieder in den Parteien und damit auch Probleme, Kandidierende für die Parlamente auf allen Ebenen zu finden. Aber die Willensbildung in Deutschland passiert nun mal maßgeblich über die Parteien. Damit sind viele Ostdeutschen von dieser Willensbildung ausgeschlossen. Das habe ich damit ausdrücken wollen. Ich habe aus der Diskussion um diesen Satz gelernt. Ich will mir eine authentische und klare Sprache erhalten, ohne zu viel Spielraum für Interpretationen zuzulassen.

W+M: Sind die Unterschiede zwischen Ost und West noch sehr groß oder nur groß gemacht? Werden sie verschwinden?

Carsten Schneider: Das kommt darauf an. In den ökonomischen Fragen, beim Lohn, beim Vermögen sind die Unterschiede noch groß, beim Selbstbewusstsein der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenso. Es mangelt oftmals am Bewusstsein für die eigene Verhandlungsposition, am Auftreten als selbstbewusste Akteure. Das sind die Resultate der 90er und 2000er Jahre, die jetzt aber zunehmend überwunden werden.

Im kulturellen Bereich sind die Unterschiede auch vorhanden, aber hier finde ich das überhaupt nicht schlimm, sondern eher eine Bereicherung für unser plurales Land. .

Für mich ist der Arbeitsmarkt der Schlüssel: Anständige Bezahlung und anständiger Umgang mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmern. Da haben viele Unternehmer noch Nachholbedarf. Warum? Weil man es lange Zeit nicht musste. Es gab genügend Arbeitskräfte, exzellent ausgebildet und hoch motiviert.  Jetzt müssen sich alle sehr bemühen, um Arbeits- und Fachkräfte zu finden, wenn wir im internationalen Wettbewerb mithalten wollen.

W+M: Ihr Vorgänger ist an vielen Ostdeutschen fast verzweifelt, sie wollen runde Tische. Wollen Sie mit allen ins Gespräch kommen?

Carsten Schneider. Foto: W+M

Carsten Schneider: Sicher gibt es regionale Unterschiede zwischen dem Erzgebirge und Erfurt oder Neubrandenburg. Die runden Tische sehe ich als Format für Diskussionen. Ich erlebe eine Spaltung bis in die Familien hinein über kulturideologische Themen. Erst ging es um Geflüchtete, jetzt um Corona. Das bereitet mir Sorge. Ich dachte zum Beispiel, dass wir beim Impfen im Osten vorn dabei sein würden, weil wir das kennen und insofern kein Problem damit haben. Wir sehen aber eine lautstarke Minderheit, die sich auf der Straße gegen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit wendet und dabei teilweise auch einen tiefersitzenden Trotz zum Ausdruck bringt. Deshalb möchte ich diese Gesprächssituationen schaffen, die dann auch außerhalb der sozialen Medien stattfinden, wo oft nur der Frust abgelassen wird. Die Runden Tische sollen ein Symbol dafür sein, alle gesellschaftlichen Gruppen wieder an einen Tisch zu bekommen und eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

W+M: Sind die Ostdeutschen besser auf die Transformation vorbereitet als die Westdeutschen?

Carsten Schneider. Foto: W+M

Carsten Schneider: Wer erlebt hat, wie ein ganzes System zusammenbrechen kann und danach etwas Neues beginnt, hat Erfahrungen gemacht, die für viele Westdeutsche gar nicht vorstellbar sind. Dort ging es in den letzten 70 Jahren nur aufwärts und der Wohlstand hat sich kontinuierlich entwickelt. Ich habe drei politische Krisen erlebt, 2008 die Finanzkrise, die Eurokrise 2010 – 2012, wo unsere Währung wirklich auf der Kippe stand und dann die Flüchtlingskrise. Aber ich war immer überzeugt davon, dass wir eine Lösung finden, während andere fast verzweifelt sind. Ich würde sagen, wir nehmen die Herausforderungen an.

Nicht jeder hat mit den Veränderungen seine positiven Erfahrungen und die ostdeutsche Gesellschaft ist schon in Teilen eine erschöpfte Gesellschaft. Die Menschen wollen auch einmal Ruhe haben, denn es hat sich so vieles geändert.

Dazu kommt, dass wir im Durchschnitt eine alternde Gesellschaft sind. Der Schlüssel sind junge Leute. Wir brauchen sie aus allen Teilen Deutschlands und der Welt und nur, wenn wir die Offenheit dafür haben, wird das hier etwas werden.

Interview: Frank Nehring

 

 

 

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