Donnerstag, April 18, 2024

W+M-Kommentar: Sind die Ostdeutschen die besseren Transformer?

Ein Kommentar von Frank Nehring.

Mit der ostdeutschen Wirtschaft geht es bergauf. Diese Wirtschaftsregion ist ein klares Beispiel für eine gelungene Transformation. Lange wäre zu diskutieren, ob bei der anfänglichen Schocktransformation nicht zu viele Kollateralschäden in Kauf genommen wurden, ob man dieses oder jenes hätte anders machen sollen, ob die Treuhandanstalt eine gute Idee war und gute Arbeit leistete. Das Ergebnis aus über 30-jähriger Transformation kann sich sehen lassen, wenn man die Augen offen hat. Ostdeutschlands Wirtschaft kann auf gute Standortbedingungen verweisen, bietet Räume für Zukunftstechnologien, die die Ansiedlungen moderner Zukunftsunternehmen attraktiv machen. Hier sind die erneuerbaren Energien gelebte Praxis, hier bahnt sich E-Mobility seinen Weg.

Stellt sich die Frage, ob die Ostdeutschen aufgrund ihrer Erfahrungen, die wahrhaft nicht immer nur positiver Art und schmerzfrei waren über eine gelernte Transformationskompetenz verfügen, die angesichts der bevorstehenden Herausforderungen in Deutschland, Europa und der Welt zu einem unschätzbaren Vorteil wird.

Dafür spricht die Erfahrung der Transformation. Prof. Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz betont, dass Erfahrung sich zwar auf Erleben gründet, aber Kompetenz auf erlerntem und anwendungsbereitem Wissen beruht, das nicht unbedingt erfahrungsbasiert sein muss. Damit ist auch gleich geklärt, dass nicht alle Ostdeutschen zur potenziellen Gruppe der gesuchten Transformationstreiber gehören können. Und dennoch behaupte ich, dass persönliche Erfahrung stärker wiegt als angelerntes Wissen. Ideal ist die Kombination aus beidem.

Es kommt auf die Qualität der Erfahrung an.

Zu Wendezeiten verloren viele in Ostdeutschland ihren vormals sicheren Arbeitsplatz mit all den sich daraus ergebenden sozialen Folgen. Dies ging durch alle Schichten der Bevölkerung, man spricht von über 40 Prozent der Ostdeutschen, die sich beruflich neu orientieren mussten. Viele haben diese Neuorientierung nicht hinbekommen, manchmal lag es am Alter, an der Qualifikation, an der inneren Einstellung und oft genug auch an mangelnden Alternativen. Diese negativen Erfahrungen sind zumindest für die Betroffenen in keiner Weise als anwendungsbereite Kompetenz für künftige Transformationen verfügbar. Hier wirkt eher das Gegenteil, Veränderungen werden grundsätzlich als bedrohlich wahrgenommen. Was hier gerade so typisch ostdeutsch klingt, ist aber durchaus normal. Der Veränderungswille ist generell nicht so verbreitet, wie der Wunsch nach Kontinuität.

Aber wie so oft, stehen Minderheiten mehr im öffentlichen Fokus als die Mehrheit.

Die Mehrheit der Ostdeutschen hat nach der Wende eine Verbesserung der Lebensqualität erfahren, hat in neuen Berufen neue Herausforderungen gemeistert und ist sich dieser erfolgreichen Entwicklung auch bewusst.

Wichtig hinsichtlich Transformationserfahrung und -kompetenz dürfte auch die Altersgruppe sein. Die aktiv von der Wende betroffenen Jahrgänge sind die von 1950 bis Ende der 60-ger Jahre Geborenen. Ihre Kinder, heute oft als Wendekinder bezeichnet, haben weniger die gelebte DDR-Erfahrung und die direkte Wendebetroffenheit, aber sie haben die Wendebiografien ihrer Eltern direkt erlebt und sind damit auch geprägt worden. Ist es also die Generation der Wendekinder der Jahrgänge 1970 bis Mitte der 90-ger Jahre, die es nun bringen kann? Durchaus möglich, wenn Sie von ihren Eltern gelernt haben, dass Veränderungen der Alltag und per se als Chancen zu verstehen sind. Selbst die Nachwendekinder, also die nach 1990 Geborenen dürften von diesen Erfahrungen der vorangegangenen Generationen profitieren. Die Wendegeneration geht jetzt in den Ruhestand, die nachfolgenden Generationen übernehmen.

Zusammenfassend denke ich, dass tatsächlich viele Ostdeutsche eine überdurchschnittliche Transformationskompetenz besitzen, begründet auf den eigenen Transformationserfahrungen und denen der Eltern und Großeltern. Die Folge wäre, dass die ostdeutsche Herkunft  kein Makel, sondern eine besondere Stärke ist, die gerade in Zeiten großer Veränderung nachgefragt sein sollte. Das setzt ein Selbstverständnis bei den Ostdeutschen voraus und dann natürlich auch die entsprechende Erkenntnis in HR-Bereichen. Damit könnte sich die Diskussion um die zu wenigen Ostdeutschen in Führungspositionen von selbst auflösen.

 

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