Sonntag, Mai 19, 2024

Marco Wanderwitz: “Auch im vereinten Deutschland braucht es nach über 30 Jahren noch den besonderen Blick auf die Situation in den neuen Ländern”

Der scheidende Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz spricht im W+M-Interview über die besonderen Herausforderungen, die er zu bestehen hatte und was er dem künftigen Ostbeauftragten mit auf den Weg geben möchte.

W+M: Wie bewerten Sie Ihre Zeit als Ostbeauftragter?

Marco Wanderwitz: Ich würde die Zeit in diesem Amt als kurz, aber intensiv bezeichnen. Wie Sie wissen, habe ich erst im Februar 2020 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer übernommen. Ich hatte mir vorgenommen, noch stärker den direkten Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Ländern zu suchen. Das war aufgrund der Corona-Pandemie in der angedachten Form von Bürgerdialogen in der Fläche leider nicht möglich. Gleichwohl konnten viele Veranstaltungen umgestellt und in digitaler oder hybrider Form durchgeführt werden. Zu nennen sind hier beispielsweise die „Digitalen Erzählsalons“, in denen Menschen verschiedener Generationen über ihre Erfahrungen in der DDR und in der Zeit seit der Wiedervereinigung erzählt haben. Wichtig war für mich auch die Arbeit in der Regierungskommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Hier haben wir vielfältige Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung für weitere Schritte auf dem Weg der inneren Einheit formuliert, die es nun umzusetzen gilt. Neben dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit mit dem Jubiläumsjahresbericht fiel auch die Überführung des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv in meine Amtszeit. Ganz besonders freue ich mich, dass der Wettbewerb „Machen“, der bürgerschaftliches Engagement in den neuen Ländern unterstützt, inzwischen so viel Resonanz findet.

W+M: Was waren die größten Herausforderungen?

Marco Wanderwitz: Ganz klar die Beschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie. Diese haben den direkten Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern stark eingeschränkt. Dabei sind solche Gesprächsformate vor Ort aus meiner Sicht unglaublich wichtig. Von Angesicht zu Angesicht kann man viel ungezwungener miteinander reden, besser erklären und mit Vorurteilen aufräumen. Es gibt viele Gesprächskreise, die vornehmlich in den Hauptstadtregionen angesiedelt sind. Meine Idee war daher, gezielt in ländliche Regionen und Kleinstädte zu fahren und dort das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern sowie der lokalen Politik im Werkstattformat zu suchen. Umfangreiche und sehr wichtige Themen waren die Maßnahmen zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wie das Gesamtdeutsche Fördersystem für strukturschwache Regionen, dass wir seit 2020 am Start haben und das gut läuft. Aber auch die vielen Neuansiedlungen von ostdeutschen Behördenstandorten sind gut gelungen, jüngst noch eine neue des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle je in Borna und Merseburg. Noch keine Bundesregierung war hier so erfolgreich!

W+M: Was geben Sie dem nächsten Ostbeauftragten mit auf den Weg?

Marco Wanderwitz: Aus meiner Sicht braucht es auch im vereinten Deutschland nach über 30 Jahren noch den besonderen Blick auf die Situation in den neuen Ländern. Der Erhalt und die Vertiefung der inneren Einheit Deutschlands sind Aufgaben, die sich den politisch Handelnden stets aufs Neue stellen. Dazu gehört die Auseinandersetzung in Ost und West mit dem Leid der Opfer der Diktatur und den Erfahrungen mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation im Rahmen der Deutschen Einheit. Eine in den neuen Ländern – im Vergleich zu den alten Ländern – deutlich größere Minderheit weist eine skeptischere und distanziertere Grundeinstellung gegenüber der Demokratie und der Politik bis hin zu extremistischer Ablehnung auf. Die Demokratie und die Demokratinnen und Demokraten haben es leider immer noch schwerer im Osten. Dem können wir nur begegnen, indem wir den Menschen immer und immer wieder vor Augen führen, dass ein selbstbestimmtes Leben nur in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglich ist. Vor allem jeder neuen jungen Generation. Wir haben zukünftig immer mehr große Herausforderungen in Ost und West, Nord und Süd gemeinsam zu meistern, wie zum Beispiel die Digitalisierung, den demografischen Wandel und den Klimawandel. Diese gemeinsamen Herausforderungen treffen aber weiterhin auf regional recht unterschiedliche Voraussetzungen. Für eine politische Strategie zur zukünftigen Entwicklung unseres Landes ist es deshalb wichtig zu fragen: Mit welchen Vor- oder Nachteilen begegnen die Regionen in Deutschland den Herausforderungen des Strukturwandels? Und wie können wir verhindern, dass sich Nachteile weiter verfestigen und Abstände zementiert werden? Dadurch werden sich Schwerpunkte einer oder eines Beauftragten verschieben und die Aufgabe des Erhalts und der Vertiefung der inneren Einheit Deutschlands zunehmend auch eine gesamtdeutsche Perspektive erfordern. Die nächste Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen werden die richtigen Schlüsse ziehen.

 

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