Im exklusiven W+M-Interview spricht Michael Müller, der Regierende Bürgermeister Berlins über Berlins Chancen, die aktuelle Krise erfolgreich zu meistern, die Rolle Berlins in Ostdeutschland, das Wahljahr 2021 und seinen Abschied aus der Berliner Landesregierung.
W+M: Herr Müller, wie hat sich die Arbeit des Regierenden Bürgermeister in der Krise verändert?
Michael Müller: Es sind weiterhin ausgefüllte Arbeitstage mit täglich 12 Stunden und mehr. Was komplett weg ist, das sind die vielen Abendveranstaltungen, die Ausstellungseröffnungen, die Grußworte und ähnliches, die ja auch zu den Aufgaben eines Bürgermeisters gehören. Jetzt sind die Tage zu 80 bis 90 Prozent mit Video- und Telefonschalten ausgefüllt, also oft sechs Schalten pro Tag.
W+M: Aktuell sind Sie der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, einer Runde, die es schon immer gab, sich aber in der Krise zu einem prominenten Ereignis mit höchstem Aufmerksamkeitswert entwickelt hat. Was ist dort Ihre Aufgabe?
Michael Müller: Als Vorsitzender der MPK hat man vornehmlich eine koordinierende und moderierende Rolle zwischen den Bundesländern und dem Kanzleramt, kann aber auch eigene Akzente setzen. Es gilt, Meinungen und Positionen einzuholen, Kompromisslinien zu entwickeln. Aber auch die Kommunikation gehört dazu, denn aus den Beratungen ergeben sich Beschlüsse mit unterschiedlichsten Folgen für viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und auch für die Wirtschaft. Dies über das Bundeskanzleramt hinaus in die Länder bis hin zu den Kommunen und Städten zu kommunizieren ist ein wichtiges Thema.
W+M: Sind die MPs in Zeiten der Krise enger zusammengerückt oder wird mehr gestritten?
Michael Müller: Die Runden hatten auch schon vor der Krise immer mal brisante Themen zu besprechen. Sei es die Flüchtlingspolitik oder der Länderfinanzausgleich. Jetzt wird sie mehr wahrgenommen, weil die Beschlüsse so unmittelbare Folgen haben, aber es ging schon immer sowohl um die Vertretung der Interessen des eigenen Landes als auch darum, Deutschland gut zu positionieren.
W+M: Gehört Berlins Wirtschaft zu den Gewinnern oder den Verlierern der Krise? Wie kommt Berlins Wirtschaft durch die Krise?
Michael Müller: Wir können unterm Strich ganz zuversichtlich sein, weil wir im Wissenschaftsbereich und insbesondere im Bereich der Gesundheit stark sind. Charité, Vivantes, Sanofi, Pfizer, Bayer und andere – das sind jetzt die Hauptakteure, die international beachtet werden. Hier geht es um Zukunft und das hilft uns sicher auch, gut aus der Krise zu kommen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es von Branche zu Branche sehr unterschiedlich ist, für die Gastronomie und den Einzelhandel beispielsweise ist es eine bittere Situation.
W+M: Wo liegen Berlins Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen?
Michael Müller: Es sind viele Zukunftsthemen und -technologien, die eng mit der Wissenschaft verknüpft sind und sich für Berlin als Chance darstellen. Die Schnittstelle zu Wissenschaft und Forschung spielt immer eine Rolle, auch jenseits von Gesundheit. Gerade bei den Themen Künstliche Intelligenz, Energie und Mobilität ist noch viel Musik drin. Hier erwähne ich nur die Aktivitäten von Siemens Energy, wo es um die Energieversorgung der Zukunft geht oder ein Thema, das alle Metropolen beschäftigt, die Mobilität. Hier befinden sich eine Vielzahl der Akteure vor Ort. Das reicht von der TU Berlin über BMW und Mercedes bis hin zu VW Digital Lab, die sich mit diesen Zukunftsthemen befassen.
W+M Welche Defizite aus der Krisenvorzeit holen uns jetzt besonders ein?
Michael Müller: Das Thema Digitalisierung. Wir sind da zwar nicht Einzigen, alle Bundesländer machen gerade diese Erfahrung. Bei uns betrifft es vor allem den Schulbetrieb, aber auch Defizite in der Verwaltung und an den Schnittstellen zur Wirtschaft. Wir müssen uns eingestehen, dass uns die Sparjahre eingeholt haben, wo wir in der Verwaltung zu wenig in Hardware und in Schulungen investiert haben. Es wird jetzt klar, welche Mittel wir einsetzen müssen, um über viele Jahre aufzuholen.
W+M: Lag es tatsächlich nur am Geld?
Michael Müller: Geld spielt da schon eine Rolle. Wenn sie nicht in ihr Produkt investieren und unser Produkt heißt Dienstleistung, dann entwickeln sie es nicht weiter. Aber Sie haben recht, ich muss das selbstkritisch zugeben, wir haben uns in den letzten 20 Jahren in Berlin über Finanzen, Bauen, Wissenschaft und über Bildung verständigt, haben aber kaum mitgedacht, dass die Ertüchtigung der Verwaltung dazu gehört. Es war immer ein Themenkomplex, der auch zu bedienen war, aber ihn ganz selbstverständlich in die Schwerpunktsetzungen einzubeziehen, das war leider nicht der Fall.
W+M: Was wurde bisher in der Krise für die Wirtschaft getan, was nicht nur Katastrophenhilfe ist, sondern zukunftsweisend?
Michael Müller: Wir haben mittlerweile einen Produktkatalog mit mehr als 20 verschiedenen Maßnahmen und Strukturen zur Unterstützung der Wirtschaft. Hervorheben möchte ich die Digitalisierungsförderung für kleine und mittelständische Unternehmen. Das ist eine Förderung, die in der Krise hilft und gleichzeitig den Unternehmen neue Perspektiven schafft.
Ein zweiter Bereich, und das mag manche verwundern, sind Unterstützungsprogramme für den Medien- und Filmbereich. Gerade die Filmindustrie in Berlin ist so wichtig auch wegen der Investitionen und Arbeitsplätze, aber auch für Internationalisierung, den Tourismus und Werbemöglichkeiten über Filme, die Stadt zu präsentieren. Hier wurden mit Hilfe verschiedener Programme Mittel in Höhe von insgesamt 17,5 Millionen Euro bereitgestellt. Die Mittel aus der Soforthilfe IV kommen da noch hinzu.
W+M: Mit der Krise erlebt die Wissenschaft einen Aufschwung in Sachen Anerkennung. Wie kann dieses Ansehen verstetigt werden?
Michael Müller: Genau dieses Thema bewegt uns auch. Es geht darum, die Bedeutung der Wissenschaft deutlich zu machen, zu erklären wie sie arbeitet und die Menschen für sie zu begeistern. Dafür haben wir in Berlin bereits verschiedene Formate wie die Lange Nacht der Wissenschaften, die Science Week, die Falling Walls Konferenz und den Global Health Summit. Die Welt der Spitzenforschung kommt nach Berlin, um sich hier mit Zukunftsfragen zu beschäftigen.
Wir wollen aber noch mehr und machen das Jahr 2021 in Berlin zum Wissenschaftsjahr. Die 200sten Geburtstage von Hermann von Helmholtz, dem herausragenden Wissenschaftler und Rudolf Virchow, der Politiker und Wissenschaftler zugleich war, nehmen wir dazu zum Anlass. Mit zahlreichen Akteuren aus allen Wissenschaftsinstitutionen haben wir ein Programm für den Zeitraum zwischen Frühling und Herbst entwickelt. Wir wollen die unglaublich große wissenschaftliche Expertise in unserer Stadt sichtbar machen und gemeinsam die Bürgerinnen und Bürger Berlins einladen, mit uns über Zukunftsfragen zu sprechen. Da geht es unter anderem um Themen wie Gesundheit und Klimawandel, Metropolen der Zukunft, Mobilität, Migration, Gleichstellung oder Diversität.
W+M: Eine immer wieder diskutierte Frage lautet: Gehört Berlin zu Ostdeutschland?
Michael Müller: Ich finde ja. Wir müssen verstehen, dass wir als Berlin in ein regionales Netzwerk eingebunden sind und das besteht nun mal aus unseren Nachbarländern und deshalb ist Berlin ein Ostland. Die Debatte, dass Berlin als Hauptstadt und als Stadtstaat andere Aufgaben und Herausforderungen als ein Flächenland haben, unterscheidet uns von Brandenburg ebenso wie von Niedersachen, ist also kein Ost-West-Thema. Aber es ist schon interessant, dass Ost-West nach wie vor ein Thema ist. Ich nehme es auch in Berlin wahr, wo trotz 30 Jahren Einheit immer noch unterschiedliche Mentalitäten existieren. Vermutlich braucht es noch eine Generation, um dies auszugleichen.
W+M: Welche Rolle kommt Berlin innerhalb der Wirtschaftsregion Ost zu?
Michael Müller: Es ist schön, dass Tesla in Grünheide seine Gigafactory baut. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Elon Musk in China erklärt, dass seine Gigafabrik in Grünheide in Brandenburg entsteht. Die Hauptstadt ist hier der Anziehungspunkt. Und das ist auch eine wichtige Aufgabe Berlins. Die Stadt ist international anerkannt und geschätzt.
Berlin hat sich zum führenden deutschen Forschungsstandort entwickelt, das strahlt natürlich auch in die gesamte Region aus und zieht viele Unternehmen an, die hier das richtige Innovationsumfeld und viele hervorragend ausgebildete Fachkräfte finden. Natürlich hat Ostdeutschland auch andere starke Standorte und wir sollten daran arbeiten, mehr aus diesem gemeinsamen Potenzial zu machen. Ich biete es immer wieder an, Berlin ist für jede Kooperation offen.
W+M: Ist eine Berliner Metropolregion von der Ostsee bis zum Thüringer Wald vorstellbar?
Michael Müller: An uns soll es nicht scheitern. Ich finde es richtig, Ostdeutschland im Verbund zu denken, allerdings sind die regionalen Unterschiede dann vielleicht doch zu groß. Als Ersatzstandort für Schwerin etwas im Thüringischen anzubieten, fände ich dann doch schon schwierig.
Allerdings müssen wir tatsächlich auch international denken. Meine Konkurrenten sind nicht Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen, sondern Boston und Singapur. Also wäre es fast naheliegender sich auch in bestimmten Fällen zum Beispiel mit Kopenhagen zusammen zu tun.
W+M: Was halten Sie von einer Sonderwirtschaftszone Ost?
Michel Müller: Mit der gesetzlichen Regelung, Bundesbehörden vornehmlich in Ostdeutschland anzusiedeln, haben wir ja so etwas wie einen Sonderimpuls. Darüber hinaus halte ich davon nicht viel.
Ich glaube, wir haben einen Punkt erreicht, wo wir aus eigener Kraft gut dastehen und noch mehr daraus machen können.
W+M: Sie haben sich entschieden, nicht mehr für das Amt des Regierenden Bürgermeistern zu kandidieren. Wie viel Abschiedsschmerz kommt auf?
Michael Müller: Ja, sicher gibt es Abschiedsschmerz. Ich war 25 Jahre Mitglied des Abgeordnetenhauses, 12 Jahre Parteivorsitzender und zehn Jahre Senatsmitglied, ich habe also die Hälfte meines Lebens der Berliner Landespolitik gewidmet und dies in vorderster Reihe. Aber die Entscheidung ist gefallen.
W+M: Was ist ihr Plan als Bundestagsabgeordneter?
Michael Müller: Wenn man Mitte 50 ist und viel Wissen und Erfahrungen sammeln konnte, dann möchte man dies auch künftig einbringen. Ich bin überzeugt, dass meine Hauptstadterfahrungen zu den Themen Migration, Integration, Wohnungsbau und Mieten, Wissenschaft und internationale Netzwerke durchaus auch für die Arbeit im Bundestag von Vorteil sein werden. Diese will ich gern einbringen.
W+M: Welche Chancen hat die SPD, in Berlin nach der Wahl erneut den Regierenden Bürgermeister zu stellen?
Michael Müller: Die Chancen sind da, aber es wird ein schwerer Weg. Noch mehr als bei der letzten Wahl liegen jetzt vier Parteien in den Umfragen um die 20 Prozent und wer die zwei Prozent holt, die den Unterschied ausmachen, ist offen. Und wir dürfen nicht vergessen, es wird keinen klassischen Wahlkampf geben. Der Anteil der Briefwähler wird steigen und die wenigen Politiker, die durch das Fernsehen bekannt sind, stehen einer Überzahl vergleichsweise unbekannter Kandidaten gegenüber, denen einfach Bürgerforen oder Gesprächsrunden fehlen werden, um sich bekannt zu machen. Die parallel stattfindende Bundestagswahl wirkt sicher mobilisierend, wird aber mit ihren Themen auch die Landtagswahlen beeinflussen. Das wird ein ungewöhnlicher Wahlkampf.
Interview: Frank Nehring