Im W+M-Exklusiv-Interview spricht Wolfgang Tiefensee, Thüringens Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft zur wirtschaftlichen Lage im Freistaat in der Krise und zu gesetzten Zukunftsthemen. Mit Spannung sieht er den bevorstehenden Wahlen entgegen, für die er nicht mehr kandidiert.
W+M: Herr Tiefensee, wie hat sich das Aufgabengebiet eines Wirtschaftsministers in Zeiten der Krise verändert?
Wolfgang Tiefensee: Ich rufe den 05.02.2020 in Erinnerung, Thomas Kemmerich wurde mit Hilfe von AfD und CDU Ministerpräsident Thüringens. Am Abend habe ich daraufhin mein Büro komplett ausgeräumt. Einen Monat später hat meine Vereidigung als Minister stattgefunden. Bereits am 12.03.2020 tagte die erste Taskforce Corona mit einer richtungweisenden Entscheidung. Die Thüringer Aufbaubank wurde als zentrale Anlauf- und Förderstelle eingerichtet. Thüringen hat am 23.03.2020, vor dem Bund und als eines der ersten Bundesländer, Corona-Hilfen für Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten auf den Weg gebracht. Meine Arbeit als Wirtschaftsminister hat Corona total verändert. Aus dem unfreiwilligen Homeoffice im Februar, bedingt durch die Kemmerich-Wahl, ist ein aktives Minister-Homeoffice geworden: keine Unternehmertreffen, keine Abendveranstaltungen mehr, Landespräsidentenkonferenzen nur noch online, ebenso die täglichen Abstimmungen mit meinem Stab im Ministerium oder mit dem Bund. Die Kilometerzahl auf dem Tacho des Dienstwagens – sonst über Zehntausend im Monat – ist drastisch gesunken. Und dann bin ich natürlich Auskunftgeber für alle, die mit speziellen Problemen auf mich zukommen. Ich bin ständig und regelmäßig mit Verbänden, Unternehmern und Gewerkschaften im Gespräch. Über Thüringen hinaus haben die Konferenzschalten mit den Bundesministerien exorbitant zugenommen, seit April bin ich verstärkt auf der Bundesebene aktiv, um vornehmlich im Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsministerium unsere Ideen einzubringen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.
W+M: Gehört Thüringens Wirtschaft zu den Gewinnern oder den Verlierern der Krise? Wie kommt Thüringens Wirtschaft durch die Krise?
Wolfgang Tiefensee: Wenn man über die Krise spricht, muss zunächst betrachtet werden, wie wir vor der Krise aufgestellt waren. Thüringen hat in den letzten 15 Jahren eine atemberaubende Entwicklung genommen. Wir sind im Wechsel mit Sachsen das stärkste Industrieland im Osten. Die Anzahl der Industriearbeitsplätze je 100.000 Einwohner ist höher als in NRW, Niedersachen und Hessen. Wir haben klassische Industrieländer überholt, obwohl wir Anfang der 90er aus einer Phase der Deindustrialisierung gestartet sind. Unsere Arbeitslosenquote liegt unter der von NRW, dem Saarland und Bremen. Studien bescheinigen uns, bei Gründungen mit Wirtschaftsrelevanz und im Hochtechnologiesektor sehr gut aufgestellt zu sein. Auch wenn das Lohnniveau ungenügend ist, auch wenn wir Nachholbedarf bei der Forschung in den Unternehmen haben – es gibt viele Indizien für eine gestiegene nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Thüringen ist ein starkes und innovatives Land, das trotz oder wegen seiner kleinteiligen Struktur offenbar nicht ganz so krisenanfällig ist. Ich gehe davon aus, dass weite Teile der Wirtschaft relativ stabil durch diese Krise kommen. Dennoch, die Exportrate ist 2020 wie überall in Deutschland zurückgegangen. Wir rechnen für 2020 mit einem BIP-Rückgang um etwa fünf Prozent, das entspricht in etwa dem Bundesdurchschnitt.
Es gibt Branchen, die sehr gut aufgestellt sind, denken Sie an die Logistik, die Pharmazie, die Nahrungsgüterwirtschaft, alle verzeichnen ein Umsatzwachstum. Aber mich treibt um, dass es eine Reihe wichtiger Branchen gibt, die stark negativ, manche sogar existenzbedrohend betroffen sind. Die Gastronomie, die Hotellerie, der Einzelhandel und die Veranstaltungswirtschaft, die Soloselbständigen und die Kreativwirtschaft, sie alle haben schwer zu kämpfen. Darüber hinaus sorge ich mich um die Automobilzulieferer und die Branchen, die auf internationale Zulieferketten angewiesen sind. Aktuell haben wir zum Beispiel einen Chipengpass, der die Produktion in Eisenach beeinträchtigt. Aber insgesamt denke ich, dass Thüringen gut durch Krise kommt, weil wir auf einem sehr soliden Fundament stehen.
W+M: Wo liegen Thüringens Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen?
Wolfgang Tiefensee: Die Unternehmensstruktur habe ich angesprochen, sie hat auch 2008/09 dafür gesorgt, dass wir nicht so stark von den Wellen betroffen waren. Darüber hinaus verfügen wir über eine große Branchenvielfalt: Unternehmen im Maschinenbau, der Ernährungswirtschaft haben nur geringe Umsatzeinbrüche. Nach wie vor wird die Logistik, eine unserer Schwerpunktbranchen, sehr gut aus der Krise kommen, ebenso unsere Klassiker wie die Optik, Optronik oder die Medizintechnik. Unsere optimale geografische Lage, das Angebot an vollständig erschlossenen Gewerbeflächen, unser gut gefüllter Werkzeugkasten zur Investitionsunterstützung sind weitere Vorteile gegenüber den Wettbewerbern. Ich setze auf die Verbindung zwischen Unternehmen und einer exzellenten Forschungslandschaft etwa auf den Gebieten Produktinnovation, Batterie- oder Quantentechnologie, Mobilität und Recycling. Das alles verschafft uns hoffentlich die Möglichkeit, schneller als andere aus der Krise herauszukommen.
W+M: Welche Defizite aus der Krisenvorzeit holen uns jetzt besonders ein?
Wolfgang Tiefensee: Vor allem die mangelnde Digitalisierung in Deutschland, also auch in Thüringen. Der Breitbandausbau ist unbefriedigend, ein Dschungel an Insellösungen erschwert, anders als z.B. in Estland, ein kundenfreundliches E-Government, also eine moderne Verwaltungsdigitalisierung. Im Bildungssektor war E-Learning bisher ein Fremdwort, das Equipment für die Schüler- und Lehrerschaft ist ungenügend – hier rächen sich schwere Versäumnisse der letzten zwei Jahrzehnte. Wir investieren in diesem Sektor massiv, um die Rückstände aufzuholen. Im Blick auf den Einzelhandel und die Entwicklung der Innenstädte werden wir eine Verstärkung der Krise sehen, weil sich der schon lang andauernde Wettbewerb mit dem Onlinehandel durch die Schließungen nochmal verstärkt. Wir begegnen dem mit Kampagnen für den stationären Handel und mit Digitalisierungsangeboten.
Mit und ohne Corona stellen die Veränderungen im Automobilsektor eine große Herausforderung dar. Um die Position im Markt zu halten, müssen Unternehmen die Transformation weg von fossilen Energieträgern meistern. Hier stocken wir gerade unsere Transformationsagentur personell auf, um Vorstände wie Betriebsräte dabei noch besser unterstützen zu können. Also, wir legen die Hände nicht in den Schoß.
W+M: Haben wir die Krise gebraucht, um dies alles in Bewegung zu setzen?
Wolfgang Tiefensee: Die Krise haben wir nicht gebraucht, angesichts des damit verbundenen Leids. Aber die Krise hat die Defizite deutlicher gemacht, Versäumnisse wiegen schwer. Das Thema Digitalisierung war in Deutschland zu lange Zeit einfach nicht auf der Agenda. Ich bin der erste Wirtschaftsminister, der im Titel seines Ressorts den Begriff Digitales führt. Einige Länder und auch der Bund haben nachgezogen. Im Bund gibt es dennoch, im Unterschied zu uns, keine zentrale Koordination für das Thema.
Bleiben wir beim Breitband und Mobilfunk. Erstens: das Problem ist zu spät bearbeitet worden. Zweitens: Die Verantwortung für den Ausbau liegt ja zunächst bei den Telekommunikationsunternehmen, die haben zu wenig getan. Für den finanziellen Ausgleich der Wirtschaftlichkeitslücken ist die Förderung durch den Bund Jahre zu spät gekommen. Drittens: Adressat der Fördergelder waren zunächst die Kommunen. Da muss man sich nicht wundern, dass alles sehr zögerlich anläuft. Wir haben viel Zeit darauf verwandt, die Planungen auf die Landkreisebene zu bringen. Und viertens haben wir ein Technologieproblem. Deutschland musste schnell aufholen und hat deshalb auf eine Übergangstechnologie setzen müssen. Was uns anfangs half – das Vectoring –, hat aber letztlich den Ausbau des Glasfasernetzes gehemmt. Und jetzt fehlen uns die Baukapazitäten. Deshalb steigen die Preise und das Fördervolumen muss erhöht werden. Alle diese Themen müssen wir jetzt schleunigst einer guten Lösung zuführen.
W+M: Was wurde bisher in der Krise für die Wirtschaft getan, was nicht nur Katastrophenhilfe ist, sondern zukunftsweisend?
Wir unterscheiden zwischen Krisenmodus, Konjunktur- und Strukturförderung. Aktuell befinden wir uns gerade im Modus der Nothilfen. Die Probleme mit dem Mittelabfluss sind jetzt endlich durch den Bund gelöst, die Portale sind freigeschaltet. Zur Konjunktur- und Strukturförderung setzen wir auf das wichtigste Instrument, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die wir mehr als verdoppelt haben. Die Unternehmen aller Branchen sollen mehr in die Zukunft investieren: moderne Maschinen, digitale Prozesse, internationale Vernetzung. Wir senken gerade die Quote der Eigenfinanzierung, um schneller voranzukommen. Ein weiteres Instrument ist die Forschungsförderung über unser einzigartiges Netz von wirtschaftsnahen Forschungseinrichtungen. Mit unserem Programm „Get started“ öffnen wir die Einrichtungen auch für Startups, die sich ansonsten eine Produktinnovation nicht leisten könnten.
Wir unterstützen die Verbünde zwischen Hochschulen, außeruniversitären Einrichtungen und Unternehmen. Wir finanzieren Innovations- und Kompetenzzentren, damit in der Wirtschaft neue Produkte entwickelt werden können. Ich greife das Beispiel Batterieforschung und -produktion heraus. Thüringen verfügt als eines der ersten Länder über ein Batterieforschungszentrum. Das Fraunhoferinstitut IKTS Hermsdorf und Dresden hat es mit Landesbeteiligung am Erfurter Kreuz aufgebaut, überdies wird dort die Wasserstofftechnologie weiterentwickelt. CATL ist dort als großer Batteriehersteller ein wichtiger Kunde. Darüber hinaus werden in Hermsdorf und Jena neue Batterietechnologien entwickelt.
Unsere Startups versorgen wir mit Wagniskapital – allein über die Thüringer Zukunftsfonds I und II mit insgesamt rund 36 Millionen Euro, plus 60 Millionen Euro im Start-up-Fonds und im Wachstumsbeteiligungsfonds. Unsere „Investor Days“ sind inzwischen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus gefragt. All das ist Strukturförderung, zielt auf Innovation und Zukunft.
W+M: Welche Rolle spielt Thüringen in Ostdeutschland?
Wolfgang Tiefensee: Wir können stolz darauf sein, dass Thüringen neben Sachsen das Industrieland im Osten ist. Thüringen ist ein Forschungs- und Industriestandort mit eigenem Profil – Optik, Medizintechnik, neue Energietechnologien, intelligente Logistik, industrielle Produktion. Da spielt insbesondere Jena eine Rolle als Forschungs- und Technologiehochburg mit eigenem Exzellenzclustern. Wir wollen die Uni dort weiterentwickeln, so dass sie im nächsten Call 2024 zu einer Exzellenzuniversität aufrückt.
Bei uns liegt jeder Standort in der Mitte Deutschlands, hervorragende Infrastrukturen, kurze Wege in jede Ecke Europas. Mit diesem Pfund wuchern wir.
Und vielleicht ist es auch die Mentalität der Bevölkerung, die Thüringen auszeichnet. Mit Augenzwinkern, wir sind ein bisschen wie die Niederländer in Europa: Zwar klein, aber hoch motiviert und qualifiziert und immer wieder offen für neue Ideen. Vielleicht sind wir auch etwas schwäbisch: nicht klappern, sondern machen. Für manche ist unser Land deshalb noch ein verborgener Champion.
W+M: Wenn Fläche ein Standortvorteil ist, wie schwierig ist es tatsächlich, Industrieflächen auszuweisen?
Wolfgang Tiefensee: In Thüringen ist das kein Problem. Unsere Großflächeninitiative – gestartet 2012, weil Thüringen den BMW-Standortwettbewerb gegen Sachsen verloren hatte – ist unser As im Ärmel. Die Ertüchtigung der zehn Großflächen hat den Freistaat viel Geld gekostet, aber so können wir potentiellen Investoren exzellent erschlossene Areale anbieten. Kaum ein Bundesland hat seine Investorenakquise und -beratung so effektiv aufgestellt. Unter dem Dach der Landesentwicklungsgesellschaft ist alles zusammengefasst. Wir offerieren übrigens nicht jedem ein Angebot, der anklopft. Wir wollen eher für hochwertige Industriearbeitsplätze sorgen, als weitere Logistiker zu bedenken.
W+M: Ist eine Metropolregion von der Ostsee bis zum Thüringer Wald vorstellbar, um mehr internationale Sichtbarkeit zu schaffen?
Wolfgang Tiefensee: Die Vermarktung Ostdeutschlands pur ist überholt. Die internationale Sichtbarmachung der Bundesländer ist zunächst Aufgabe der Agentur des Bundes, der GTAI, sie ist ein guter Brückenbauer und hat das rein ostdeutsche Marketing des IIC abgelöst. Die Metropolregion Mitteldeutschland leistet über Ländergrenzen hinweg ihren Beitrag zur Koordination und Außenwerbung. Entscheidend bleibt jedoch die Schlagkraft im jeweiligen Bundesland.
W+M: Wie lautet ihre Prognose für die Wahlen zum Bundestag?
Wolfgang Tiefensee: Olaf Scholz wird Bundeskanzler, da bin ich zuversichtlich. Es wird ein Rennen zwischen CDU/CSU, SPD und Grünen. Die Umfragewerte dieser Parteien werden sich bewegen und drei ähnlich starke Parteien abbilden. Der Wählerschaft wird zunehmend bewusst werden, dass Angela Merkel nicht mehr zur Wahl steht. Wer ist in der Lage, mit Erfahrung, Stehvermögen und Weitsicht Deutschland die nächsten zehn Jahre Deutschlands zu führen? Ich setze auf die Überzeugungskraft von Olaf Scholz und damit auf ein starkes Ergebnis für die SPD. Vor der Wahl werden die Karten diesmal neu gemischt. Wer weiß, vielleicht kommt es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und SPD? Derzeit schwer vorstellbar, ich wünsche es mir dennoch. Dafür zu kämpfen, lohnt sich.
W+M: Wie lautet Ihre Prognose für den Thüringer Landtag?
Wolfgang Tiefensee: Wie bei den ostdeutschen Wahlen 2019 wird zunächst die Frage entscheidend sein, wie die Partei des Amtsinhabers – egal welcher Farbe – verhindert, dass die AfD zu viele Prozente bekommt. In Thüringen hoffe ich, dass die Wählerschaft mit Blick auf die insgesamt positive Entwicklung und die starke Unterstützung der Wirtschaft in der Krise Rot-Rot-Grün ein starkes Mandat gibt. Die SPD will verlorengegangene Wähler zurückgewinnen, aber auch bei denen punkten, die die Kemmerich-Wahl nicht vergessen haben, die enttäuscht sind von der FDP und einer CDU, die wankelmütig war und immer noch keinen klaren Kurs gefunden hat. Deshalb rechne ich mit einer gestärkten SPD.
W+M: Kandidieren Sie wieder?
Wolfgang Tiefensee: Ich habe im Mai 2020 angekündigt, nicht mehr als Spitzenkandidat und Landesvorsitzender zur Verfügung zu stehen, der Staffelstab ist übergeben. Ich habe gleichzeitig erklärt, kein weiteres Ministeramt anzustreben, weil ich am Ende der neuen Legislatur 71 wäre. Aber ich bleibe auch ohne Amt aktiv und lege mich nicht aufs Sofa.
Interview: Frank Nehring