Prof. Ronnie Schöb lehrt an der Freien Universität Berlin und ist seit 2015 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen. Schöb beschäftigt sich intensiv mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Fragen und bringt seine Forschungsergebnisse immer wieder in die öffentliche Diskussion ein. So auch mit seinem aktuellen Buch „Der starke Sozialstaat“. WIRTSCHAFT+MARKT sprach mit Schöb über sein Buch.
W+M: Der Titel Ihres Buches klingt wie ein Widerspruch. Klären Sie uns bitte auf…
Ronnie Schöb: Ja, weniger ist mehr klingt zunächst einmal eher nach Abbau des Sozialstaates als nach einem starken Sozialstaat. Aber was ich zeige, ist, dass weniger Förderwirrwarr, weniger staatliche Bevormundung und weniger staatlicher Dirigismus zu mehr Eigenverantwortung und damit zu mehr Chancen für den Einzelnen führt, für sich selbst zu sorgen. Wenn das gelingt, ist der Sozialstaat stark, weil er auf der gegenseitigen Solidarität und einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz aufbauen kann. Weniger Bürokratie führt zu mehr Absicherung – darin liegt kein Widerspruch.
W+M: Worum geht es in ihrem Buch konkret?
Ronnie Schöb: Es geht um eine neue Grundsicherungsarchitektur, um eine Reform des untersten Sicherheitsnetzes, das einen auffängt, wenn alle anderen Stricke reißen. Wie leistungsfähig diese Grundsicherung ist bestimmt letztlich, wie stark unser Sozialstaat wirklich ist. Und hier gilt: die Grundsicherung funktioniert dann am besten, wenn der Sozialstaat vorrangig dafür sorgt, dass jeder für sich selbst sorgen kann. Nur bei denen, die das nicht können, muss er sich dann auch fürsorglich zeigen. Diese klare Aufgabenteilung hat die heutige Grundsicherung aus den Augen verloren. Sie wird in der von mir vorgeschlagenen Grundsicherungsarchitektur wieder sichtbar.
W+M: Die Anpassungen des Sozialstaats an die veränderten ökonomischen Bedingungen sind im ständigen Fluss. Was ist zu tun?
Ronnie Schöb: Wir müssen uns von der Vollversicherungsmentalität verabschieden, die derzeit dominiert und zu einem oft irrlichternden Klein-Klein in der Sozialpolitik führt, wie wir sie etwa beim Kinderzuschlag, der Rente mit 63 und der Grundrente oder beim Baukindergeld sehen. Der Sozialstaat muss sich wieder auf seine ureigene Aufgabe, die Existenzsicherung, konzentrieren: die Absicherung derjenigen Lebensrisiken, gegen die es keinen anderen Schutz gibt. Dafür ist die Grundsicherung da: sie ist das Herz des Sozialstaates. Sie funktioniert jedoch genau dann am besten, wenn jeder für sich selbst sorgen kann. Das gelingt aber nur, wenn der, der arbeitet auch entsprechend mehr von seinem Brutto mit nach Hause nehmen kann. Das heutige System ist in dieser Hinsicht leistungsfeindlich, wer Kinder hat, für den lohnt es sich heute zum Teil überhaupt nicht mehr, mehr zu arbeiten, weil der gesamte zusätzliche Verdienst mit den Transferleistungen verrechnet wird. Hier müssen wir ansetzen.
W+M: Die inhaltliche Neujustierung des Sozialstaats – geht das nur auf Kosten der Unternehmen?
Ronnie Schöb: Nein, überhaupt nicht. Unternehmen sind essentiell für den Sozialstaat. Sie schaffen die Arbeitsplätze, die es den Menschen ermöglichen für sich selbst zu sorgen. Das gelingt nicht, wenn man sie immer stärker finanziell belastet. Eine gute Grundsicherung setzt bei der Solidargemeinschaft aller Bürger an. Sie wirkt wie eine Versicherung auf Gegenseitigkeit, in der sich die Bürger wechselseitig das Versprechen abnehmen, sich selbst und anderen in Not Geratenen zu helfen.
W+M: Die 2004 verabschiedeten Arbeitsmarktreformen, die als „Agenda 2010“ vielfach als Zäsur des deutschen Sozialstaates betrachtet wurden, waren besonders umstritten. Was machen ihre Vorschläge anders?
Ronnie Schöb: Die Agenda 2010 basierte sehr stark auf dem Prinzip des Förderns und Forderns. Darauf setzt auch die neue Grundsicherungsarchitektur, sie setzt dabei aber stärker als die Hartz-Reformen auf Anreize mehr zu arbeiten: So sorgt zum Beispiel die Einführung einer allgemeinen Kindergrundsicherung dafür, dass man, wenn man Kinder hat, nicht mehr dafür bestraft wird, mehr zu arbeiten. Heute sind die Transferentzüge, gerade weil man Kinder hat, teilweise so hoch, dass man weniger netto ausbezahlt bekommt, wenn man brutto mehr verdient. Mein Vorschlag ist, dass mindestens 30 Prozent vom zusätzlichen Arbeitseinkommen bei den Haushalten bleiben, unabhängig davon ob man alleine ist oder Kinder zu versorgen hat.
Wenn es dem Sozialstaat gelingt die Bereitschaft zur Selbsthilfe, d.h. die Eigenverantwortung, zu stärken, kann die Gesellschaft viel flexibler auf strukturelle Änderungen reagieren als eine Politik, die verspricht sich zu kümmern, indem sie versucht sich gegen den Wandel zu stemmen. Das gilt auch für die Altersvorsorge, in der wir mehr Anreize setzen müssen, eigenverantwortlich für eine bessere Altersvorsorge zu sorgen. Damit lässt sich auch die drohende Altersarmut eindämmen.
W+M: Haben Sie bereits Signale aus der Politik bekommen, dass Ihre Ideen dort aufgegriffen werden sollen? Wenn ja, welche Partei hat sich bei Ihnen gemeldet?
Ronnie Schöb: Die Reform der Grundsicherung steht bei nahezu allen Parteien auf der Agenda. Und da hoffe ich, dass auch meine Vorschläge in der Politik Gehör finden und in den Parteien diskutiert werden. Auch wenn sich bis jetzt noch keine Partei gemeldet hat, ich stehe gerne zur Verfügung meine Vorschläge zu erläutern und zu diskutieren.
Das Buch
Ronnie Schöb, Der starke Sozialstaat, Campus Verlag, 27,95 Euro.