Viele wissen es oder ahnen es zumindest: Die Software ist es, die Fahrzeuge von Gegenwart und Zukunft bestimmt. Demzufolge ist die von heimischen Autoherstellern hervorgekehrte analoge Technologieführerschaft strategisch immer weniger von Belang. Tesla & Co. „überholen ohne einzuholen“. Jetzt stehen einige junge ostdeutsche Unternehmen am Start, die bekannte Branchen in wenigen Jahren durch eine vollkommen neue Denke prägen könnten. Silicon Eastside? Von Thomas Strobel, Zukunftslotse (München)
Bleiben wir zunächst beim Auto als dem Statussymbol für die deutsche Wirtschaft. Wegen “Schummel-Software“ raste die gesamte Branche schon vor Corona ungebremst in eine Abgasskandal-Nadelkurve. Durch die sich jetzt anschließende Corona-Schussfahrt werden weltbekannte Hersteller infolge langjähriger Zukunftsignoranz ein weiteres Mal aus der Kurve geschleudert. Sie kommen – um im Bild zu bleiben – damit von der Autobahn in Richtung Zukunft ab und landen auf dem holprigen Feldweg nebenan. Noch während der Pandemie bestätigen die Negativnachrichten für Wolfsburger oder Stuttgarter Marken im Wochentakt:
Was Corona ändert, ist die Tatsache, dass Geschäftsmodelle und Geschäfte ohne robuste mittelfristige Zukunftsperspektive, jetzt früher als in wirtschaftlichen Schönwetterzeiten in Schwierigkeiten geraten: Karstadt-Kaufhof, Schlachtbetriebe, Lufthansa, Thyssen-Krupp oder die DB sind weitere Spitzen des Eisbergs…
Umsteuern: Mehr als je Herausforderung und Chance zugleich
„Chancen jetzt nutzen!“. Die Umsetzung dieser drei einfachen Worte an alle vorausdenkenden, aktiven, kreativen, gestaltenden – ergo „hand“-elnden – Unternehmer, Privatpersonen, Netzwerker und Politiker sind gerade auch im Folgensog von Corona – aber auch unabhängig davon – unerlässlich für eine erfolgreiche Zukunftsgestaltung.
Vor welchen Fragen stehen insbesondere ostdeutsche Akteure?
- Welche neuen Geschäftsmodelle rund um virtuelle und zugleich softwarebasierte Unternehmen sind für die Besonderheiten Ost erfolgversprechend?
- Sind neuartige Geschäftsstrukturen wie interdisziplinäre Erfolgscluster, vernetzte Forschungseinrichtungen oder virtuelle Projekte für die Wertschöpfung in der Zukunft von besonderer Bedeutung?
- Welche Prioritäten für Unternehmen und Führungskräfte bieten die Grundlage für Nachhaltigkeit, Resilienz, Achtsamkeit usw., um aus der Krise heraus die Weichen für die Zukunft zu stellen?
- Aus welchen traditionellen Problemen können heute Grundlagen für den Vorsprung von morgen entstehen? Beispiele sind hier die intelligente Nutzung auslaufender Kohletagebau-Flächen oder die Etablierung vollkommen neuer Strukturen wie dem DLR-Erprobungszentrum für Drohnen in Cochstedt/Sachsen-Anhalt.
„Schwimmende“ Gigawatt – So hoch wäre die elektrische Leistung von Photovoltaik-Anlagen, die sich auf gefluteten Braunkohle-Tagebauen der Lausitz und Mitteldeutschland theoretisch installieren ließen – ein Drittel der in Europa installierten Windkraftleistung (Fraunhofer ISE).
Drohnen-Optimierung – Mit einem nationalen Erprobungszentrum für unbemannte Luftfahrtsysteme will die DLR auf dem ehemaligen sowjetischen Fliegerhorst Cochstedt ein in Europa einmaliges Forschungsnetzwerk etablieren. Katastrophenhilfe, Medikamententransport, Landwirtschaft, Luftvermessung, Umweltüberwachung und andere Sparten profitieren davon.
Bahn-Testring – Als Teil des Strukturwandels nach dem Kohleausstieg wollen Brandenburg und Sachsen 300 Mio. Euro für ein Eisenbahn-Testzentrum in der Oberlausitz investieren. Die Strecke soll 16 km lang werden und bis zu 700 Arbeitsplätze schaffen.
Mein Tipp (1): Weil auch moderierte Zukunftsarbeit in Form von Zukunftsbildern für Regionen, Branchen oder Firmen natürlich Vorlaufkosten verursachen: Wer im Osten weiter zukunftsträchtige Großansiedlungen und Wertschöpfungsnetzwerke „einwerben“ will und dafür internationales Kapital vermehrt in diesen Teil Deutschlands lenken will, muss Networking, Marketing und PR als strategische Investitionen begreifen und dafür entsprechende Ressourcen einplanen.
Startups mit Mut zum Vorsprung
Hat der Osten Champions von morgen, deren konzeptioneller Vorsprung gegenüber dem Stand der Technik in ihren jeweiligen Branchen eher mit dem Metermaß als mit dem Lineal zu messen ist? Ja unbedingt, wenn diese auch nicht dutzendfach vertreten sind. Vier Visionäre zwischen Rostock und Dresden, die unternehmerisch und zumeist digital mit bereits beachtlichen Zwischenerfolgen unterwegs sind, seien kurz vorgestellt:
Der 3D-Weltenerschaffer aus Jena: Gründer Hans Elstner hat mit seiner DIY-Plattform rooom ein intuitiv zu bedienendes Online-Baukastensystem für 3D, Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) geschaffen. Das ohne Vorkenntnisse zu öffnende Einfallstor zur Schaffung von eigenen 3D-Räumen/Welten begeistert Business-Anwender wie Privatnutzer gleichermaßen. Der Clou: Gegen einen geringen Beitrag lassen sich per Scanner der rooom AG von beliebigen Objekten eigene 3D-Modelle erstellen. www.rooom.com
Der „Elon Musk“ aus Dresden: Auch wenn der „Focus“ mit diesem Namensvergleich zu 90 Prozent schiefliegen sollte, wären die verbleibenden 10 Prozent Musk, die der IT-Profi Christian Piechnick mit seiner Firma Wandelbots angeblich verkörpert, dennoch folgenreich und schwergewichtig.
Nach dem Motto „No Codes Robotics“ leitet das Startup eine neue Robotik-Ära mit dem Unterschied ein, dass jetzt auch Laien per TracePen Industrieroboter ganz ohne Programmierkenntnisse teachen können. www.wandelbots.com
Der Mittelstandskonzernchef aus dem Rostocker Umland: Seine Lösungen u. a. für die Bereiche Handel, Fashion, Healthcare, Immobilien, Gastro verblüffen. Bereits mit 15 hatte Benjamin Kühn folgende digital-innovative Spiegel-Idee im Kopf; jetzt ist er fast 24 und will seine zwei ersten FashionZone-Shops mit digitalen Umkleidekabinen ausstatten: Wer sie betritt, wird von Kopf bis Fuß abgescannt und kann mittels eines „Wunder“spiegels die gewünschte Kleidung auf seinen Körper projizieren. Anprobe ohne sich zigmal umzuziehen; die Nutzer fühlen sich in die Zukunft katapultiert. Gründer und CEO der jungen Unternehmensgruppe ADCADA mit inzwischen einem Dutzend Firmen will in zahlreiche Richtungen expandieren. adcada.de/shop/120-fashion-zone-mirror#video
Die Zellfleisch-Produzentin aus dem Rostocker Umland: Innocent Meat (Unschuldiges Fleisch) will zum Stichwort zelluläre Landwirtschaft den Fleischmarkt der Zukunft nachhaltig verändern. Das zellbasierte Fleisch mit identischem Geschmack, Nährwert und Aroma wie aus tierischer Produktion wächst vergleichsweise schnell in Bioreaktoren heran. Es kann in Fleischverarbeitungsbetrieben weiterverarbeitet werden. Dem naturnahen Reifeprozess liegen gentechnikfreie Tierzellen und pflanzliche Nährstoffe zugrunde. Die neue Fleischproduktion benötigt im Vergleich zu herkömmlichen Methoden 99 bzw. 95 Prozent weniger Landfläche bzw. Frischwasser. Mitbegründerin und CEO ist Laura Gertenbach.
Mein Tipp (2):
Startups, die noch zu Pandemiezeiten ihre zukunftsorientierten Konzepte in Angriff nehmen, können jetzt womöglich ein Momentum nutzen, das so schnell nicht wiederkommt: Die sonst gefährlichen, etablierten Wettbewerber oder „Platzhirsche“ haben zumeist gerade Besseres zu tun, als sich den Wadenbeißern zu erwehren: Sie sind massiv auf ihr eigenes Überleben in der Krise fokussiert und können darum Quereinsteigern und Innovatoren weniger Aufmerksamkeit widmen.
„In einer ressourcenfressenden Wegwerf-Welt haben Zukunfts-Innovatoren, die Nachhaltigkeit in den Fokus nehmen, mindestens einen wahrnehmbaren Wettbewerbsvorteil sicher.“ Thomas Strobel
„Nach-Corona“ aus Sicht eines Zukunftslotsen
Alle Welt erhofft das baldige Ende der Pandemie und stellt sich mehr oder weniger besorgte Fragen zum „Danach“. Was lehrt uns Corona, welche Anstöße hat uns der Lockdown gegeben, an welchen Stellen müssen wir uns von Gewohntem verabschieden? Dem Zukunftslotsen sind in diesem Zusammenhang acht Punkte wichtig:
- „Nach Corona“ wird es so nicht geben, denn wir werden weiter mit dem Risiko von Pandemien leben müssen.
- Mit Corona hat die Zeit massiver Veränderungen raumgreifend begonnen. Wesentliches Kennzeichen: Eine gedankenlos konsumierende Überflussgesellschaft wurde durch das Virus auf eine normale Wohlstandsgesellschaft mit einem Mehr an Nachhaltigkeitsbewusstsein zurückgebremst. Erreichtes wie die Digitalisierung des Schulbetriebs, Videokonferenzen statt Geschäftsreisen oder mehr Fahrräder in den Innenstädten, wird sich kaum mehr zurückdrängen lassen.
- Corona hat Entscheidungen erzwungen, die Politiker über Jahrzehnte für unmöglich und nicht umsetzbar gehalten hatten. Deshalb sollte der anstehende Neustart als Aufbruch in die Zukunft verstanden und als Chance gestaltet werden. Förderung für Unternehmen und Branchen sind nur dann angebracht, wenn damit Beiträge zu u. a. Nachhaltigkeit, Ressourceneinsparungen, Einhaltung der Klimaziele geleistet werden.
- Bei staatlichen Konjunkturpaketen und Hilfestellungen muss es eine Unterscheidung zwischen „echten Corona-Opfern“ und „Untätigkeitsopfern bei Zukunftsstrategien, Anpassungsfähigkeit und Transformation“ geben. Letztere sind durch das Virus lediglich früher als erwartet auf die Realitätsfolgen der eigenen Trägheit gestoßen worden – und dürfen nicht mit Steuergeldern gepampert werden, maximal sind hier Überbrückungshilfen auf Kreditbasis für zukunftstaugliche Geschäftskompetenzen sinnvoll.
- Corona folgt dem Gleichbehandlungsgrundsatz: Vor dem Virus sind alle gleich. Jedoch darf die wirtschaftliche Auffanghilfe jetzt nicht nur den „Lauten“ zuteilwerden; nicht weniger systemrelevant und damit gesellschaftskritisch ist die Masse derjenigen, die „lautlos“ leiden. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Fragestellung: Gleichbehandlungsgrundsatz und soziale Marktwirtschaft – wie passt das heute und morgen zusammen? Vielleicht kommen wir im Kontext Corona und Zukunftsgestaltung zu neuen Ansatzpunkten für auf die Systemrelevanz bezogene Gehaltsstrukturen und Steuerreformen, die Unterstützer des gewünschten „Zukunftssystems“ belohnen.
- Die Folgen von Corona zwingen uns zu zahlreichen Transformationen, damit wir nicht in die alten Problemfelder von Klimawandel, Ressourcenbedarf, Globalisierung etc. zurückfallen. Der Einstieg in eine nachhaltigere Lebensweise und Wirtschaft bietet sich jetzt an, wird sicher auch bei einem kleinen Prozentsatz der mündigen Verbraucher zu einem veränderten Kauf- und Konsumverhalten führen und kann von langfristig erfolgreichen Unternehmen als Chance genutzt werden.
- Etliche global tätige Unternehmen reden bereits von einem Redesign der aktuellen Liefer- und Wertschöpfungsketten, um für Pandemien oder andere potenzielle Unterbrechungsszenarien die Robustheit der Prozesse zu verbessern. Gleichzeitig sollten die lokale, regionale und nationale Unabhängigkeit gesteigert oder zumindest kurzfristig nutzbare Alternativlösungen vorgehalten werden. Allerdings muss hier das Gestaltungsmotiv geplanter Robustheit und Zuverlässigkeit Vorfahrt haben und nicht pauschale Rückwärtsbewegungen wie spontane Renationalisierung.
- Besonders gut werden mit einer Corona-Ausnahme-Situation Unternehmen zurechtkommen, die im Rahmen ihrer Unternehmensplanung schon länger mit Zukunftsbildern und Szenarien unterschiedliche Handlungsalternativen untersucht und strategisch durchdacht haben. Sie können ihre bisherigen Maßnahmenpläne und Roadmaps jetzt an neue Randbedingungen anpassen und mit aktualisierten Prioritäten die Umsetzung verfolgen.
Zum Autor: Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH (www.fenwis.de). Der 57-jährige Dipl.-Ing. für Maschinenwesen mit Berufserfahrung in branchenübergreifenden Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement gilt als besonders industrienah.
Als Zukunftslotse ist er methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, für mittelständische Unternehmen aus Zukunftstrends systematisch erfolgversprechende Geschäftsstrategien, neue Geschäftsmodelle und Umsetzungspläne abzuleiten.