Ostdeutschlands Regierungschefs im Interview. Die Corona-Krise dominiert nach wie vor das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Dennoch hat sich WIRTSCHAFT+MARKT entschieden, den Blick nach vorn zu richten und ein Ereignis ganz besonders zu würdigen, das im Herbst 2020 ansteht – den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass sprachen wir mit allen fünf ostdeutschen Ministerpräsidenten – Dr. Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (CDU, Sachsen), Bodo Ramelow (Die LINKE, Thüringen), Manuela Schwesig (SPD, Mecklenburg-Vorpommern) und Dr. Dietmar Woidke (SPD, Brandenburg) – sowie mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD).
Die Regierungschefs ziehen eine Zwischenbilanz der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder, sprechen über blühende Landschaften, die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost sowie über die Stabilität von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.
Lesen Sie heute Teil 7 unserer Interview-Serie.
Die Mehrzahl der Bürger Ihres Landes hat durch den auf die deutsche Wiedervereinigung folgenden wirtschaftlichen Strukturwandel (zwangsläufig) Transformationserfahrungen gesammelt. Was glauben Sie, sind die Ostdeutschen aufgrund dieser Transformationserfahrungen besser für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet als die Bürger als den Altbundesländern?
Reiner Haseloff: Es gibt einige grundlegende Erfahrungen, die wir gesammelt haben und die sicherlich bleiben: Man kann mit sehr viel weniger leben, als wir das heute tun. Eine Wettbewerbsgesellschaft bedeutet, dass man ausgelesen wird, wenn man sich nicht weiterentwickelt und gegenhalten kann. Unternehmen können bankrottgehen und schließen, aber man fällt deshalb in Deutschland dennoch nicht durchs soziale Netz. Es kommt allerdings noch etwas dazu, das mit der Untergangserfahrung und dem Systembruch zusammenhängt: Es gibt ein Frühwarnsystem und eine Sensibilisierung dafür, zu reagieren, wenn globale und existenzbedrohende Probleme entstehen. Etwa bei der Migrationsfrage. Wo die Befürchtung bei vielen Menschen entstanden ist, dass man all das, was man sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten mühsam aufgebaut hat, plötzlich wieder infrage gestellt wird. Die Menschen hier wünschen sich keine neuen gesellschaftlichen Experimente. Die Herausforderungen, die entstehen, sollen nicht unkontrolliert und nicht ohne ständige Steuerungsmöglichkeit des Staates zugelassen werden. Die Politik ist gefordert, die Probleme, die sich aus dieser Stimmung ergeben, zu lösen.
Michael Kretschmer: Im Freistaat gibt es eine lange Tradition und eine gelebte Praxis, auch in schwierigen Zeiten zusammenzustehen, wieder aufzustehen und nach vorne zu schauen. Dass dies so ist, hat sicherlich auch mit den Erfahrungen und auch schmerzhaften Brüchen nach der Wiedervereinigung zu tun. Digitalisierung und Strukturwandel stellen uns heute vor neue Herausforderungen, bieten aber auch Chancen. Die müssen wir jetzt nutzen. Sachsen hat die Möglichkeiten und vor allem die Menschen mit all ihren Erfahrungen, ihrem Wissen und Können, um unser Land weiter nach vorn zu bringen. Hier bei uns gab es schon immer einen großen Erfinder- und Machergeist, eine unglaubliche Kraft und Zuversicht. All das hilft uns auch in schwierigen und durch schwierige Zeiten.
Michael Müller: Unbestreitbar ist die Erfahrung da, wie man mit Brüchen im Leben und in der Erwerbsbiografie umgeht. Und wie man voller Mut wieder durchstartet. Die Ostdeutschen haben bewiesen, dass sie das können. Es gibt viele Menschen in Ostdeutschland, die gezeigt haben, dass sie flexibel sind, dass sie neu lernen, dass sie sich weiterbilden, sich auf neue Situationen einstellen können. Und dieses Potenzial und diese Lebenserfahrungen werden in Unternehmen durchaus registriert und geschätzt.
Bodo Ramelow: Ich halte nichts davon, Ost und West gegeneinander auszuspielen. Denken Sie zum Beispiel an das Ruhrgebiet oder meine Geburtsregion Osterholz-Scharmbeck, auch dort wurden zum Teil sehr harte Transformationserfahrungen gemacht. Viel wichtiger ist jetzt eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Regionen, die vor ähnlichen Aufgaben stehen. Auf diese Weise können wir voneinander lernen und Herausforderungen besser gestalten! Wichtig ist die Solidarität der Bundesländer untereinander und die Kooperation mit dem Bund.
Manuela Schwesig: Das ist eine interessante Überlegung. Ich glaube aber, dass man das nicht pauschal beantworten kann. Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeutschen Länder haben gute Zukunftschancen. Und da ist es sicher hilfreich, dass die Menschen hier kräftig anpacken und sich durch Rückschläge und Umstellungen nicht entmutigen lassen.
Dietmar Woidke: So weit würde ich nicht gehen. Das wäre ein Stück weit übertrieben. Was mir wirklich Sorge macht sind die Signale, die von der beschriebenen Entwicklung ausgehen. Das sind Signale der Instabilität. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland manchmal sehr gute Entwicklungen, die wir aus den vergangenen 70 Jahren gewohnt sind – die politische Stabilität beispielsweise – gering geschätzt und unsere Demokratie verhöhnt werden. Gerade wenn man die Entwicklung Deutschlands betrachtet, war und ist die politische Stabilität stets die Grundlage für die erreichten Erfolge. Sie ist übrigens auch die Grundlage für Investitionsentscheidungen. Insofern hoffe ich, dass manch einer künftig etwas aufmerksamer registriert, wofür die AfD steht. Es ist kein Zufall, dass sich gegen positive Entwicklungen bei uns im Land vor allem die AfD stellt. Gegen die Tesla-Ansiedlung haben zuallererst AfD-Politiker protestiert. Für die AfD ist alles, was positiv bei uns geschieht, politisch gesehen Gift. Damit sieht man auch, woraus diese Partei ihre Erfolge ziehen will. Wir müssen sehen, dass wir die Erwartungen der Menschen erfüllen und dass sich Brandenburg weiterhin gut entwickelt. Das und gute politische Arbeit sind die eigentlichen Gegenmittel gegen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten.