Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im W+M-Interview über den Kampf gegen die Corona-Krise, „blühende Landschaften“ und die Angleichung der Lebensverhältnisse
W+M: Herr Kretschmer, in diesem Jahr feiert Deutschland den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wie würden Sie den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Ihres Bundeslandes nach drei Jahrzehnten im geeinten Deutschland bewerten?
Michael Kretschmer: Sachsen hat sich zu einer dynamischen und erfolgreichen Industrieregion im Herzen von Europa entwickelt. In kaum einem anderen Bundesland gibt es eine so große Bandbreite erfolgreicher industrieller Wertschöpfung – von der Automobilindustrie, über den Maschinen- und Anlagenbau und die Mikroelektronik bis zur Textilindustrie. Hinzu kommen – ebenso breit aufgestellt und stark – Handwerk, Tourismus und Dienstleister. Außerdem ist der Freistaat ein gutes Pflaster für Startups und Zukunftstechnologien wie künstliche Intelligenz. Die Wirtschaft hat sich auch deshalb gut entwickelt, weil hier in den vergangenen drei Jahrzehnten sehr viele Menschen auch in schwierigen Zeiten nach vorne geschaut, Neues gewagt und aufgebaut haben.
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Darauf wird es auch jetzt ankommen.
Die Coronavirus-Pandemie ist die größte Bewährungsprobe für unser Land seit der deutschen Wiedervereinigung. Die Auswirkungen werden noch lange zu spüren sein. Für uns als Staatsregierung ist ganz klar: Wir stehen an der Seite der Unternehmerinnen und Unternehmer. Gemeinsam mit ihnen und der Bundesregierung kämpfen wir darum, dass kein gesundes Unternehmen in dieser Situation aufgeben muss. Der Freistaat Sachsen hat deswegen in kürzester Zeit ein eigenes Programm aufgelegt. Der Bund hat ebenfalls zahlreiche Maßnahmen beschlossen, damit wir möglichst gut durch diese schwierige Zeit kommen. Damit es nach den Einschränkungen möglichst schnell wieder aufwärts gehen kann, müssen wir uns aber schon jetzt Gedanken über ein großes Konjunkturprogramm machen.
W+M: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Errungenschaften, die seit 1990 erreicht wurden?
Michael Kretschmer: Die Mauer trennte nicht nur Ost und West. Sie trennte Familien und Freunde. Es ist wunderbar, dass sie seit gut drei Jahrzehnten weg ist. Unglaublich mutige Menschen – darunter besonders viele aus Sachsen – haben dafür viel riskiert. Ihnen ist zu verdanken, dass das SED-Regime zerfiel. Dass der Staat endlich am Ende war, der an der Grenze auf seine Bewohner schießen ließ, weil sie in die Freiheit wollten, der Menschen wegsperrte und auf sie einprügelte, sobald sie in der Öffentlichkeit aufbegehrten.
Das wiedervereinigte Land, in dem wir heute leben, ist sicherlich nicht perfekt. Aber wir leben im besten Deutschland, das wir je hatten: Mit einer funktionierenden Demokratie, mit Meinungsfreiheit und immer weiter wachsendem Wohlstand.
W+M: Wo gibt es in Ihrem Bundesland konkret die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“?
Ministerpräsident Michael Kretschmer, Foto: www.rietschel-foto.de
Michael Kretschmer: Es gibt ganz bemerkenswerte Fotos von Görlitz. Aufgenommen hat sie der Dresdner Fotograf Jörg Schöner – in der Zeit vor und nach der deutschen Wiedervereinigung. Es sind Dokumente des Verfalls – und der Auferstehung einer Stadt. Die Fotos sind an mehreren Orten in einer Ausstellung gezeigt worden und haben viele Menschen, darunter auch mich, tief beeindruckt. Görlitz ist nur ein Beispiel von vielen für den erfolgreichen Aufbruch und für Neubeginn. Es gibt viele andere. Flüsse, die wieder sauber sind. Die internationale Spitzenforschung, die hier zu Hause ist. Eine Kultur- und Theaterlandschaft, um die uns auch andere Bundesländer beneiden. Sanierte Museen, Burgen und Schlösser, spannende Ausstellungen, die Menschen weit über Sachsen hinaus begeistern. Gerade erst hat die renommierte New York Times Leipzig als „das neue Berlin“ gelobt. Wir haben allen Grund stolz zu sein auf die vielen Dinge, die in den vergangenen drei Jahrzehnten auch hier im Freistaat bereits gelungen sind und können mit großer Zuversicht und Selbstvertrauen an die Dinge herangehen.
W+M: Rechnen Sie noch mit einer Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West?
Michael Kretschmer: Gleichwertige Lebensverhältnisse haben hierzulande Verfassungsrang. Die messen wir nicht nur am Wohlstand, sondern am Zugang zu Bildung, zu Kindergärten, zur gesundheitlichen Versorgung und an Umweltstandards, die überall gleich gelten. Was wir machen müssen, ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vieler Regionen zu stärken, und da kommen wir voran. Die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland hat sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren weiter verbessert. Wir brauchen beispielsweise jetzt in allen Regionen in Sachsen Fachkräftezuwanderung aus dem Ausland, so gut geht es der Wirtschaft. Aber klar ist, dass wir noch nicht da sind, wo wir hinwollen. Klar ist auch, dass eine stärkere Wirtschaftsförderung strukturschwacher Regionen im Westen nicht zu Lasten Ostdeutschlands gehen darf. Die Corona-Krise wird auch in dieser Frage ganz neue Herausforderungen bringen. Wir müssen alles dafür tun, dass durch Corona nicht 30 Jahre Aufbau- und Aufholleistung in den neuen Ländern den Bach runtergehen.
W+M: Wo liegen Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Defizite beim Zusammenwachsen von Ost und West?
Michael Kretschmer, Foto CDU Sachsen
Michael Kretschmer: Die Deutschen in Ost und West haben drei Jahrzehnte erfolgreicher gemeinsamer Geschichte. Wir haben eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, sind Fußball-Weltmeister geworden. Ich finde es falsch, jetzt Diskussionen über Deutsche erster und zweiter Klasse zu führen oder darüber, was noch nicht erreicht worden ist. Ich sage: Kommt, lasst uns mit Schwung weiter nach vorn gehen und gemeinsam noch mehr erreichen.
W+M: Fürchten Sie angesichts der Wahlerfolge der AfD – speziell in den neuen Ländern – um den Fortbestand von Demokratie und soziale Marktwirtschaft in Deutschland?
Michael Kretschmer: Wir erleben, wie abschätzig Abgeordnete und Führungspersönlichkeiten der AfD in den Landtagen und im Bundestag über Demokratie und Freiheit reden, wie sie über Grundwerte und Vertreter anderer Parteien herziehen. Die AfD ist europafeindlich, sie verdreht die deutsche Geschichte. Einflussreiche Leute in dieser Partei spalten die Gesellschaft, sie grenzen aus, schüren Ängste. Auf wichtige Zukunftsfragen haben sie keine belastbaren Antworten. Ich bin überzeugt: Die große Mehrheit in diesem Land will das so nicht. Und immer mehr Leute sehen, dass diese Partei unserem Land schadet. Es muss darum gehen, zusammenzuführen und einen Ausgleich zu suchen. Das ist der richtige Weg. Das ist auch mein Weg.
W+M: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die vielen Protestwähler, die derzeit für die AfD votieren, zurückzugewinnen?
Michael Kretschmer: Es geht darum, Probleme zu lösen und in der Sache zu überzeugen. Dazu gehört auch, Fehler klar zu benennen und abzustellen. Wir müssen deutlich machen, dass Hass, Spaltung und Ausgrenzung am Ende der Demokratie und uns allen schaden. Und wir müssen viel miteinander statt nur übereinander reden.
W+M: Die Mehrzahl der Bürger Ihres Landes hat durch den auf die deutsche Wiedervereinigung folgenden wirtschaftlichen Strukturwandel (zwangsläufig) Transformationserfahrungen gesammelt. Was glauben Sie, sind die Ostdeutschen aufgrund dieser Transformationserfahrungen besser für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet als die Bürger als den Altbundesländern?
Michael Kretschmer: Im Freistaat gibt es eine lange Tradition und eine gelebte Praxis, auch in schwierigen Zeiten zusammenzustehen, wieder aufzustehen und nach vorne zu schauen. Dass dies so ist, hat sicherlich auch mit den Erfahrungen und auch schmerzhaften Brüchen nach der Wiedervereinigung zu tun. Digitalisierung und Strukturwandel stellen uns heute vor neue Herausforderungen, bieten aber auch Chancen. Die müssen wir jetzt nutzen. Sachsen hat die Möglichkeiten und vor allem die Menschen mit all ihren Erfahrungen, ihrem Wissen und Können, um unser Land weiter nach vorn zu bringen. Hier bei uns gab es schon immer einen großen Erfinder- und Machergeist, eine unglaubliche Kraft und Zuversicht. All das hilft uns auch in schwierigen und durch schwierige Zeiten.