Debattenbeitrag von Dr. Alexander Montebaur, Vorstandsvorsitzender des Energiedienstleisters E.DIS AG
Mit einer Zukunftsprognose über 18 Jahre ist es so eine Sache. Denn niemand kann seriös die Zukunft über einen solchen Zeitraum voraussehen. Gleichwohl gibt es Einflüsse, die die Richtung definieren. Die großen Stichworte für die Stromversorgung sind Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung. Bis 2038 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland vom Netz gehen (Stromanteil heute: 28 Prozent). Aus der Kernenergie werden wir bereits Ende 2022 ausgestiegen sein (heute: 12 Prozent). Dieser Strom sowie die dahinterstehende gesicherte Leistung sollen zum großen Teil durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Ist das realistisch? Werfen wir einen Blick 18 Jahre zurück. Im Jahr 2002 trugen die Erneuerbaren acht Prozent zur deutschen Stromversorgung bei – heute sind es 40.
Ziel der Bundesregierung ist es, bis 2040 den Anteil der erneuerbaren Energien auf 65 Prozent zu erhöhen. Ist das Ziel also ambitioniert aber schaffbar?
Wie beim Marathon gilt auch hier, die zweite Hälfte wird schwieriger und es wird sich zeigen, wer trainierter Laie und wer Profi ist. Ein Blick in das Netzgebiet der E.DIS – von der Ostseeküste bis zum oberen Spreewald – hilft. Wir sind bei der Stromwende mit einem Grünstromanteil von 126 Prozent bereits in der Zukunft. Die Region ist aber durch ihre dünne Besiedlung, gute Bedingungen für Windparks und großflächige Photovoltaik-Anlagen (PV) und einem geringen Stromabsatz nicht repräsentativ für Deutschland. Es zeigt sich zugleich jedoch auch, dass der Wind- und PV-Strom den Strombedarf nicht zu jedem Zeitpunkt im Jahr deckt. Denn zu jeder dritten Stunde im Jahr ist die Region auf Stromimporte angewiesen – Stichworte sind hier Einspeisemanagement und Regelenergie. Letztere stammt heute aus konventionellen Großkraftwerken – noch vor allem aus dem In-, aber auch bereits aus dem Ausland.
Einen Beitrag für den zwingend notwendigen Gleichklang von Angebot und Nachfrage kann die Digitalisierung leisten.
Stromnetze müssen sich zu digitalen Energiewende-Plattform entwickeln. Bausteine sind zum Beispiel intelligente Ortsnetzstationen und Messsysteme. Mit den Daten lässt sich das Netz besser steuern, messen und überwachen und Verbraucher können als Flexibilitäten genutzt werden. So wird ein Fokus in der Zukunft auch darauf gerichtet sein, wie sich der Beitrag von Data Analytics, Big Data, Blockchain und Co. für die Energiewirtschaft entwickeln wird.
Auch wenn – wie gesagt – langfristige Entwicklungen nur begrenzt voraussehbar sind, bezweifle ich, dass Laststeuerung alleine ausreicht.
Ich sehe die Frage einer in 2038 Rund‐um‐die‐Uhr gesicherten Stromversorgung in Deutschland als ungelöst.
Wenn wir künftig nicht dauerhaft in Größenordnungen vom Stromimport abhängig sein wollen, benötigen wir Realismus und konkrete Lösungsansätze. Beides gibt es derzeit im politischen Gesamtbild nicht in ausreichendem Maße. Nach heutigem Stand kommt dem Energieträger Erdgas für die Versorgungssicherheit eine zentrale Rolle zu. Um eine wirtschaftliche Gasnetzinfrastruktur in der Fläche, auch für eine etwaig künftige anteilige Wasserstoffversorgung, zu erhalten, sind die Regulierungs‐ beziehungsweise Investitionsbedingungen anzupassen.
Wir brauchen zudem einen ehrlichen gesellschaftlichen Diskurs über die Verteilung der Lasten der Energiewende.
Wir erleben derzeit eine Entsolidarisierung zwischen Stadt und Land. Die Netzkosten und die Vor-Ort-Belastung durch die Präsenz der Erneuerbaren sind ungleich verteilt. Eine bundesweite Angleichung der Kosten beziehungsweise des Ausbauniveaus sollte politisch angestrebt werden. Hierzu gehört auch, dass Energiewirtschaft und Politik gemeinsam in der Verantwortung stehen, vor Ort für Akzeptanz zu werben. Wir brauchen zudem Anreize für Ansiedlungen von Unternehmen mit großem Strombezug in Netzgebieten mit überdurchschnittlich vielen Wind- und PV‐Anlagen – Stichwort Telsa. Schließlich sollten die genehmigungstechnischen Rahmenbedingungen stärker mit den energiepolitischen Zielen korrespondieren.
Kurzum: Damit Deutschland Energiewendeprofi wird, muss der Trainingsplan im politischen Berlin deutlich erweitert werden.