Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) im W+M-Interview über den Stand der Wiedervereinigung und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West
W+M: Frau Schwesig, in diesem Jahr feiert Deutschland den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wie würden Sie den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Ihres Bundeslandes nach drei Jahrzehnten im geeinten Deutschland bewerten?
Manuela Schwesig: Mecklenburg-Vorpommern ist in den letzten 30 Jahren gut vorangekommen. Die Wirtschaftskraft ist deutlich gestiegen, die Arbeitslosigkeit so niedrig wie nie zuvor. Städte, Dörfer und Verkehrswege sind umfassend modernisiert worden. Wer auf Bilder aus dem Jahr 1990 schaut, erkennt viele Orte kaum wieder. Aber, und auch das gehört zu einer ehrlichen Bilanz, wir haben trotz aller Fortschritte noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse erreicht, weil eben auch die westdeutschen Länder Fortschritte gemacht haben. Ich würde sagen: Das Glas ist zu drei Vierteln voll.
W+M: Was sind aus Ihrer Sicht die größten wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften, die seit 1990 erreicht wurden?
Manuela Schwesig: Das Wichtigste ist, dass sich junge Menschen heute eine Zukunft in Mecklenburg-Vorpommern aufbauen können. Das war früher viel schwerer. Ich habe das Anfang der neunziger Jahre, damals noch in Brandenburg, selbst erlebt. Mein Vater wurde arbeitslos. Viele meiner Freunde sind nach der Schule in den Westen gegangen, weil die Berufsaussichten dort besser waren. Heute gibt es bei uns ausreichend Arbeits- und Ausbildungsplätze. Und mancher, der in den neunziger Jahren weggegangen ist, kommt heute zurück. Weil es inzwischen auch bei uns gute Chancen gibt, weil wir die Elternbeiträge für die Kita abgeschafft haben und auch weil sich die Umwelt in einem besseren Zustand befindet als in den großen Ballungszentren.
W+M: Wo gibt es in Ihrem Bundesland konkret die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“?
Manuela Schwesig: Unser Land hat sich sehr gut entwickelt. Im Tourismus, auch in der Gesundheitswirtschaft. Wir haben starke Unternehmen in Biotechnologie und Medizintechnik, erstklassige Zulieferer in der Automobil- und Flugzeugindustrie, einen sehr robusten handwerklichen Mittelstand.
W+M: Rechnen Sie noch mit einer Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West?
Manuela Schwesig: Wir müssen am Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse festhalten. Der wichtigste Punkt ist, dass wir zu einer Angleichung der Löhne kommen. Es wird zurecht als große Ungerechtigkeit empfunden, dass die Löhne im Westen vielfach noch höher sind als im Osten. Deshalb werben wir in Mecklenburg-Vorpommern dafür, dass mehr Unternehmen Tariflohn zahlen. Denn im tarifgebundenen Bereich ist die Lohnangleichung weiter fortgeschritten. Und wir haben die Wirtschaftsförderung und die Vergabe öffentlicher Aufträge stärker an Kriterien guter Arbeit gebunden.
W+M: Wo liegen Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Defizite beim Zusammenwachsen von Ost und West?
Manuela Schwesig: Ich glaube, dass Ost und West insgesamt gut zusammengewachsen sind. Wir leben heute ganz selbstverständlich in einem vereinten Deutschland. Wer unter 35 ist, kennt das gar nicht mehr anders. Aber wir brauchen sicherlich noch mehr Austausch und noch mehr wechselseitiges Verständnis.
W+M: Fürchten Sie angesichts der Wahlerfolge der AfD – speziell in den neuen Ländern – um den Fortbestand von Demokratie und soziale Marktwirtschaft in Deutschland?
Manuela Schwesig: Nein, das nicht. Aber es ist in den letzten Jahren deutlicher geworden, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer wieder neu begründet werden müssen. Wir müssen diejenigen noch stärker unterstützen, die vor Ort für die Demokratie und eine offene Gesellschaft eintreten.
W+M: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die vielen Protestwähler, die derzeit für die AfD votieren, zurückzugewinnen?
Manuela Schwesig: Das geht nur im Dialog. Ich biete als Ministerpräsidentin regelmäßig Bürgerforen an. Das Motto lautet „Alle Fragen sind erlaubt“. Da diskutieren wir dann zwei Stunden über die Themen, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Und wir starten als Landesregierung gerade eine Veranstaltungsreihe, in der wir mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber sprechen wollen, wie unser Land 2030 aussehen soll.
W+M: Die Mehrzahl der Bürger Ihres Landes hat durch den auf die deutsche Wiedervereinigung folgenden wirtschaftlichen Strukturwandel – zwangsläufig – Transformationserfahrungen gesammelt. Was glauben Sie, sind die Ostdeutschen aufgrund dieser Transformationserfahrungen besser für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet als die Bürger aus den Altbundesländern?
Manuela Schwesig: Das ist eine interessante Überlegung. Ich glaube aber, dass man das nicht pauschal beantworten kann. Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeutschen Länder haben gute Zukunftschancen. Und da ist es sicher hilfreich, dass die Menschen hier kräftig anpacken und sich durch Rückschläge und Umstellungen nicht entmutigen lassen.
W+M: Im Herbst 2021 stehen in Ihrem Bundesland Landtagswahlen an. Möchten Sie Ihre Arbeit als Regierungschefin fortsetzen?
Manuela Schwesig: Ja. Ich möchte meine Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern gern fortsetzen. Wir haben viel erreicht, von der niedrigsten Arbeitslosenzahl in der Geschichte des Landes bis zur beitragsfreien Kita. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen. Es geht darum, das Land wirtschaftlich weiter voranzubringen und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
W+M: Ihre Partei hat sich auf Bundesebene an der Spitze neu aufgestellt. Trauen Sie es dem amtierenden Führungsduo zu, die SPD aus dem Umfragetief herauszuführen?
Manuela Schwesig: Die neuen Vorsitzenden sind in einem Mitgliederentscheid gewählt und durch einen Parteitag bestätigt worden. Sie haben jetzt eine Chance verdient. Entscheidend wird sein, dass die SPD auch auf Bundesebene für konkrete Verbesserungen für die Menschen sorgt. Aus ostdeutscher Sicht ist aktuell die Grundrente das wichtigste Projekt. Bei uns gehen jetzt die Jahrgänge in Rente, die nach 1990 das Land neu aufgebaut haben. Leider oft zu niedrigen Löhnen. Die Grundrente ist auch ein Stück Anerkennung von ostdeutschen Lebensleistungen. Sie muss deshalb wie vereinbart Anfang 2021 kommen.
Zur Person
Manuela Schwesig wurde am 23. Mai 1974 in Frankfurt (Oder) geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie ein Studium an der brandenburgischen Fachhochschule für Finanzen, das sie als Diplom-Finanzwirtin abschloss. Anschließend nahm sie im Finanzamt Schwerin eine Tätigkeit als Steuerfahndungsprüferin auf. Im Jahr 2003 trat Schwesig in die SPD ein. Von 2008 bis 2013 war sie Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Ende 2013 wechselte sie in die Bundesregierung – als Bundesfamilienministerin. Seit dem 4. Juli 2017 ist sie Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern. Manuela Schwesig ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.
Interview: Karsten Hintzmann und Frank Nehring