Neue Bundesländer 2035 – Neue Chancen – Teil 2/3: Tesla-Dominoeffekt ist nur ein Baustein für mehr Beschäftigung im Osten
Im zweiten Teil der W+M Serie „Neue Bundesländer 2035 – neue Chancen“ stellt W+M Autor und Zukunftslotse Thomas Strobel strategische Überlegungen zu neuen Strukturen für Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung an.
Speckgürtel Berlin-Südost: Gestern Rolls Royce, morgen Tesla – und übermorgen? Ein kurzer Rückblick auf die deutsche Gründerzeit könnte bei der Vorausschau auf die arbeitsplatzschaffenden ostdeutschen Zukunftsindustrien nützlich sein. Was sich rund um die Schaffung des Deutschen Reichs im damals kleinen „Speckgürtel-Dorf“ Treptow als Wirtschaftsentwicklung vor den Toren Berlin abspielte, taugt ggf. 150 Jahre später als Blaupause für die neuen Bundesländer. 1873 wurde hier (wer weiß das heute noch?) die Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrication (Agfa) gegründet. Kurz vorher hatte sich ein Landwirtschaftsgeräte-Hersteller angesiedelt, dann kam die AEG – und Jahrzehnte später entstanden nebenan in Oberschöneweide damals weltbestimmende Produktionsstätten der Elektronindustrie, die noch heute einen guten Nachklang haben.
Nehmen wir eine andere Perspektive ein und schauen zurück in die 30 Nachwende-Jahre: Bezogen auf die wirtschaftliche Transformation – die Lebensleistung von anderthalb Generationen – ist im Osten das Glas mehr als nur halbvoll; in einigen Boom-Regionen sogar gut gefüllt. In vielen Gebieten und Großregionen wie Sachsen, Jena, dem Berliner Speckgürtel oder dem Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt sind Wandel und neue Impulssetzung selbstbewusst gelungen; doch in vorwiegend ländlichen Gebieten scheint der viel zitierte Aufschwung Ost noch immer erst Anlauf zu nehmen.
Nur ein Beispiel für die Attraktivität des Standortes: Das Neu-Hallenser Startup Frischemanufaktur produziert Obstbecher, die dank des Zusatzes von Vitamin C und einer sauerstofflosen Verpackung eine Woche lang haltbar sind. Um erfolgreich zu werden zog das Unternehmen von München nach Halle an der Saale um. Standortvorteile waren besserer Zugang zu qualifiziertem Personal, größere Aufmerksamkeit bei Arbeitnehmern, Investoren, Medien und Politikern, sowie die Finanzierung durch einen Venture-Capital-Fonds, der Fördergelder für Ostdeutschland verwaltet. In Halle hat die Gründerin Jenny Müller beispielsweise schon dreimal den Wirtschaftsminister der dortigen Landesregierung getroffen, in München hingegen kein einziges Mal.
Zwang zur Neuanpassung – ein einzigartiger Erfahrungsvorsprung mit Zukunftswert
Die Eltern-und Kind-Generation (55+ und 35+) im Osten, wozu auch nicht wenige westdeutsche Gründer, Gestalter und Gutbetuchte gehören, hat den anderen 60 Millionen Deutschen etwas Wichtiges voraus: Sie hat den Beweis erbracht, dass Lebens- und Arbeitsflexibilität – insbesondere, wenn Menschen dazu gezwungen waren ihre Komfortzone zu verlassen – ein unwiederbringlicher Erfahrungsvorsprung sind. Den Kurs gilt es mit neuen Perspektiven, Schwerpunkten und Mitteln sowie hoher Beschäftigungs- und Bindewirkung zwischen Rostock und Radebeul, Ribnitz-Damgarten und Riesa fortzusetzen.
„Ob diese zwanziger Jahre später auch mal wieder „Die goldenen…“ genannt werden, hängt angesichts der voraussehbaren drastischen Anpassungs- und Handlungszwänge davon ab, wie sie mit frischen Ideen und Ausdauer gestaltet werden.“
Eine Ausstrahlung dieser Kultur des chancenorientierten und zukunftsgerichteten Wandels auf die „alten Bundesländer“ wäre ebenso wünschenswert wie notwendig, um dem von BDI-Präsident Dieter Kempf formulierten „Schnarchland Deutschland“ mit positiven Beispielen neuen Schwung zur erfolgreichen Bewältigung anstehender Veränderungen zu geben. Doch zunächst müssen auf breiter Basis neue, zukunftsträchtige Handlungsoptionen erarbeitet werden, um anschließend für ein chancenreiches Gesamtbild mit Langfrist-Perspektive abgestimmte, finanzierbare Umsetzungsmaßnahmen zu bündeln.
Fünf reale Chancen „originär Ost”
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden nicht nur auf den Osten globale Großtrends wie Klimawandel, Demografie mit der Tendenz zum Älterwerden oder Migrationsdruck sowie technisch-soziale Neuausrichtungen wie Fachkräftemangel, neue Umwelt- und Mobilitätserfordernisse samt den soziokulturellen Eigenheiten der SmartPhone-Generation 2000+ zukommen. Darauf werden wir im dritten Teil unserer Zukunftsserie näher eingehen.
Abgeleitet von diesen und anderen absehbaren Einflüssen und Zwängen muss der Osten als Teil Deutschlands und Europas a) Handlungsoptionen erkennen, b) gemeinsame Gestaltungsvarianten diskutieren sowie c) zukunftsorientiert, schlüssig und abgestimmt handeln – und das möglichst ohne zehnjähriges Tauziehen und möglichst ohne dominante Lobbyinteressen. Vielleicht könnte Ostdeutschland seine Perspektivangelegenheiten – natürlich in proaktiver Abstimmung mit dem Bund – beispielhaft so demokratisch institutionalisieren (Stichwort: Staatssekretäre für Zukunftsfragen in den einzelnen Bundesländern), dass jeder, der Zukunft gestalten will, sich auch als ernstzunehmender Partner in die unterschiedlichen Diskussionskreise mit einbringen kann?
Die Giga-Factory und ihre Folgen für die neuen Bundesländer
Was bringt Tesla über Tesla hinaus? Schlagartig sicherlich eine international neue Investorensicht auf Ostdeutschland, ähnlich vielleicht wie in den frühen 90ern. Die Folgen allein rund um Tesla dürften mannigfaltig sein: Mehr und ganz neue Arbeitsplätze unter englischsprachigem Management, Wander- und Ansiedlungssogwirkung für Autobauer aus Süddeutschland (und vor allem erfolgreiche Fahrzeughersteller für die Mobilität von morgen jenseits der Autodinosaurier) und sicherlich auch breite Dienstleistungsinvestitionen zwischen Hauptstadt und Umland. Was bisher im Osten keinem Schulsystem nach 1945 gelungen ist: Die im Durchschnitt immer noch „fremde“ Fremdsprache Englisch wird (wie bei Rolls-Royce in Dahlewitz) durch solche Ansiedlungen zur Arbeitssprache; vor dem Hintergrund der ostdeutschen Sprachfaulheit wird es sich damit auch für Besucher von Flächenschulen lohnen, Englisch zu lernen und damit die Vermittlungschancen am Arbeitsmarkt dauerhaft zu erhöhen.
Was bringt Tesla noch? Neue Logistik-Infrastrukturen für Zulieferer, neue Mitarbeiter (auch sicherlich aus Osteuropa), mehr Gäste und Besucher. Ebenso ergeben sich vollkommen neue Netzwerkmöglichkeiten durch die Neuansiedlung von Zukunftsindustrie. Brandenburg hat mit der US-Investition und dem Lausitzring, den die DEKRA zum Zentrum für autonomes Fahren ausbaut, plötzlich eine raumgreifende und weltweit bedeutende Zukunftstechnologie im „Boot“.
„Die Tesla-Produktion, ist das Gegenwärtigste, was sich Ostdeutschland leisten kann, alles andere sollte weiter in die Zukunft gerichtet sein. „
Zusätzliche Folgefaktoren der Tesla-Ansiedlung sind zu beachten: Der Wohnungs- und Eigenheimbau im betroffenen Umland des Standorts wird ebenso boomen wie die Mieten in Berlin (wo in der Tesla-Forschung/Entwicklung ebenfalls Tausende arbeiten sollen) anziehen werden. Elon Musk, so meine Überzeugung, macht den Schritt für andere Großinvestoren „go east“ leichter (wo Zukunftsfahrzeuge gefertigt werden, sind modernste Industrien und tangierende Wissenschaftseinrichtungen nicht mehr fern). Raketenstufen aus der Mark? Smart Textiles für IoT aus Sachsen? Pilotprojekte für autonome, automatisierte Landwirtschaft im bevölkerungsarmen ländlichen Raum auf fruchtbaren Böden in Mecklenburg?
Digitalisierung und Start-ups
Die Digitalisierung führt zu neuen, datenbasieren Geschäftsmodellen und -prozessen die die Flexibilität von Unternehmen bei der Standortwahl erhöhen, wenn vor Ort die Netzanbindung die notwendige Bandbreite bereitstellt. Das bedeutet für die neuen Bundesländer, dass bei schwacher IT-Infrastruktur gerade ein zügiger Ausbau eines 5G-Netzes realisiert werden sollte. Es erfüllt zum einen die drängenden Kommunikationsanforderungen und schafft zum anderen die Grundlage für die bald beginnenden autonomen Anwendungen für Mobilität, Industrie und Landwirtschaft.
Dass und wie die Digitalisierung als nächste industrielle Revolution nicht nur Gewerbe und Dienstleistungen, sondern auch Verwaltungen, Mobilität, Logistik, Landwirtschaft einschließlich der direkt und indirekt beteiligten Menschen verändert wird, soll hier nicht Thema sein. Der Osten darf in diesem Zusammenhang nicht Getriebener sein, sondern sollte zum vorausschauenden Gestalter werden. Das ist in zweierlei Hinsicht vorstellbar: modellhaft (zum Testen neuer Mobilitätskonzepte, Kommunikationsstrukturen bzw. einer digitalen Landwirtschaft) oder über fachspezifische Startups, wie sie gerade im Schatten tonangebender Universitäten entstehen. Mit Blick auf industriepolitische „Leerflächen“ könnten Digitalisierungs-(Aus)Gründungen nicht nur im Umfeld der Tagebaulöcher Fachkräfte aufsaugen.
Auch hier nur ein Fallbeispiel, das zeigt, wie gewaltig Arbeitsplatzwirkungen sein können, wenn eine Idee zur richtigen Zeit den Markt mit seinen Bedürfnissen trifft: das Dresdner Startup Wandelbots. Im Kontext von Automatisierung bei Robotik und Produktionsanlagen wandelt sich die bisherige Programmierung mit Codezeilen zu einer Trainingseinheit, die ein Facharbeiter einer Maschine vermittelt. Bisher war das Programmieren von Robotern Expertensache – unflexibel, kostenintensiv und langwierig. Eine Jacke mit textiler Intelligenz bzw. ein TracePen ermöglicht es jetzt erstmals auch Laien Industrieroboter anzulernen.
Mit Hilfe von KI kann dann eine selbständige Optimierung im Hinblick auf eine Produktivitätssteigerung der Abläufe erfolgen. „Wir hatten eigentlich Mittelstandfirmen im Fokus; inzwischen arbeiten wir auch für Autokonzerne und andere Großfirmen“, sagt Mitgründerin Maria Piechnick. Die Robotik-Basisentwicklung des aus ehemaligen Doktoranden bestehenden Gründerteams begeistert mit dem Slogan „20 Mal schneller und 10 Mal kostengünstiger“ die 4.0-Szene. Der große Durchbruch für das heute bereits 64 Mitarbeiter zählende Team kam 2016 auf der Hannover Messe. Wandelbots ist auch ein gutes Anlageargument für die Fintech-Szene: Besonders wenn Wagniskapital auf den Gründermut Ost trifft, kann es folgenreiche Standort- und Beschäftigungschancen mit zukunftssichernden Wachstumspotenzialen geben.
Biologisierung
Naturnahe Lösungen, die Abfälle vermeiden und die Ressourcen schützen, stehen nach 200 Jahren klimaschädigender Wirtschaftsentwicklung, vermehrt auf der Tagesordnung. Mit zunehmender Digitalisierung eröffnet die Biologisierung zahlreicher Prozesse zugleich auch neue Möglichkeiten. Experten sprechen von Bioökonomie, einem längst überfälligen Megatrend. Dabei verbinden sich Biologie und Life Science, um nachwachsende Rohstoffe in Stoffkreisläufe von Chemie, Kosmetik, Bekleidung usw. einzubringen. Auf diesem Zukunftsfeld geht es unter den Stichworten biologisch abbaubare Produkte auch um einen Paradigmenwechsel zum Beispiel bei Leder – seit Jahrtausenden an Tiere gebunden.
Zu den weltweiten Entwicklungen, Leder aus organischen Stoffen statt aus Tierhäuten zu erzeugen, fügt gerade das Leipziger Startup Scobytec ein hoffnungsvolles Kapitel hinzu. Das vegane „Leder“ wird durch Bakterienkulturen gewonnen und kommt ohne tierische Produkte und chemische Zusätze aus. Es kann industriell genau wie Leder verarbeitet werden, ist allerdings komplett kompostierbar. Mitgründerin Carolin Wendel ist sich auf der Suche nach Beteiligungskapital für eine Pilotanlage sicher: Biologisierung wird zu einer Schlüsseltechnologie dieses Jahrhunderts – „Good Bye Animal Farming. Hello Biofabrication.“ Und: Gerade im Chemiedreieck seien dafür mit Anlagen, Flächen und Fachexperten die besten Chancen gegeben.
Dieser Trend geht auch am Bauwesen nicht vorbei. Erste Entwicklungen deuten darauf hin, dass Bakterien einen selbstheilenden Baustoff herstellen können, der dann Zement ersetzt. Impft man ein Gemisch aus Gelatine und Sand mit Cyanobakterien (Blaulagen), verwandeln sie anschließend Kohlendioxid aus der Luft in Kalziumcarbonat. Diese Verbindung verfestigt das wabbelige Gemisch zu einem lebenden Baustein. Dessen Gestalt kann beliebig festgelegt werden, denn sie hängt von der Form ab, in die das geimpfte Gelatine-Sand-Gemisch gefüllt wird.
„Es bietet sich mit Blick auf Flächen, Fachkräfte und die Nähe zur Wissenschaft an, den bisherigen deutschen Rückstand bei der Biologisierung vorrangig in den neuen Bundesländern aufzuholen.“
Auch die wahrscheinliche Biologisierung in der Medizintechnik und Nahrungsmittelproduktion – beides bisher nicht gerade Kernkompetenzen in Deutschland – versprechen riesige Zukunftsmärkte. Hier geht es u. a. um die Herstellung von „Laborfleisch“ in handelsüblichen Mengen (zur Verringerung großer Mengen von Treibhausgasen bei der Tierzucht) sowie die Abschaffung von Antibiotika-Einsatz und Massentierhaltung. Auch in der Retorte gezüchtete Human-Implantate haben großes Marktpotenzial.
Wissenschaft und Technik
Ostdeutschlands Mittelstand hat – wendebedingt, da im Einigungsvertrag die Industrieforschung komplett vergessen wurde – mit rund 70 danach gegründeten externen Industrieforschungsinstituten besonders praxisnahe Forschungs- und Entwicklungspartner an seiner Seite. Zudem ist die öffentliche Wissenschaftsstruktur mit 30 Unis und 55 Fachhochschulen und weiteren gut 130 außeruniversitären Forschungseinrichtungen namens Helmholtz, Planck und Fraunhofer äußerst leistungsfähig. Gelänge es besser als bisher, die hier gemachten Top-Forschungsergebnisse mit auch internationalem Kapital und mutigen Investments an ostdeutsche Standorte zu binden, würden neue Arbeitsplätze die unbedingte Folge sein. Nur zwei zum Teil originäre ostdeutsche Ideen, die die künftigen Arbeitswelten verändern könnten:
Textil-/Carbonbeton (Dresden)
Der Deutsche Zukunftspreis des Bundespräsidenten ging 2016 an ein Professorenteam der TU Dresden. Das Wissenschaftlerteam hatte eine Ballvorlage aus DDR-Zeiten aufgegriffen und Textilbeton als neuen Baustoff der Zukunft entwickelt. Statt rostenden Bewehrungsstahl mit entsprechend dickwandiger Umhüllung vor Feuchtigkeit zu schützen, enthält der innovative Beton verharzte textile Gitter aus Carbon- oder Glasfasern. Der neue korrosionsfreie Werkstoff, der gegenwärtig in einem BMBF-Cluster zur Markt- und Zulassungsreife geführt wird, benötigt nur die tatsächlich statisch erforderliche Betondicke, wird damit wesentlich leichter und verursacht bei Herstellung und Transport dementsprechend weniger Treibhausgase. Wegen seiner Materialeigenschaften empfiehlt sich der neue Beton auch für die Sanierungsarbeiten.
„Auch das wäre ein riesiger Beitrag zur Nachhaltigkeit: Mit deutlich weniger Sand, Zement und Logistik können mit Textilbeton Gebäude und Brücken errichtet werden, die eine doppelte bis dreifache Lebensdauer im Vergleich zu heutigen Stahlbeton-Konstruktionen haben. „
In den nächsten fünf Jahren wird sich entscheiden, ob Deutschland nach 25-jähriger Vorlaufforschung zu diesem Großthema auch die Kraft hat, Textilbeton jenseits von Nischen und Prototypen in die Baupraxis zu überführen. Ein nationales Kompetenzzentrum für den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Bauwirtschaft sollte angedacht werden, ebenso wie Ausbildungsstätten für Studenten und Baupraktiker.
Foto: Mit hauchdünnem Auftrag von 14.000 Quadratmeter Textilbeton Gebrauchsfähigkeit gesichert
Braunkohlenchemie (Freiberg)
Zu DDR-Zeiten war dieses Thema schon hochgekocht; Technologie- und Verfahrenspatente ließen aufhorchen. Worum ging es? Schlicht und einfach gesagt um die wertstoffgerechtere Nutzung der noch 300 Jahre abbauwürdigen Braunkohlelagerstätten in Mitteldeutschland. Statt Verbrennen der Kohle wurden schon vor Jahrzehnten Wege beschritten, um dieses „schwarze Gold“ chemisch zu nutzen – als Rohstofflieferant für die Industrie. Wegen der zwischenzeitlichen Dominanz von Erdgas/Erdöl „verkümmerten“ nach der Wende die Ansätze, einen weltersten Braunkohlechemiepark zu schaffen.
Ebenfalls BMBF-gefördert, hatte ein Konsortium unter Führung der TU Bergakademie Freiberg und der TH Leuna-Merseburg unter Mitwirkung des Braunkohleverwerters ROMONTA, weltgrößter Hersteller von Rohmontanwachs auf Braunkohlebasis, bereits eine zeitgemäße Wertschöpfungskette erarbeitet. Die dafür zugrunde liegenden Prozesse, so hieß es 2014 zum Ende des Konsortiums, sollten sich in bestehende Chemieanlagen integrieren lassen. Was passiert in den nächsten zehn Jahren mit diesen zum Teil einzigartigen Erfahrungen unter den neuen Prämissen von Klimawandel, Abschied von fossiler Energie und dem Zwang, wieder mehr in regionale Wirtschaftskreisläufe zu denken?
Sonderfaktoren
Wer über Ansiedlungen und Beschäftigung in Ostdeutschland redet, muss auch die spezifisch ostdeutschen Gegebenheiten berücksichtigen: Das eben erwähnte Braunkohle-Aus ist nur eines dieser Kriterien; die regionale Ausdünnung der Bevölkerung, die anhaltende Abwanderung von in Ost oder West bzw. auf ausländischen Unis bestens ausgebildeten Spezialisten sind weitere. Bleiben wir bei der Kohle und möglichen Ideen, die damit (noch) Beschäftigten sinnvoll in neue Jobs überzuleiten. Welche Ersatzindustrien und „Zugpferde“ jenseits einer touristischen Nutzung der irgendwann mal renaturierten späteren Braunkohle-Seenlandschaften bieten sich an?
Aus meiner Sicht muss die mitteldeutsche Bergbaulandschaft zwischen Halle und Lausitz sowohl Wissenschafts- als auch Wirtschafts- und Dienstleistungsstandort werden. Aus dem oben Gesagten ließen sich Forschungsinstitute für Carbonbeton und chemischer Braunkohleveredlung ebenso ableiten wie ggf. Textilbeton-Mustersiedlungen und Ausbildungszentren für neue Bauweisen in Textilbeton. Denkbar sind ebenfalls Pilotprojekte für eine dezentrale, sichere Energieversorgung, Modellstraßen mit Energy Harvesting und Anbauflächen für die digitalisierte Landwirtschaft.
Zudem wissen wir mit ziemlicher Zuverlässigkeit, dass die Pegelstände der Meere – damit auch der Ostsee – über kurz oder lang drastisch ansteigen werden. Warum also in den nächsten 15 Jahren nicht schon mit entsprechendem zeitlichem Vorhaltewinkel von weiteren Jahrzehnten die Küstenschutzdämme um zwei, drei Meter mit dem Aushub der ohnehin vorhandenen Gruben in Sachsen-Anhalt und Brandenburg aufschütten? Und: Wenn wir schon riesige „Löcher“ als Einschnitt in die Landschaften haben: Warum nicht in Analogie zu Stuttgart 21 oder Shanghai der Gegenwart im Großraum Leipzig einen unterirdischen Verkehrs-Hub bauen, der danach von Stararchitekten vorbildhaft für „Wohnen & Arbeiten der Zukunft“ überbaut wird?
„Egal, welche Facette des gesellschaftlichen Lebens wir betrachten: Die Zwanziger werden ein Jahrzehnt der Weichenstellungen.“
Zum Autor:
Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH (www.fenwis.de). Als Dipl.-Ing. für Maschinenwesen gilt der 56-Jährige mit beruflichen Stationen u. a. in branchenübergreifenden Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement als besonders industrienah.
In seiner Rolle als Zukunftslotse ist er methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, aus relevanten Zukunftstrends erfolgversprechende Geschäftsstrategien und neue Geschäftsmodelle sowie Umsetzungspläne abzuleiten.