Wirtschaftsregionen, die sich auf eine erfolgversprechende Zukunft vorbereiten wollen, benötigen neue, weiter vorausschauende Denkansätze. Denn nur eine schlüssige Mittelfriststrategie für Wettbewerbsvorteile und Alleinstellungsmerkmale sichert die Attraktivität für Menschen und Unternehmen. W+M fragt den Münchner Zukunftslotsen Thomas Strobel, dessen Arbeitsgebiet Mittelständler und Industriezweige ebenso sind wie Kommunen oder auch gesellschaftliche Querschnittsprozesse wie Ausbildung und Mobilität.
W+M: Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit als Zukunftslotse von der eines Zukunftsforschers?
Thomas Strobel: Als Zukunftslotse arbeite ich für vorausschauend planende Unternehmen, Verbände und vielleicht bald auch für Regionen ähnlich wie ein Lotse auf einem Schiff, als temporäre Unterstützung in schwierigen Gewässern.
Der praktische Nutzen ist, dass ich für meine Auftraggeber auf der Basis eigener Industrie- und Projekt-Erfahrungen an der Auswertung von Trends und der Entwicklung erfolgversprechender Strategien und Handlungsoptionen methodisch und inhaltlich mitwirke. Dazu begleite ich interdisziplinäre Teams auf einer Zeitreise mit dem Ziel, einen anschließend einen sicheren Kurs durch die Untiefen und Hindernisse der nächsten 15, 20 Jahre zu suchen. Die Erfahrungen und Ideen aller Mitwirkenden können dabei verschiedenste Perspektiven bündeln und gemeinsame Schlussfolgerungen erleichtern.
Der Hauptunterschied zum Zukunftsforscher, der den Fokus auf wissenschaftliche Trendanalysen und prägende Trendwirkungen legt, sind beim Zukunftslotsen die Folgeschritte der strategischen Ableitungen. Sie bilden das Fundament, auf dem zukünftige Wettbewerbsvorteile gestaltet werden können.
W+M: Wie wird man Zukunftslotse?
Thomas Strobel: In meinem Fall ist es das Ergebnis einer kundenorientierten Bündelung meiner vielfältigen Berufserfahrungen in Industriebranchen, Konzernwelt und Veränderungsprojekten. Daraus habe ich speziell für die Bedarfe mittelständischer Unternehmen in meiner Firma FENWIS GmbH die Methodik der „Retropolation“ entwickelt, die auf fünf wichtigen Erfahrungsbausteinen beruht: Mehrjährige Verantwortung für Geschäftsplanung, Management-Verantwortung im Technologie- und Innovationsmanagement, Innovationsforschung in einem internationalen Konzern, Zusammenarbeit mit einem US-Futuristen sowie Zukunftsprojekte in interdisziplinären Teams. Oft ist nach meiner Erfahrung der Einstieg in die Zukunftsarbeit die größte Hürde. Von welchem „Ende“ aus sollen wirtschaftlich oder politisch Verantwortliche Zukunftsthemen so anpacken, dass deren Entscheidungen morgen und übermorgen genau jene Zukunft bereichern, die sie heute anstreben? Als erste Antwort auf diese Frage biete ich mit meiner Aktion „Eine halbe Stunde Zukunft“ interessierten Vordenkern einen kostenlosen und unverbindlichen Einstieg ins Thema.
W+M: Könnte ein solcher Experte auch eine ganze Wirtschaftsregion wie Ostdeutschland lotsen?
Thomas Strobel: Die oben angesprochene Retropolations-Methodik hat sich bisher in der Textil- und Papierindustrie, um zwei Projekt-Beispiele auf Industrieverbandsebene zu nennen ebenso bewährt wie bei weltmarktführenden Familienunternehmen. Sie wäre in vergleichbarer Form auch auf Kommunen, Regionen, Bundesländer und Ostdeutschland als Ganzes anwendbar. Denn auch hier gewinnen dauerhaft gestaltbare Wettbewerbsvorteile in Zukunft an Bedeutung. Die inhaltlichen Schwerpunkte entstehen dann in der gemeinsamen Arbeit und können folglich auch für die Bedarfe einer größeren Wirtschaftsregion organisiert werden. Während bei der Extrapolation, also der Vorausschau nach bisherigem Erfahrungshintergrund, ein minimalistisches Klimapaket geschnürt wird, verlangt Retropolation Bausteine für eine nachhaltige Lebensweise. Lösungen werden dann gebraucht für CO2-neutrale Produkte und Herstellprozesse, Einsatz nachwachsender Rohstoffe, reduzierter Flächenverbrauch, Lebensmittelproduktion auch jenseits der heutigen Landwirtschaft, lokale Konzepte für Kreislaufwirtschaft, etc.
Bevor Sie nach dem Kern der Retropolation fragen, hier dazu nur wenige Gedanken:
Egal ob Politiker, Oberbürgermeister, Landrat oder Unternehmer: Auch aus deren Sicht rotiert die Welt immer schneller; alles wird von allem beeinflusst, alles ist oft in dramatischer Geschwindigkeit im Umbruch. Wie kommt man vor diesem Hintergrund zu einem „sicheren Zukunftsgefühl“? Wo liegen die Marktchancen, welche innovativen Herausforderungen (auch im Teamwork mit der Forschung) gibt es? Wo können neue Anwendungsfelder mit Umsatz- und Arbeitsplatzpotenzial erschlossen werden? Solche globalen und zum Teil branchenübergreifenden Fragen können mit großer Wahrscheinlichkeit retropolativ besser beantwortet werden. Denn die Methodik besteht aus zwei Schritten: Erstens eine weite Vorausschau auf 2050 unter der Berücksichtigung von Mega- und Einzeltrends von wichtigen Ressourcen und Branchen. Und zweitens von dort aus der Blick zurück auf eine nähere, fast schon greifbare Zukunft, wie 2030-2035. Wenn ich also eine Vorstellung habe, welche Weichen in 10, 15 Jahren zu stellen sind, um damit die Zielmarken in der Mitte des Jahrhunderts anzupeilen, dann lässt das Schlussfolgerungen unmittelbar auf bevorstehende Richtungsentscheidungen zu, die ab 2020 in Angriff genommen werden müssen.
W+M: Wer müsste die Initiative zu solchen Zeitreise-Projekten ergreifen?
Thomas Strobel: Initiatoren für solche Zukunftsprojekte können nur Menschen sein, die Interesse daran haben, dass Zukunft nicht passiert, sondern dass Zukunft vorausschauend gestaltet wird. Diese Menschen müssen bereit sein, für ein gemeinsam entwickeltes, erfolgversprechendes Zukunftsbild eine schlüssige Strategie zu erarbeiten, die dann in einem Umsetzungsplan beschrieben und verfolgt wird. Idealerweise können solche Menschen mit Verantwortung und Budget auch wichtige Schritte als Initialzündung für die Ernsthaftigkeit des Plans auf den Weg bringen. Ostdeutschland könnte auf dieser Basis europaweit, um mal ganz bescheiden zu bleiben, die erste große Wirtschaftsregion mit einer Zukunftslandkarte werden.
In der Praxis bedeutet das: Der Gestaltungswille und die Energie dieser Menschen ist wichtiger als ihre aktuelle Tätigkeit in Politik, Wirtschaft oder anderen Organisationen. Allerdings ist es von Vorteil, wenn diese Initiatoren auch natürliche Netzwerker sind, die andere für ihre Ideen begeistern und mit Enthusiasmus anstecken können.
Vita: Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH (www.fenwis.de) mit Sitz in Gauting. Als Dipl.-Ing. für Maschinenwesen gilt der 56-Jährige auf Grund seiner beruflichen Vita mit Stationen u. a. in branchenübergreifenden Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement als besonders industrienah.
In seiner Rolle als Zukunftslotse ist Thomas Strobel methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, aus Trends und erkennbaren oder angenommenen Zukunftsentwicklungen, erfolgversprechende Geschäftsstrategie und Umsetzungspläne sowie neue Geschäftsmodelle abzuleiten.
Beispielprojekte
• Ergebnisse des Zukunftsprojekt „Faser & Papier 2030 – Nachwachsende Zukunft gestalten“ der Papiertechnischen Stiftung
• Ergebnisse des Zukunftsprojektes mit dem Forschungskuratoriums Textil: „Perspektiven 2025 – Handlungsfelder für die Textilforschung der Zukunft“