Neugründungen in Ostdeutschland? Risikokapital, das in die neuen Bundesländer wandert? Berichte über wirtschaftliche Probleme im Osten unserer Republik sind uns meistens bekannter. Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, Licht auf eine beeindruckende Unternehmenslandschaft zu werfen, die das Potenzial des Ostens widerspiegelt.
Von René Sadowski, Jörg K. Ritter und Geraldine Graf
Wir haben uns, aufbauend auf der Identifikation aller Startup-Unternehmen in der gesamten Bundesrepublik, welche zwischen 2013 und 2018 gegründet wurden, die Risikokapitalbewegungen der Unternehmen im Zeitraum dieser sechs Jahre angesehen, konkret von Januar 2013 bis Dezember 2018. Die finanzielle Untergrenze für die Analyse der Investitionssumme je Startup-Unternehmen im Betrachtungszeitraum liegt bei 5 Mio. EUR. Dies ist ein anerkannter, repräsentativer Indikator für das von institutionellen Investoren ausgemachte Geschäftspotenzial. Insgesamt konnten wir 293 Startup-Unternehmen, sogenannte Newcomer identifizieren.
Berlin ist das Gravitationszentrum
Von diesen 293 Newcomern sind 130 in Berlin und Ostdeutschland zuhause. Das ist im bundesdeutschen Vergleich herausragend. Unter einer stärkeren regionalen Perspektive zeigt sich, dass 126 dieser Newcomer in der Hauptstadt ansässig sind. Demnach haben vier ostdeutsche Newcomer, die seit 2013 gegründet wurden, jeweils mindestens 5 Mio. EUR Risikokapital eingeworben. Hier zeigt sich das Gravitationszentrum Berlin, das somit als echte Gründermetropole mit hoher Risikokapitalattraktivität bezeichnet werden kann. Denn die untersuchten 126 Newcomer aus Berlin haben im betrachteten Zeitraum insgesamt ca. 3,95 Mrd. EUR Risikokapital eingesammelt. Allein 19 Newcomer haben jeweils mindestens 50 Mio. EUR Risikokapital erhalten. Und fünf von diesen haben jeweils über 100 Mio. EUR eingeworben. Dies sind Spotcap mit ca. 102 Mio. EUR, Wefox mit ca. 143 Mio. EUR, Frontier Car mit ca. 152 Mio. EUR, Raisin mit ca. 185 Mio. EUR sowie N26 mit ca. 616 Mio. EUR.
Zugleich hatten gut die Hälfte der Newcomer per Ende 2018 maximal 50 Mitarbeiter. Überraschend ist, dass es in Berlin und Ostdeutschland insgesamt nur sechs Unternehmen gibt, die mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigen – und diese sind ausschließlich in Berlin ansässig.
Während in den Jahren 2013 bis 2015 vor allem Newcomer aus den Bereichen E-Commerce und Shopping sowie Handel kamen, hat sich das Interesse der Investoren in den zurückliegenden Jahren stärker in Richtung Mobility, Biotech, Fintech und Künstliche Intelligenz entwickelt.
Newcomer nach Gründungsjahr
(Gründungsjahr Anzahl Risikokapital seit Gründung)
2013 30 1.399 Mio. EUR N26, Raisin, Lesara
2014 35 930 Mio. EUR Wefox, Spotcap, Marley Spoon
2015 35 811 Mio. EUR Sennder, Movinga, McMakler
2016 22 671 Mio. EUR Frontier Car Group, SolarisBank, Tourlane
2017 4 54 Mio. EUR Element Insurance, i2x, Wandelbots
2018 5 151 Mio. EUR Circ, Tier Mobility, MXC
Quelle: Analyse Egon Zehnder; Basis Datenbank Crunchbase
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Wirtschaftliche Prosperität bedingt den Willen und die Fähigkeit, kontinuierlich mit neuen Ideen in den Wettbewerb zu gehen. Umfang und Qualität dieser Ideen sind häufig das Resultat forcierter Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten bei hoher Kunden- oder Prozessorientierung in etablierten Unternehmen, oft auch in Zusammenarbeit mit unternehmensexternen Partnern. Ein marktwirtschaftlich funktionierender Wettbewerb zeichnet sich aber auch durch das Auftreten neuer Akteure in bestehenden Märkten oder bei der Etablierung neuer Märkte aus, die dann ihrerseits eine besondere Strahlkraft entfalten – Lumos Maxima im besten Sinne.
Ohne diesen Gestaltungs- und Geschäftswillen sowie die Innovationsorientierung neuer Akteure würden die marktwirtschaftlichen Vorteile des unternehmerischen Wettbewerbs ihre Kraft nicht entfalten können. Und gesellschaftlicher Fortschritt und ökonomische Prosperität fußen genau auf diesen Markt- und Wettbewerbsmechanismen. Im Rahmen der Initiative „Macher 30“, die erfolgreiche Persönlichkeiten aus Berlin und den neuen Ländern ehrt, haben wir uns die neuen Marktakteure, die sogenannten Newcomer, genauer angesehen. Dabei haben wir uns – wie oben dargestellt – speziell auf die neuen Unternehmen fokussiert, bei denen Gründerinnen und Gründer ihre Unternehmung mit einem hohen Professionalisierung- und Wachstumswillen gestartet haben. Als Maßstab dafür haben wir die Öffnung für externes Risikokapital und die damit verbundenen Partnerschaften bei gleichzeitigem Interesse und ökonomischer Zuversicht der Kapitalgeber in die Idee, respektive das junge Unternehmen, angelegt.
Herausragende ostdeutsche Beispiele
Unsere Erhebung erlaubt auch einen tieferen Einblick in Ostdeutschland. So haben 15 ostdeutsche Newcomer jeweils mindestens 1 Mio. EUR Risikokapital und insgesamt 75 Mio. EUR eingeworben. Ein herausragendes Beispiel sind das Chemnitzer HR-Tech-Unternehmen Staffbase, das neue technische Lösungen für die Mitarbeiterkommunikation entwickelt und über 48 Mio. EUR einwerben konnte. Auch das Greifswalder Legal-Tech-Unternehmen advocado, ein auf automatisiertes und KI-gestütztes Matching sowie auf videobasierte Rechtsberatung spezialisierter Newcomer, sticht mit ca. 6 Mio. EUR an eingeworbenem Investment heraus. Wandelbots aus Dresden, ein Robotik-Tech-Unternehmen, mit dessen Technologie Roboter über intelligente Kleidung gesteuert werden, sammelte ebenfalls ca. 6 Mio. EUR ein.
Ein Großteil der Gründerinnen und Gründer kommen laut dem Deutschen Startup Monitor aus dem Hochschul- bzw. Universitätsumfeld. Damit werden die Rolle und der Beitrag dieser Institutionen für die (über)regionale wirtschaftliche Entwicklung besonders sichtbar. Die ostdeutschen und Berliner akademischen Institutionen leisten hier einen herausragenden Beitrag. Der aktuelle Gründungsradar 2018, herausgegeben vom Stifterverband, zeigt dies wunderbar auf. So liegen im Ranking der besten großen (Gründer)Hochschulen die Universität Potsdam auf Rang 5. und die Freie Universität Berlin auf Rang 6. Die TU Berlin, die Universität Leipzig und die Humboldt Universität Berlin sind auf den Rängen 12 bis 14 zu finden. Im Ranking der mittleren Hochschulen sind die Europa Universität Viadrina auf Platz 2, die HWR Berlin (Rang 4), die TU Chemnitz (Rang 9), die Otto-von Guericke-Universität Magdeburg (Rang 12) sowie die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg auf Rang 14 ebenfalls vorn dabei. Diese ostdeutsche Stärke zeigt sich ebenfalls bei den kleinen Hochschulen, denn hier wird die HHL als beste Gründerhochschule Deutschlands geführt, gefolgt von der Technischen Hochschule Brandenburg, FH Potsdam, Bauhaus-Universität Weimar und der Technischen Hochschule Wildau auf den Rängen 9 bis 12.
Die Aussichten sind positiv – die Rolle der Hochschulen ist dabei elementar
Sicherlich, für viele Gründer und Gründerinnen ist der Verkauf (Exit) des eigenen Unternehmens ein erklärtes Ziel. Herausragende Beispiele dafür sind ebenso in Ostdeutschland zu finden. Dazu zählt die auf organische Elektronik spezialisierte Novaled, die im Jahr 2013 für 260 Mio. EUR an Samsung verkauft wurde. Beispiele neueren Datum sind der Verkauf des E-Commerce-Newcomers Bike24 für 112 Mio. EUR an Wiggle im Jahr 2017 und Siltectra, ein Hersteller elektronischer Bauteile, der im letzten Jahr für 124 Mio. EUR von Infineon übernommen wurde. Diese drei Unternehmen kommen aus Sachsen, das neben Berlin als wichtiges Kraftzentrum für Unternehmensgründungen gelten darf. Dort gelang es auch, aus der dort etablierten Unternehmertradition heraus kraftvolle Ökosysteme für die Zukunftsbranchen Mikroelektronik, Software, Elektromobilität, Telekommunikation und Maschinenbau, primär in den Regionen in und um Dresden, Leipzig, Chemnitz und Südwestsachsen zu etablieren, in denen junge, innovative Unternehmen schnell Zugang zu Partnern und Kunden sowie letztlich auch zu Investoren finden. Innovationskraft, Mut und Wachstumswillen von Gründerinnen und Gründern, die forcierte Vernetzung von Hochschulen mit Unternehmen in industriellen Clustern sowie der Zugang zu Risikokapital: All das zeichnet die Gründerlandschaft im Osten der Republik aus – insgesamt also Leuchttürme allerorten.
Die Autoren
René Sadowski ist Engagement Leader bei Egon Zehnder und Professor für Entrepreneurship & Innovation Management an der ISM Hochschule Berlin
Jörg K. Ritter ist Senior Partner bei Egon Zehnder und Professor für Leadership & Human Resources an der Quadriga Hochschule Berlin
Geraldine Graf ist Projektmitarbeiterin bei Egon Zehnder für die Initiative „Macher 30“ und Studentin der Betriebswirtschaft an der Freie Universität Berlin