Freitag, November 22, 2024

Ostdeutschland spielt für den deutsch-französischen Handel eine entscheidende Rolle

Fotos: W+M

Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum OWF.ZUKUNFT findet in diesem Jahr nur wenige Tage vor der Europawahl statt. Ein Grund mehr dafür, Frankreich zum Partnerland zu machen. Im Vorfeld sprach W+M mit der Botschafterin der Republik Frankreich S. E. Anne-Marie Descôtes über Europa, Deutschland und natürlich auch über Ostdeutschland.

W+M: Vom 23. bis 26. Mai 2019, in Deutschland am 26. Mai 2019, finden die Wahlen zum Europa-Parlament statt. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in Europa ein?

Anne-Marie Descôtes: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wies darauf hin, dass, wenn wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger an Europa festhalten, wir dafür Sorge tragen müssen, dass sie sich von ihm sowohl vor Bedrohungen in einer unsicheren Welt als auch vor unfairen, ausländischen Investitionen geschützt fühlen. Diese Wahl ist eine Gelegenheit, daran zu erinnern, welche Möglichkeiten Europa für uns bereithält (zum Beispiel europäische Universitäten, Erasmus etc.). Sie wird jedoch von starker Kritik einiger Bewegungen gegen das europäische Projekt geprägt sein. Am 5. März veröffentlichte DIE WELT sowie andere Tageszeitungen aller EU-Mitgliedstaaten einen Gastbeitrag von Staatspräsident Macron zu diesem Thema. Darin betonte er, dass der Brexit ein Ausdruck für eine Wut ist, die in ganz Europa zu spüren ist und die wir nicht einfach abtun können. Er sagte, dass wir uns nicht mit dem Status quo abfinden dürfen, sondern diese Wut in Lösungen umwandeln müssen.

W+M: Welche Position bezieht Frankreich hinsichtlich der Zukunft von Europa und was wird von der Bundesregierung Deutschland erwartet?

Anne-Marie Descôtes: Als Staatspräsident Emmanuel Macron sein Amt übernahm, trat er umgehend mit Deutschland in den Austausch, weil die deutsch-französische Zusammenarbeit die unabdingbare Voraussetzung für den Fortschritt Europas ist. Frankreich möchte gemeinsam mit Deutschland ein nachhaltiges europäisches Projekt aufbauen, das auf Freiheit, Schutz und Fortschritt abzielt, wie der Präsident in seinem Gastbeitrag in der WELT schrieb. Dies erfordert einen systematischen Dialog und die Suche nach Kompromissen sowie die Konvergenz unserer Wirtschaften und Gesellschaften, deren Grundlagen wir im Aachener Vertrag, der am 22. Januar 2019 unterzeichnet wurde, festgesetzt haben. Paris und Berlin werden sich weiterhin intensiv zu europäischen Themen austauschen, um die EU zu reformieren, damit sie den Erwartungen der europäischen Bürger bestmöglich gerecht wird.

W+M: Wie hat sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren entwickelt?

Anne-Marie Descôtes: Frankreich ist in Deutschland mit 4.000 Unternehmen und Tochterunternehmen vertreten, das sind fast 380.000 Mitarbeiter, und fast genauso viele Franzosen (310.000) sind in deutschen Unternehmen beschäftigt. 2018 war Frankreich der viertwichtigste Handelspartner Deutschlands und Deutschland der wichtigste Partner Frankreichs. Unseren Unternehmen ist seit langem bewusst, dass Deutschland und Frankreich auf lange Sicht zuverlässige Partner sind. Das ist gerade angesichts unsicherer internationaler Perspektiven besonders wichtig. Der Wille zur Kooperation zwischen deutschen und französischen Unternehmen besteht, wie das Rekordjahr 2017 für die Investitionen deutscher Unternehmen in Frankreich zeigt (plus 22 Prozent und fast 6.000 neue Arbeitsplätze).

W+M: Welche Rolle spielt dabei der Wirtschaftsraum Ostdeutschland?

Anne-Marie Descôtes: Die östlichen Bundesländer spielen für den deutsch-französischen Handel eine entscheidende Rolle. Der Handel zwischen Frankreich und den neuen Bundesländern wächst jedes Jahr etwa zwei  Prozent schneller als mit den alten Bundesländern. Das Handelsvolumen mit den östlichen Bundesländern bleibt jedoch aufgrund der geografischen Entfernung, der Geschichte und bestimmter Besonderheiten deutlich hinter dem mit den westdeutschen Bundesländern zurück. Ein Erfolgsbeispiel ist die TOTAL Raffinerie am Chemiestandort Leuna, die 1997 nach dreijähriger Bauzeit in Betrieb genommen wurde. Das Unternehmen TOTAL beteiligte sich mit 60 Millionen Euro an der Modernisierung des Produktionsstandortes. Weitere Beispiele sind die Standorte von Saint-Gobain in Brandenburg und von PSA in Eisenach. Ich bin überzeugt, dass sich die Beziehungen noch intensivieren werden, da der Osten Deutschlands ein anziehender Wirtschaftsstandort ist. Städtepartnerschaften wie zwischen Lyon und Leipzig könnten eine Gelegenheit für gemeinsame Wirtschaftsprojekte sein.

W+M: Was macht aus Ihrer Sicht den Wirtschaftsraum Ostdeutschland für französische Unternehmen interessant?

Anne-Marie Descôtes: Alle ostdeutschen Regionen haben nach der Wiedervereinigung eine Rundumerneuerung der Infrastruktur sowie eine Umweltsanierung vollzogen und verfügen heute über viele moderne, innovative Industrieparks, die die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt fördern. Es herrscht eine starke Bereitschaft der Regierungen der neuen Bundesländer zur Investition in die Zukunft. Es gibt starke Anziehung für internationale Unternehmen durch Smart-Infrastructure (wie Coworking Spaces, Inkubatoren/Acceleratoren in Sachsen). Hervorzuheben ist auch die steigende Zahl an Start-ups in Berlin, Leipzig und Dresden, die vom Staat unterstützt, aber auch von der besonderen Attraktivität der jeweiligen Regionen angezogen werden, durch hervorragende Ausbildungen, Risikobereitschaft und Geschäftssinn und sehr gute Bedingungen für den Wissenstransfer aus der Forschung in die Industrie. Das starke Interesse der Ostländer-Regierungen für viele Kernbereiche der Innovation (Elektronik, Optik, Energiewende, Mobilität) ist auch ein Vorteil. Die Kooperationen im Bereich Nanoelektronik im Rahmen des europäischen Projektes sind ganz konkrete Beispiele und ich hoffe sehr, dass wir sie noch auf andere Sektoren ausweiten können, zum Beispiel auf die Energiespeicherung.

Interview: Frank Nehring


S. E. Anne-Marie Descôtes, Botschafterin Frankreichs in Berlin.

 

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