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W+M Interview mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsitenden Dr. Reiner Haseloff über den Kohleausstieg, das Bauhaus-Jahr und die Lust, Chef einer „Kenia“-Koalition zu sein
W+M: Herr Dr. Haseloff, seit knapp drei Jahren führen Sie ein in Deutschland einmaliges Regierungsbündnis, in dem CDU, SPD und Grüne mitwirken. Erklären Sie uns bitte, warum die „Kenia“-Koalition – für Außenstehende – so harmonisch funktioniert?
Reiner Haseloff: Eigentlich wird doch ganz Deutschland von einer „Kenia“-Koalition regiert. Bundesregierung und Bundestag können mit der Mehrheit von CDU und SPD beschließen, was sie wollen, aber durch das Zwei-Kammern-System ist dann ja auch noch der Bundesrat gefragt. Und bei neun Regierungsbeteiligungen der Grünen in den Ländern kommt am Ende ohne die Zustimmung der Grünen im Bundesrat keine Mehrheit zustande. Ich habe das bei mir in Sachsen-Anhalt nicht in zwei Kammern, sondern an einem runden Tisch. Der Koalitionsvertrag enthält für jeden der drei Partner interessante und wichtige Projekte, so dass es sich lohnt, zeitlich befristet bis 2021 hier an einem Strang zu ziehen. Wenn man fair miteinander umgeht und sich gut untereinander abstimmt, dann kann das durchaus funktionieren. Und auch der Kompromiss, den die Kommission für die Kohlereviere gefunden hat, ist letztlich das Ergebnis eines Kenia-Bündnisses der praktischen Vernunft.
W+M: Kann man in einer derartigen Dreierkonstellation tatsächlich wirtschaftspolitische Impulse setzen?
Reiner Haseloff: Das kann man durchaus. Weil vieles auch Optimierungsaufgaben sind. Entbürokratisierung wollen wir alle, auch eine gute Beschäftigungswirkung. Da unsere Strukturen stark von der Chemie und den Erneuerbaren Energien geprägt sind, ist das für alle Regierungspartner auch vermittlungsfähig. Wir hatten in jüngster Vergangenheit etliche große Investitionen – 375 Millionen Euro wurden in eine neue Papierfabrik in Brehna investiert, auch Thyssen-Krupp hat sich am Standort Ilsenburg stark engagiert. Und auf politischer Ebene ist es uns gelungen, gemeinsam auch mit den Grünen die wichtige Bundesautobahn A 14 planungsseitig aufs Gleis zu stellen.
W+M: In Ihrer ersten Amtsperiode lenkten Sie ein Zweierbündnis mit der SPD als Juniorpartner. In der „Kenia“-Koalition müssen drei Partner tagtäglich neue Kompromisse finden. Spüren Sie eher Last oder Lust an der Spitze einer Regierung von CDU, SPD und Grünen?
Reiner Haseloff: Wir haben ja hier in Sachsen-Anhalt bereits alle möglichen Regierungsvarianten am Start gehabt. Da muss ich sagen, wenn man fair und gut koordiniert miteinander umgeht, ist das Zwischenmenschliche fast entscheidender bei der Bewältigung des Tagesgeschäfts als das Ideologische. Man kennt sich in unserem kleinen Land und man kennt auch die Alternativen, die wir alle nicht wollen.
Es gibt bei uns Stabilität
W+M: Wie ist es aktuell um die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt bestellt?
Reiner Haseloff: Es gibt bei uns Stabilität. Seit knapp zehn Jahren ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung praktisch in jedem Jahr gestiegen. Sie hat heute wieder das Niveau von 2001 erreicht und dass, obwohl sich die Bevölkerung durch den negativen Geburten-Sterbe-Saldo seither signifikant verringert hat. Dass sich durch die Kleinteiligkeit der Wirtschaft und das Nichtvorhandensein von großen Konzernen gewisse Wertschöpfungsketten nicht in den Statistiken widerspiegeln, ist ein Problem, das alle ostdeutschen Bundesländer haben.
W+M: Rechnen Sie in den kommenden Monaten mit relevanten Investitionen oder Neuansiedlungen von in- oder ausländischen Unternehmen?
Reiner Haseloff: Es sind Gespräche am Laufen, auch mit Blick auf den bevorstehenden Kohleausstieg. Hier sind Investoren gefragt, die in alternative Bereiche einsteigen. Da ist einiges in Bewegung. Etwas Unsicherheit gibt es in der ja bundesweit relevanten Automobilindustrie, da gegenwärtig noch nicht endgültig absehbar ist, wohin der Trend bei den Antrieben der künftigen Automobilgenerationen geht. Aber Sachsen-Anhalt ist dabei gut aufgestellt.
W+M: Der Fachkräftemangel macht sich auch in Sachsen-Anhalt bemerkbar. In unserem letzten Gespräch vor einem Jahr forderten Sie die Unternehmen in Ihrem Land auf, aktiver um Auszubildende zu werben und sich stärker um den Nachwuchs zu kümmern. Ist Ihre Mahnung in der Wirtschaft erhört worden?
Reiner Haseloff: Es gibt Unternehmen, die haben das verstanden. Die organisieren vor Ort – etwa in Bitterfeld – Informationsbörsen für junge Menschen und auch Rückkehrer. Das soll jetzt auch in andere Regionen getragen werden – die Kammern und die Agentur für Arbeit unterstützen das. Aber ich bleibe dabei: Die Unternehmen selbst sind hier noch stärker gefragt. Sie müssen bereits in den Schulen auf die künftigen Auszubildenden zugehen und sich um sie kümmern. Viele neue Berufsbilder sind doch noch ziemlich unbekannt. Und sie sollten den jungen Fachkräften nach der Ausbildung eine echte Perspektive geben. Mit befristeten Verträgen ist das eher nicht zu erreichen. Dann muss man sich nicht wundern, wenn Abwanderung erfolgt.
„Das Bauhaus Dessau und die Moderne in Sachsen-Anhalt“
W+M: Ihr Land ist eine Säule im gerade begonnenen „Bauhausjahr 2019“. Wie haben sich das Land und Ihre Regierung darauf vorbereitet?
Reiner Haseloff: Das Land legt im Tourismusmarketing im laufenden Jahr den Schwerpunkt auf die Vermarktung des Bauhausjubiläums. Neben den Schwerpunkten in Dessau mit den vielen Originalbauten und dem neuen Bauhaus-Museum vermitteln wir mit dem Netzwerk „Das Bauhaus Dessau und die Moderne in Sachsen-Anhalt“ mit vielen weiteren Bauten die Breite und Vielfalt der 20er Jahre in Sachsen-Anhalt. Neben den Bauten wird eine Vielzahl von Veranstaltungen unter anderem in Dessau, Magdeburg und Halle Gäste ansprechen. Wir erwarten uns von der Vermarktung des Jubiläums weiter steigende Gästezahlen aus dem In- und Ausland sowie – dank der räumlichen Nähe – auch viele Tagesbesucher aus Berlin.
W+M: Welche Effekte erhoffen Sie sich vom Bauhausjahr?
Reiner Haseloff: Das Bauhaus ist ein Exportschlager mit ungeheurer Innovations- und Strahlkraft. Es hat weltweit die Architektur, die Kunst, das Design revolutioniert und ist bis in die heutige Zeit prägend. Die Bauhaus-Gründer haben ihre Schule in Dessau gebaut, weil ihnen hier die Möglichkeit gegeben wurde, Visionen umzusetzen und alles neu zu denken. Das Bauhaus ist das Geburtshaus der Moderne. Von hier aus wurde die Welt verändert. Es steht für Experimentierfreude, Kreativität, Glauben an das bessere Morgen, Mut und Offenheit. Die aktuelle Dachkampagne des Landes „Sachsen-Anhalt. Hier macht das Bauhaus Schule. #moderndenken“ knüpft an die geistige Haltung der Pioniere der Moderne an. Ziel der Kampagne ist es, unser Land als das Bundesland darzustellen, in dem die Idee des Bauhauses weiterlebt – in kreativen Köpfen und Menschen, die Neues wagen, quer- und vordenken, Wirtschaft und Lebensqualität gestalten und Weltoffenheit leben.
W+M: Die Kohlekommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt. Die Ministerpräsidenten der betroffenen ostdeutschen Länder hatten im Vorfeld vom Bund Strukturhilfen von rund 60 Milliarden Euro gefordert. Jetzt wird es insgesamt rund 40 Milliarden Euro geben. Wofür soll dieses Geld konkret ausgegeben werden?
Reiner Haseloff: Das sind zunächst einmal die Vorschläge der Kommission, die mit 20 Jahren Anpassungsbedarf rechnet, während die Ministerpräsidenten 30 Jahre zugrunde gelegt haben. Bund und Länder müssen die Vorschläge nun prüfen und die notwendigen Schritte zur Umsetzung beschließen. Wir haben da mehrere große Blöcke. Es gibt ein Sofortprogramm mit einem überschaubaren Volumen von 150 Millionen Euro. Das soll in diesem Jahr gestartet werden. Dann sind für diese Legislaturperiode 1,5 Milliarden Euro vorgesehen, als erste Scheibe, die in ein Maßnahmegesetz einfließen. 40 Milliarden Euro sollen durch konkrete Maßnahmen untersetzt werden. Sachsen-Anhalt allein hat dafür über 100 Projekte gemeldet, die aufsetzen auf den vor Ort bereits existierenden wirtschaftlichen Strukturen. Auch Strompreisdämpfungsmittel sind der Wirtschaft zugesagt worden. Darüber hinaus soll es einen Topf mit frei verfügbaren Mitteln für die nächsten 20 bis 25 Jahre geben, für die man jetzt noch keine Projekte benennen kann, weil man nicht voraussagen kann, was dann am Markt erforderlich sein wird.
Versorgungssicherheit und bezahlbare Energiepreise haben höchste Priorität.
W+M: Dem mitteldeutschen Revier steht durch das absehbare Ende des Braunkohleabbaus ein einschneidender Strukturwandel bevor. Haben Sie eine Vision für diese Region im Jahr 2040?
Reiner Haseloff: Es sollen Energiestandorte bleiben, die dann allerdings weitestgehend der CO²-Neutralität verpflichtet sind und der stofflichen Nutzung der Braunkohle. Hier wird es nach meiner Vorstellung eine ganz enge Kooperation unseres Mittelstands mit den Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstituten geben, die auf neue Antriebe und Erneuerbare Energien setzt. Wichtig ist aber auch, dass bei allen neuen Entwicklungen auf der Zeitschiene des Ausstiegs aus der Kohle kein Blackout entsteht. Versorgungssicherheit und bezahlbare Energiepreise haben höchste Priorität.
W+M: Sie pflegen einen engen Dialog mit den Menschen in Ihrem Land. Sie sprechen häufig direkt mit Ihnen über Sorgen und Ängste, die im Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik aufgekommen sind. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Wurzeln für die Sorgen vieler Menschen in Sachsen-Anhalt?
Reiner Haseloff: Die Sorgen liegen sicher nur bedingt in der Angst begründet, dass die Grundsicherung möglicherweise für den Einzelnen nicht mehr gewährleistet ist. Viele Menschen haben eher den Eindruck, dass der Fortgang der Flüchtlingskrise zu einer Überforderung der Gesellschaft führen wird. Und die Menschen wissen, dass die aktuelle Dämpfung des Problems nicht allein durch aktive Maßnahmen seitens der EU und Deutschlands eingetreten ist, sondern durch Maßnahmen Dritter. Sei es durch eingekaufte Leistungen, etwa die Flüchtlingsaufnahme durch die Türkei, oder restriktive Maßnahmen einzelner Staaten, wie Italien, das keine Flüchtlingsschiffe mehr anlegen lässt. Man weiß, dass das gesamte System nach wie vor fragil ist.
Dazu kommt, dass es viele Menschen gibt, die seinerzeit mit Stolz für das geeinte Deutschland eingetreten sind, weil es leistungsstark, friedlich und in Europa eingebunden ist, und die dieses Deutschland genau so erhalten wollen. Das ist eine legitime Meinungsäußerung. Das Parteienspektrum muss sich überlegen, wie es mit diesem Wunsch des eigentlichen Souveräns umgeht.
W+M: Kommen wir zurück in die nahe Zukunft: Befürchten Sie Auswirkungen des drohenden Brexit auf die Wirtschaft?
Reiner Haseloff: Großbritannien ist nach Polen der zweitwichtigste Exportpartner für uns. Ich bedaure sehr, dass es zu einem wie auch immer gearteten Brexit kommt. Insofern hat es eine Relevanz. Aber die Unternehmen sind nicht unvorbereitet. Ich sage auch – da wird sich im Alltag einiges zurechtrütteln, denn es gibt ja durchaus mit anderen Staaten jenseits der EU gute Handelsbeziehungen.
Für Sachsen-Anhalt ist Russland der wichtigste Rohstofflieferant
W+M: In der deutschen Wirtschaft wird der Ruf lauter, die Sanktionen gegen Russland zu überdenken und eine neue Etappe der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen einzuläuten. Wie stehen Sie dazu?
Reiner Haseloff: Ich habe die Strategie in dieser Schärfe immer mit Sorge gesehen, auch weil das russische Volk immer noch etwas anderes ist als die Administration dort. Für Sachsen-Anhalt ist Russland zudem der wichtigste Rohstofflieferant. Und durch den Kohleausstieg wird ganz Deutschland für die kommenden Jahrzehnte noch abhängiger sein von russischem Erdgas. Aus meiner Sicht wären wir gemeinsam gut beraten, schon aus diesem Grund zu vernünftigen Beziehungen zurückzukehren.
W+M: Noch eine Frage zur Bundespolitik: Ihre Partei hat in Annegret Kramp-Karrenbauer eine neue Bundesvorsitzende. Auf die deutschlandweiten Umfragewerte Ihrer Partei wirkt sich das positiv aus. Sollte es daher vorzeitig einen Wechsel an der Spitze der Bundesregierung geben?
Reiner Haseloff: Nein. Es ist derzeit so mühsam, in Deutschland Regierungen zu bilden. Wir haben im letzten Jahr zwei Anläufe dafür gebraucht. Daher sollte dieses Risiko nicht eingegangen werden. Wir haben so viel Gutes im Koalitionsvertrag stehen, das sollte jetzt erst mal abgearbeitet werden.
Interview: Karsten Hintzmann und Frank Nehring