Altmark: Historie trifft Zukunft- W+M-Serie: Ostdeutsche Regionen #3
Großinvestitionen wie Tesla, Intel oder TSMC beherrschen die Schlagzeilen über die ostdeutsche Wirtschaft. Doch wie sieht es in den Regionen abseits der Ballungsräume aus? Wirtschaft + Markt beleuchtet in einer neuen Serie die wirtschaftliche Entwicklung und Zukunftsperspektiven in den Randlagen Ostdeutschlands. Von Matthias Salm
Altmark: Historie trifft Zukunft
Die Altmark bezeichnet sich selbst gern als Wiege der Mark Brandenburg. Nun sucht die Region mit langer Historie Wege in die Zukunft. Da passt es, dass der Industrie- und Gewerbepark Altmark in Arneburg im letzten Jahr zu einem offiziellen Zukunftsort in Sachsen-Anhalt erkoren wurde.
13 Zukunftsorte hat das Land Sachsen-Anhalt bisher ausgezeichnet. Orte, an denen sich Cluster rund um zukunftsfähige Industrie- und Forschungskerne bilden. Die Altmark im Norden des Landes – die Region um die Städte Stendal, Salzwedel, Tangermünde und Gardelegen, eingerahmt zwischen Magdeburger Börde im Süden, dem niedersächsischen Wendland im Westen und der Elbe im Osten – ging lange Zeit leer aus. Mit der Auszeichnung des Industrie- und Gewerbeparks Altmark in Arneburg hat sich das nun geändert.
Ein Standort mit besonderer Geschichte: Hier war einst das größte Kernkraftwerk der DDR geplant. Schon in den 1970er Jahren begannen hierfür die Arbeiten etwa zwölf Kilometer vor den Toren der Hansestadt Stendal, noch 1990 waren mit dem Projekt 7.000 Menschen beschäftigt. Kurz nach der Wende wurde das Vorhaben endgültig beerdigt.
Stattdessen errichtete auf dem Gelände 2004 die Mercer Stendal GmbH eines der damals modernsten Zellstoffwerke der Welt. Mercer Stendal, Teil der amerikanisch-kanadischen Mercer International Group, verarbeitet dort jährlich rund 3,5 Millionen Festmeter Nadelholz zu Zellstoff, Bioenergie und verschiedene Biochemikalien. Bis zu 740.000 Tonnen Zellstoff pro Jahr produziert das Unternehmen mit mehr als 450 Beschäftigten, das Werk bildet den industriellen Schwerpunkt der ländlich geprägten Altmark.
Der Gewerbepark rund um das Zellstoffwerk darf sich auch deshalb Zukunftsort nennen, weil sich hier nicht alles allein um Zellstoff dreht: Das größte Kraftwerk für Biomasse Deutschlands sowie eine moderne Extraktionsanlage für Terpentin und Tallöl gehören ebenfalls zum Werk, das über den Selbstverbrauch hinaus Ökostrom ins öffentliche Netz einspeist. „Nirgendwo in Deutschland kommen Erneuerbare Energien in der industriellen Produktion so stark zum Einsatz wie im Landkreis Stendal“, erklärte das Unternehmen deshalb stolz im April 2023.
Rund um die größte Investition in der Altmark haben sich mittlerweile weitere Unternehmen angesiedelt. Seit 2006 produziert die Delipapier GmbH, eine Tochtergesellschaft des italienischen Papierkonzerns Sofidel, in Arneburg Hygienepapiere. Das Unternehmen Weltec betreibt am Standort eine Biomethanraffinerie. Insgesamt sind 25 Betriebe mit rund 1.200 Beschäftigten im Arneburger Industriepark heimisch, darunter beispielsweise auch die Arneburger Maschinen- und Stahlbau GmbH.
Die Altmark als ländlicher Raum
Der Altmarkkreis Salzwedel im Westen ist der am dünnsten besiedelte Kreis in Sachsen-Anhalt, der Landkreis Stendal im Osten der flächenmäßig größte. Beiden Teilen der Altmark ist eine ländliche Prägung gemein. Rund 500 Landwirtschaftsbetriebe sind es im Altmarkkreis, im Landkreis Stendal sogar um die 600. Ackerflächen und Wiesen bestimmen das Bild der Landschaft. Dementsprechend ist die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte in der Altmark ein wichtiger Industriezweig. Zahlreiche Betriebe der Ernährungswirtschaft sind wichtige Arbeitgeber für die Menschen in der Altmark.
Die Altmark-Käserei Uelzena GmbH beispielsweise wurde 1991 als Tochtergesellschaft der Uelzena eG am Standort Bismark im Landkreis Stendal errichtet. Hier werden Butter und Käse der Sorten Gouda und Edamer produziert. Die Milchwerke Mittelelbe gehören seit 1991 zur KRÜGER GROUP und stellen in Stendal u.a. Infant Nutrition, Milchpulver und Kaffeeweißer her.
Der Schwerpunkt der Altmärker Fleisch- und Wurstwaren GmbH in Stendal liegt auf regionale Spezialitäten. Ihr Filialnetz zieht sich bis ins benachbarte Brandenburg, Die DE-VAU-GE-Gesundkostwerk GmbH aus dem niedersächsischen Lüneburg, einer der bedeutendsten Handelsmarkenhersteller für Frühstückscerealien, gründete 1999 in Tangermünde ein Zweigwerk. Die Stendaler Landbäckerei GmbH unterhält heute mehr als 60 Filialen in Sachsen-Anhalt und ging 1990 aus dem VEB Backwarenbetrieb Stendal hervor.
Die Milchwerke Mittelelbe, die Altmärker Fleisch- und Wurstwaren GmbH und die Stendaler Landbäckerei GmbH wurden 2022 im NordLB-Ranking der 100 größten Unternehmen Sachsen-Anhalts ebenso gelistet wie die Paradiesfrucht GmbH mit Standorten in Salzwedel und Klötze. Die Paradiesfrucht GmbH wurde jüngst von der US-Firma Thrive Freeze Dry, einem weltweit führenden Hersteller von gefriergetrockneten Lebensmitteln, übernommen.
Die über die Grenzen der Altmark bekannteste Spezialität der Region ist allerdings der Salzwedeler Baumkuchen, dessen Geschichte bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Der Baumkuchen ist bis heute der wichtigste Werbeträger der Hansestadt. Als die Salzwedeler Baumkuchen GmbH mit ihrer über 70jährigen Geschichte Anfang 2023 wegen einer ungeklärten Inhaber-Nachfolge vor dem Aus stand, machte dies bundesweit Schlagzeilen. Mittlerweile produziert das Unternehmen aber unter neuer Führung wieder und liefert wie mehrere weitere Baumkuchen-Betriebe in Salzwedel das beliebte Feingebäck in alle Welt.
Eine unternehmerische Besonderheit in der Altmark stellt seit über 20 Jahren der Anbau von Mikroalgen in der Algenfarm Klötze GmbH & Co. KG dar. Algen wie die Chlorella oder Spirulina werden dort in einer der größten Mikroalgenfarmen in Europa angebaut.
Region sucht Anschluss
„Die Altmärker haben einen hohen Lokalstolz. Viele Unternehmen tragen den Zusatz „Altmark“ im Firmennamen“, weiß Carla Reckling-Kurz, Geschäftsführerin des Altmärkischen Regionalmarketing- & Tourismusverband zu berichten. Der Lokalpatriotismus hindert die Altmärker aber nicht daran, sich an die nahe liegenden Zentren auszurichten: Das sind die Landeshauptstadt Magdeburg, aber auch Berlin, auf niedersächsischer Seite die Industriestandorte Braunschweig und Hannover sowie vor allem das Volkswagen-Werk in Wolfsburg. Gerade in der westlichen Altmark wird aufgrund der unterschiedlichen Lohnstrukturen stark ins benachbarte Niedersachsen gependelt. Von dort sind es nach Hannover, Braunschweig oder Magdeburg mit dem Auto eine bis 1,5 Stunden Fahrtzeit. Nach Berlin und Hamburg braucht es per Bahn ebenfalls etwa 1,5 Stunden. Die Autostadt Wolfsburg grenzt praktisch an den Altmarkkreis Salzwedel und ist mit dem öffentlichen Nahverkehr zu erreichen. Die Nähe lockt daher auch die Zulieferindustrie.
Doch die Altmark wartet – und das gefühlt seit ewiger Zeit – dringlich auf eine verbesserte verkehrliche Infrastruktur. Zu den Wünschen zählt die so genannte „Amerikalinie Ost“ der Bahn, die Salzwedel und Stendal an die Seehäfen der Nordsee anbinden soll. Die Strecke erhielt ihren Namen, weil sie einst von Auswanderern aus dem Osten des Deutschen Reichs genutzt wurde, um nach Bremerhaven zu gelangen und von dort in Richtung USA einzuschiffen. Der Ausbau der während der deutschen Teilung komplett vernachlässigten Strecke ab 2025 harrt aber immer wieder der nötigen Finanzierung durch den Bund. Auf der Straße erweist sich der Ausbau der A 14 als unendliche Geschichte, zumindest die Anbindung von Stendal rückt aber zeitlich in greifbare Nähe. Ebenso wartet die Wirtschaft der Region auf de Ertüchtigung der Bundesstraßen B188 und B190(n), letztere, um Salzwedel an das Autobahnnetz anzubinden. Zudem ist die Altmark für Firmen- und Privatflieger über den Verkehrslandeplatz Stendal-Borstel und auf dem Wasserweg über den Stromhafen am Industrie- und Gewerbepark Altmark an der Elbe zu erreichen.
Mit der Fertigstellung der A 14 und der schon vorhandenen ICE-Verbindung rückt die Altmark zeitlich noch näher an Berlin heran. „Dieser Vorteil als Standort muss noch viel mehr erzählt und bekannt gemacht werden“, sagt Carla Reckling-Kurz. Zunächst aber steht Magdeburg im Fokus. Die Pläne, dort eine Chipfabrik des US-Konzern Intel zu errichten, strahlen in die Altmark aus. „Die Ansiedlung von Intel in Magdeburg verschafft dem Bundesland und damit den verbundenen Regionen einen unschätzbaren Aufmerksamkeits- und Imagegewinn“, hofft Christian Wiemann, Leiter der Stabsstelle Wirtschaftsförderung beim Altmarkkreis Salzwedel, auf positive Effekte für die Altmark.
Die Altmark lockt potenzielle Zulieferer und deren Beschäftigte mit günstigeren Immobilienpreisen und vorhandenen Gewerbeflächen gegenüber dem Großraum Magdeburg. Der einheimische Mittelstand, etwa das die Altmark prägende Handwerk, schaut aber nicht ganz sorgenfrei auf die Investitionen rund um Intel. Fachkräfteabwanderung ist auch im Mittelstand der Altmark ein Thema von brennender Aktualität.
Breite Palette an Unternehmen
Bis 2023 legte die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt zu und die Altmark hatte mit guten Zuwachsraten ein gerüttelt Maß Anteil daran. Die Nachfrage nach Gewerbeflächen steigt, berichten die Wirtschaftsförderer der altmärkischen Landkreise. Zur positiven Entwicklung tragen Betriebserweiterungen und Neuansiedlungen bei wie die der AIM Recycling Germany GmbH, eine hundertprozentigen Tochter der kanadischen American Iron & Metal Inc. In der Hansestadt Gardelegen ist das Unternehmen auf Metallrecycling spezialisiert.
Neben der Ernährungsindustrie sind Stahl- und Maschinenbau, Metallbe- und -verarbeitung, Holz- und Papierindustrie, Glasbe- und -verarbeitung, Gummi- und Kunststoffproduktion, Automobilzulieferer und in zunehmendem Maße die Energiewirtschaft industrielle Schwerpunkte. Zu den wichtigsten Unternehmen zählen u.a. im Landkreis Stendal das Familienunternehmen ZORN INSTRUMENTS, ein traditionsreicher Hersteller von Prüfgeräten, der Spezialist für den Sonderanlagenbau MINDA in Tangermünde, die Gießerei TechnoGuss GmbH in Tangerhütte oder die Havelberger Fahrzeug- und Maschinenbau GmbH, die Annahmebunker, Zwischenspeicher und Dosiertechnik für die verschiedensten Schüttgüter fertigt. Der Straßenbauer OST BAU in Osterburg zählt mit rund 500 Mitarbeitern zu den größten Arbeitgebern der Altmark.
Im Altmarkkreis ist der größte Arbeitgeber der Region, der VW-Zulieferer Boryszew Kunststofftechnik Deutschland GmbH in Gardelegen, ansässig. Ebenfalls dort fertigt die Eldisy GmbH Dichtungssysteme sowie Spritzgussteile für die Automobilindustrie, die NTN Antriebstechnik GmbH liefert Komponenten für die Antriebstechnik.
Die CNTN Antriebstechnik GmbH Teil der portugiesischen Unternehmensgruppe BA Glass, produziert in Gardelegen Glasbehälter für die Lebensmittelindustrie. Das ehemalige Ceritolwerk Mieste wurde nach 1990 vom Schmierstoffhersteller CARL BECHEM GmbH aus dem Ruhrgebiet übernommen. Die Priro Group, ein Spezialst für Zerspanungstechnik aus Wolfsburg, investierte jüngst in die Erweiterung ihres Werks in Salzwedel. Die portugiesische Sonae Arauco wiederum ist eines der weltweit wichtigsten Unternehmen in der Holzwerkstoffindustrie und unterhält in Nettgau seinen wichtigsten Standort in Deutschland. Umstritten sind hingegen in der Region die Pläne der Salzwedeler Neptune Energy Deutschland GmbH, einem Erdöl- und Erdgasförderer, künftig auch Lithium aus der altmärkischen Tiefe zu gewinnen.
Tourismus im Aufwind
Die naturbelassenen Landschaften in der Altmark locken zunehmend Touristen. Die Zahl der Übernachtungen stieg 2023 weiter an. „Die Zahlen sind besser als je zuvor“, freut sich Carla Reckling-Kurz als Geschäftsführerin des Altmärkischen Regionalmarketing- & Tourismusverbands. Wer abseits des Massentourismus Ruhe sucht, findet in der Altmark Ziele wie das Grüne Band im ehemaligen Grenzgebiet, das Biosphärenreservat Drömling, das Landschaftsschutzgebiet Arendsee, dem mit über fünf Quadratkilometern Wasserfläche größten natürlichen See in Sachsen-Anhalt, das Biosphärenreservat Mittelelbe mit dem populären Elbe-Radweg und den Elb-Havel-Winkel. Touren zu den acht historischen Hansestädten In der Altmark sind beliebte Angebote für Kurzreisende.
Den Wirtschaftsfaktor Tourismus weiter auszubauen, sieht Reckling-Kurz als eines der Ziele für die Wirtschaftsförderung der kommenden Jahre: „Wir sind bestrebt, neue Beherbungskapazitäten in der Altmark zu akquirieren und die Übernachtungszahlen weiter zu erhöhen.“ Denn in der Altmark gibt es nicht nur wirtschaftlich viel zu entdecken.
Weitere Infos zur Altmark
Region: Altmarkkreis Salzwedel (82.457 E.), Landkreis Stendal (110.291)
Städte: Stendal (39.105 E.), Salzwedel (23.543E.), Gardelegen (22.054 E.)
Nachbarregionen: Landkreis Prignitz (Brandenburg), Landkreis Ostprignitz-Ruppin (Brandenburg), Landkreis Havelland (Brandenburg), Landkreis Lüchow-Danneberg (Niedersachsen), Landkreis Gifhorn (Niedersachsen), Landkreis Uelzen(Niedersachsen) Landkreis Börde (Sachsen-Anhalt), Landkreis Jerichower Land (Sachsen-Anhalt)
Branchen: Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft, Glasindustrie, Gummi- und Kunststoffindustrie. Energiewirtschaft, Metallbau, Holz- und Papierindustrie, Bauwirtschaft, Automotivezulieferer, Maschinen- und Anlagenbau.
Verkehr: Autobahn A 14, Bundesstraßen B 188, B 189, B 71, B 190, B 248 und B 107
ICE-Anbindung Berlin-Hannover, Bundeswasserstraße Elbe.
Arbeitslosenquote: Landkreis Stendal 9,2 Prozent, Altmarkkreis 6,7 Prozent