Vorpommern: Mit Birkenstock und Bioökonomie – W+M-Serie: Ostdeutsche Regionen #2
Großinvestitionen wie Tesla, Intel oder TSMC beherrschen die Schlagzeilen über die ostdeutsche Wirtschaft. Doch wie sieht es in den Regionen abseits der Ballungsräume aus? Wirtschaft + Markt beleuchtet in einer neuen Serie die wirtschaftliche Entwicklung und Zukunftsperspektiven in den Randlagen Ostdeutschlands. Von Matthias Salm
Vorpommern: Mit Birkenstock und Bioökonomie
Lange Zeit hinkte Vorpommern wirtschaftlich hinterher. Zuletzt konnte die Region aber den Abstand zum wirtschaftlich stärkeren Westen Mecklenburg-Vorpommerns verkürzen. Die neue Produktionsstätte der weltweit renommierten Schuhmarke Birkenstock in Pasewalk soll nun weitere Investoren in die Grenzregion locken.
Seit einem halben Jahr produziert Birkenstock, ein global player mit seinen weltweit rund 6.200 Beschäftigten, nun in seinem neuen Werk in Pasewalk im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Mit einem Investitionsvolumen von knapp 110 Millionen Euro ist der Bau im Industriepark Berlin-Szczecin die bisher größte Einzelinvestition in der Geschichte des Unternehmens aus Linz am Rhein. Zunächst startete das Werk mit einem Team von etwa 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Bis zu 6,4 Millionen Paar Schuhe pro Jahr sollen einmal von Vorpommern aus den Weg zum Kunden finden.
Birkenstock ist nicht der einzige Investor in Pasewalk. Im Industriepark ließ sich 2022 bereits die TOPREGAL GmbH nieder. Mehr als 15 Millionen Euro ließ sich das Familienunternehmen aus Filderstadt bei Stuttgart das Engagement im hohen Norden kosten. Der Spezialist für Regalsysteme nutzt in Pasewalk vier Hallen zur Lagerung und Versendung von Waren sowie für Veredelungen der TOPREGAL-Schwerlastregale. 40 Prozent ihrer Regale exportieren die Schwaben ins europäische Ausland. Da kommt der Standort in Vorpommern mit kurzen Wegen nach Dänemark, Norwegen, Schweden oder Polen gerade recht.
Besonders die Ansiedlung von Birkenstock soll sich für Vorpommern als Initialzündung erweisen, „weil das Unternehmen weit über die Region hinausstrahlt“, wie Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer im Interview mit Wirtschaft + Markt jüngst betonte. Für ihn ist der Stein nun ins Rollen gekommen. „Wir haben jahrelang versucht, die Grenzregion zu Polen und damit eine Metropolregion als Standortfaktor zu entwickeln. Auf unserer Seite hat es mit großen Ansiedlungen nie funktioniert“, räumt Meyer ein. „Nachdem sich aber TOPREGAL dort ansiedelte, kam nun noch Birkenstock dazu und weitere Interessenten haben sich auch schon gemeldet“, sieht Meyer gute Chancen für eine Kehrtwende für den Wirtschaftsstandort Vorpommern.
Dass der Osten des Landes lange Zeit als Sorgenkind der wechselnden Schweriner Regierungen galt, verdeutlicht allein schon die Tatsache, dass die Landesregierung mit einem eigenen „Ostbeauftragten“ die Entwicklung begleitet. Der gebürtige Greifswalder SPD-Politiker Heiko Miraß fungiert seit November 2021 als Parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern und das östliche Mecklenburg. Ein eigenes Beratergremium für die östlichen Landesteile steht im dabei zur Seite.
Miraß streicht ebenfalls gern die Fortschritte an der östlichen Landesgrenze heraus: „Ja, es ist immer noch schwieriger im östlichen Landesteil, aber der Abstand wird geringer“, bilanzierte Miraß unlängst gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Der Abstand beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf habe sich verringert, die Arbeitslosigkeit im Landkreis Vorpommern-Greifswald sei stärker gesunken als im Landesdurchschnitt. Miraß wünscht sich, dass die die industriellen Kerne wie die Eisengießerei in Torgelow und die der MAT Foundries Europe in Ueckermünde sowie die Elektrowerke Hanning in Eggesin erhalten bleiben und gleichzeitig der Branchenmix erweitert werde, etwa durch Zulieferer für die Offshore-Windkraftindustrie.
Sonnendeck und Kraftwerk
Traditionell stehen die beiden Landkreise Vorpommern-Greifswald und Vorpommern-Rügen für den Schiffbau, die Hafenwirtschaft, die Gesundheitsökonomie sowie die Ernährungsbranche. Und natürlich für den Tourismus, der 2024 ganz im Zeichen des 250.Geburtstags von Caspar David Friedrich steht. Der Großmeister der Romantik, der am 5. September 1774 in Greifswald geboren wurde, wird ganzjährig mit Veranstaltungen gewürdigt und soll das Tourismusgeschäft in diesem Jahr kräftig ankurbeln helfen.
Der Osten des Landes zählt schließlich immer noch zu den beliebtesten Reiseregionen der Deutschen: 6,5 Millionen Übernachtungen zählte 2023 die Region Rügen/Hiddensee mit der neuen Attraktion des Skywalks am Königsstuhl, 10,3 Millionen statteten Vorpommern inklusive Usedom einen Besuch ab. Doch der Landestourismusbeauftragte Tobias Woitendorf warnte jüngst auch die Verantwortlichen in Vorpommern, dass es der Tourismusbranche an Dynamik und Erneuerung mangele. Alleine den Erfolg zu verwalten, reiche langfristig nicht aus.
War Vorpommern lange das selbst ernannte Sonnendeck Deutschlands, soll die Region bald Teil des Grünen Kraftwerks Deutschlands reüssieren. Mecklenburg-Vorpommern wandelt sich zum Energieland, auch im östlichen Teil. Mancherorts kollidieren so die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, wie etwa bei dem umstrittenen LNG-Terminal auf Rügen, das den auf Ruhe und Naturbelassenheit bedachten Touristikern ein Dorn im Auge ist.
Die eigentlichen künftigen Energiequellen Vorpommerns sind aber die Windparks auf hoher See und die Produktion von Wasserstoff an Land. Firmen wie H2APEX oder das französische Unternehmen Lhyfe planen den Betrieb von Elektrolyseuren zur Wasserstoff-Produktion in Lubmin. Das Pipeline-Projekt „flow hydrogen“ soll den Wasserstoff von Lubmin aus dann in den ostdeutschen Raum verteilen. Auch von Rostock ist eine Pipeline-Verbindung nach Lubmin geplant. Der Landkreis Vorpommern-Rügen zählt ohnehin schon zu den vom Bund geförderten HyPerformer-Pilotregionen für die Nutzung von Wasserstoff
Der Berliner Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz treibt unterdessen an der Küste die Netzanbindung Ostwind 3 für den von Iberdrola geplanten Windpark nördlich der Insel Rügen sowie den Bau eines Umspannwerks in der Gemeinde Brünzow voran. Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung von 50Hertz, sieht eine wachsende Bedeutung des Standorts Lubmin für die Energiewende: „Die Region um Lubmin wird in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Drehkreuz für Strom aus Erneuerbaren Energien. Damit sind regionale Wertschöpfung und Chancen auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung dieser Energieregion durch Unternehmensansiedlungen verbunden.“ Auch ein als Bornholm Energy Island bezeichnetes Projekt, bei dem zwei Gigawatt Strom aus Offshore-Windparks vor der Küste Bornholms nach Deutschland fließen werden, soll in Vorpommern anlanden.
Deutschlands nordöstlichster Seehafen, der Mukran Port auf der Insel Rügen, wird ebenfalls von der Energiewende profitieren. Er zählt schon jetzt zu den bedeutendsten Offshore-Häfen im Ostseeraum. Der östlichste Tiefwasserhafen im Land ist erste Anlaufstelle für die Offshore-Windindustrie.
Maritimes und Medizin
Die sechs Werftenstandorte in Mecklenburg-Vorpommern haben turbulente Zeiten hinter sich. Die vorpommerschen Werften in Stralsund und Wolgast machen da keine Ausnahme. Am ehemaligen MV Werften-Standort Stralsund ist der Maritime Industrie- und Gewerbepark „Volkswerft“ entstanden. Dort hat sich beispielsweise die Strela Shiprepair angesiedelt, die bereits zahlreiche Handelsschiffe runderneuert hat. Ein Unternehmen, das aus der ehemaligen Abteilung Schiffsreparatur der MV Werft Stralsund hervorgegangen ist. Die Ostseestaal GmbH & Co. KG ist hier bereits seit 1996 auf die Herstellung und Lieferung von geschnittenen und dreidimensional geformten Blechen für Schiffbau, Industrie und Erneuerbare Energien spezialisiert.
Die Peenewerft in Wolgast haben seit ihrer Gründung 1948 mehr als 600 Boote und Schiffe verlassen. Die Werft ist heute spezialisiert auf den Neubau und die Reparatur von Marineschiffen. Gegenwärtig wird die Peenewerft durch die Überdachung eines bereits vorhandenen Trockendocks weiter aufgewertet.
Nicht vergessen werden darf in der Liste der vorpommerschen Schiffsbauer die 1990 gegründete HanseYachts AG in Greifswald. Sie zählt heute zu den größten Herstellern hochseetauglicher Segel- und Motoryachten aus Serienproduktion weltweit.Die Gesundheitswirtschaft mit einer Bruttowertschöpfung von insgesamt 6,5 Milliarden Euro wiederum gilt neben dem Energiesektor als wichtigste Zukunftsbrache in Mecklenburg-Vorpommern. Rund 160.000 Arbeitsplätze hängen davon ab, das sind rund 21,3 Prozent aller Arbeitsplätze in der Gesamtwirtschaft des Landes. Einen höheren Anteil an der Beschäftigung erzielt die Branche in keinem anderen Bundesland. In Vorpommern haben sich neben dem Gesundheitstourismus auch einige Pharmafirmen als tragende Säulen der Branche herauskristallisiert.
Die CHEPLAPHARM Gruppe in Greifswald etwa ist weltweit führend in der Akquisition von Markenmedikamenten. Zuletzt erwarben die Ostseestädter das Zyprexa®-Portfolio von Eli Lilly für einen Kaufpreis von rund 1,3 Milliarden Euro. CEVA, eines der fünf größten veterinärpharmazeutischen Unternehmen weltweit, erforscht auf der Insel Riems innovative Impfstoffe für Haus- und Nutztiere. Die Insel Riems verfügt ohnehin über eine lange Tradition in der Forschung zu Tiergesundheit und Tierseuchenprävention. 1910 gründete Friedrich Loeffler hier im Auftrag des preußischen Kultusministeriums sein Institut zur Erforschung der Maul- und Klauenseuche. Heute setzt das Friedrich-Loeffler-Institut als „Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit“ diese Tradition fort.
Fisch und Zuckerrüben
Eines der ältesten Unternehmen in Vorpommern ist die Zuckerfabrik in Anklam, die 1883 als Aktiengesellschaft Pommersche Zuckerfabrik Anklam gegründet wurde. Seit 2009 ist sie Teil des niederländischen Konzerns Royal Cosun. Dort werden Rüben zu Kristallzucker, Dicksaft und Ethanol verarbeitet. In der Zuckerrübenkampagne werden jährlich etwa zwei Millionen Tonnen Zuckerrüben im Anklamer Werk verarbeitet. Bioethanol und Biomethan entstehen dabei ganzjährig.
Die Cosun Beet Company GmbH & Co. will aktuell bis zu 90 Millionen Euro in die Erweiterung ihrer Zuckerfabrik investieren. Diese soll in der Zukunft als grüne Bioraffinerie fungieren. Die Niederländer arbeiten dazu eng mit dem Bioökonomiezentrum Anklam zusammen, das 2020 in Murchin auf dem Gelände des ehemaligen Relzower Schlachthofes eröffnet wurde. Konkret geht bei den gemeinsamen Forschungsaktivitäten um die Herstellung von Bioethanol in Pharmaqualität. Nur eines von mehreren innovativen Projekten, mit denen sich Vorpommern in eine Vorreiterrolle in der Bioökonomie positionieren will.
Daneben produziert Vorpommern natürlich weiterhin viele traditionelle Lebensmittel, die zum Teil bundesweit bekannt sind: Hiddenseer Kutterfisch, Joghurt- und Quarkspezialitäten der Molkerei Naturprodukt GmbH aus Poseritz oder die handwerklich gebrauten Biere der Störtebeker Brauerei in Stralsund.
Plasma und Kernfusion
Die Bioökonomie treibt auch das Bündnis Plant³ voran, dass sich die hochwertige Veredelung von pflanzlichen Rohstoffen zum Ziel gesetzt hat. Hinter Plant³ verbirgt sich ein Bündnis aus rund 100 Partnern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Federführend sind die Universität Greifswald, die Wirtschaftsfördergesellschaft Vorpommern und der Wissenschafts- und Technologiepark Nord°Ost°.
Gerade Greifswald gilt mit seiner Universität und seinen außeruniversitären Instituten als Forschungsschmiede im östlichen Mecklenburg-Vorpommern. Das Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie (INP) gehört beispielsweise weltweit zu den führenden Forschungsinstituten im Bereich physikalischer Plasmen. Es ist u.a. am Projekt „CAMPFIRE“ beteiligt, das sich auf Energieumwandlungs- und Speichertechnologien sowie Energiesysteme auf Basis von grünem Ammoniak fokussiert. Im Forschungsvorhaben „biogeniV“ entwickelt das INP Technologien zur Herstellung grüner Kraftstoffe wie Biomethanol aus biogenen Reststoffen.
Und schließlich ist Greifswald Heimat der Fusionsforschung, bei der aus der Verschmelzung von Atomkernen Energie gewonnen werden soll. Im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik wird der Weg der magnetischen Fusion verfolgt. Wendelstein 7-X heißt die Anlage vom Typ Stellarator, die hier auf ihre Kraftwerkseignung untersucht wird.
Weitere Infos zu Vorpommern
Region: Landkreis Vorpommern-Greifswald (237.355 E., Dez.2022), Landkreis Vorpommern-Rügen (227.683 E., Dez.2022)
Städte: Greifswald (59.691 E.), Stralsund (59.363 E.), Ribnitz-Damgarten (15.721 E.), Bergen auf Rügen (13.689 E.)
Nachbarregionen: Landkreis Rostock, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, Landkreis Uckermark (Brandenburg), Woiwodschaft Westpommern (Polen)
Branchen: Landwirtschaft, Energie, Ernährung, Gesundheit, Tourismus, Hafenwirtschaft, Schiffbau
Verkehr: Autobahnen A 20 und A 11
Gewerbegebiete: 4
Arbeitslosenquote: Vorpommern-Greifswald (9,9 Prozent) Vorpommern-Rügen (10,3 Prozent)