Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff äußert sich im W+M-Interview zu den hohen Energiepreisen, der Transformation der Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt und dem Kampf gegen den Fachkräftemangel.
W+M: Herr Ministerpräsident, das Jahr 2023 geht zu Ende. Welche Branchen in Sachsen-Anhalt haben Ihnen in diesem Jahr Hoffnung, welche Sorgen bereitet?
Dr. Reiner Haseloff: Nach wie vor haben wir in Sachsen-Anhalt viele Ansiedlungserfolge zu verzeichnen – man denke nur an die geplante Chipfabrik von Intel in Magdeburg. Dennoch ist die aktuelle Wirtschaftsentwicklung unbefriedigend. Da gibt es nichts zu beschönigen. So ist das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2023 in Sachsen-Anhalt preisbereinigt um 3,2 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gesunken. Dies ist vor allem auf Umsatzrückgänge im Verarbeitenden Gewerbe und im Handel zurückzuführen. Wir haben zudem das Problem, dass in Sachsen-Anhalt energieintensive Industrien prägend sind wie z. B. die Chemische Industrie.
W+M: Was muss geschehen?
Dr. Reiner Haseloff: Wichtig ist es jetzt, den Blick nach vorn zu richten. Für eine nachhaltige Erholung im Bereich der energieintensiven Branchen ist eine Entspannung bei den Energiepreisen notwendig.
W+M: Die Ansiedlung von Intel in Magdeburg hat viel Euphorie ausgelöst. Was versprechen Sie sich von der geplanten Chipfabrik?
Dr. Reiner Haseloff: Von der Ansiedlung von Intel profitiert die regionale Wirtschaft insgesamt. Daher ist die Euphorie durchaus berechtigt. Man darf nicht vergessen, dass zu den Arbeitsplätzen, die bei Intel direkt entstehen, viele weitere indirekte Arbeitsplätze im Umfeld kommen. Was zudem berücksichtigt werden sollte: Hier entstehen moderne, hochqualifizierte Jobs. Insofern bringt die Ansiedlung auch einen gewaltigen Innovationsschub im wissenschaftlich-technischen Bereich. Wir sehen das jetzt schon an den Kooperationen, die mit den Universitäten und Hochschulen geknüpft werden.
W+M: Die Bedingungen am Industriestandort Deutschland stehen gegenwärtig massiv in der Kritik. Wie sind Sachsen-Anhalt dennoch Ansiedlungserfolge wie Intel und andere gelungen?
Dr. Reiner Haseloff: Wir sollten den Industriestandort Deutschland auch nicht zu schlecht reden. Diese Tendenz gibt es leider. Wir haben bei uns hochqualifizierte Fachkräfte, eine leistungsfähige Infrastruktur und verlässliche Rahmenbedingungen für Investoren. Für Sachsen-Anhalt sprechen zusätzlich die guten Standortbedingungen im Herzen Europas, eine passgenaue Verkehrsinfrastruktur in den Bereich Autobahn, Schiene, Wasserstraße und die Nähe zum Flughafen Halle-Leipzig sowie eine hervorragende Wissenschaftslandschaft auch in den Nachbarländern. Abgesehen davon haben wir uns mächtig ins Zeug gelegt und das Vorhaben zur Chefsache gemacht mit einer Stabsstelle in der Staatskanzlei. Es gab eine sehr gute und reibungslose Zusammenarbeit zwischen dem Land, der Stadt Magdeburg und auch dem Bund, der uns intensiv unterstützt hat.
W+M: Wie stehen Sie zur Kritik an den Subventionen für Intel?
Dr. Reiner Haseloff: Was die Subventionen betrifft: Es wäre naiv zu glauben, man könnte eine Investition wie die von Intel ohne deutliche Subventionen bekommen. Denken Sie nur an die massiven Subventionen in den USA durch den Inflation Reduction Act.
W+M: Gegenwärtig wird befürchtet, dass Unternehmen aufgrund der Standortbedingungen abwandern – in Sachsen-Anhalt gab es solche Meldungen etwa rund um die SKW Piesteritz GmbH oder beim Solarunternehmen Meyer Burger.
Dr. Reiner Haseloff: Ohne Zweifel befinden sich gerade die energieintensiven Unternehmen in Deutschland in einer schwierigen Lage. Es sind aber nicht nur die Energiepreise, sondern auch die hohen Subventionen, die in anderen Ländern gezahlt werden. Auch wenn Unternehmen wie SKW Piesteritz und Meyer Burger derzeit noch keine Schließung von Standorten in Sachsen-Anhalt vorgesehen haben, benötigen wir dennoch eine schnelle Entlastung für die Unternehmen in Deutschland.
W+M: Was kann die Landesregierung konkret tun?
Dr. Reiner Haseloff: Ich habe neben einer Senkung der Stromsteuer auch die Einführung eines Brückenstrompreises ins Gespräch gebracht. Als Land sind wir hierzu sowohl im Kontakt mit der Bundesregierung wie auch mit der EU. Zusätzlich benötigen wir einen deutlichen Zubau bei den erneuerbaren Energien. Die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien war übrigens auch ein Aspekt, auf den Intel bei seiner Ansiedlung Wert gelegt hat. Hier ist Sachsen-Anhalt sehr gut aufgestellt.
W+M: Wie drückt sich das in Zahlen aus?
Dr. Reiner Haseloff: Sachsen-Anhalt gehört zur absoluten Spitzengruppe bei der Nutzung regenerativer Energien. So liegen wir bei der installierten Leistung je Einwohner bei der Windkraft auf Platz zwei unter den Bundesländern, bei der Photovoltaik auf Platz drei. Wir haben beispielsweise aktuell rund 2.800 Windenergieanlagen mit einer installierten Leistung von zirka 5,3 GW im Land. Bei der Repoweringquote sind wir momentan sogar führend in Deutschland.
W+M: Die Chemieparks in Leuna, Bitterfeld und Schkopau bilden das Rückgrat der Wirtschaft im Land. Wie werden sie die enorme Herausforderung der Transformation der Chemieindustrie bewältigen können?
Dr. Reiner Haseloff: Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Chemieparks die Transformation bewältigen werden. Hier ist bereits vieles in Angriff genommen worden: Von der Nutzung regenerativer Energien über Investitionen in die Nutzung Grünen Wasserstoffs bis hin zum Bau der weltweit ersten Bioraffinerie in Leuna. Es gibt ein großes kreatives Potential und unter diesem Aspekt sehe ich die Chemieparks auf einem guten Weg. Sorgen bereitet mir aber auch hier die aktuelle Situation auf dem Energiemarkt. Hier müssen die Unternehmen schnell entlastet werden. Das kann Sachsen-Anhalt aber wie gesagt nicht allein regeln, sondern nur im Zusammenwirken mit dem Bund und der EU.
W+M: Das Center for the Transformation of Chemistry (CTC) im sächsischen Delitzsch soll auch einen Standort in Sachsen-Anhalt bekommen. Welche Effekte erhoffen Sie sich?
Dr. Reiner Haseloff: Vom Großforschungszentrum CTC erwarte ich, dass es den wissenschaftlichen Hintergrund für den Transformationsprozess liefert. Ziel ist es, Versorgungssicherheit für Chemieprodukte durch eine nachhaltige synthetische Chemie auf der Basis einer Kreislaufwirtschaft zu gewährleisten. Da Sachsen-Anhalt Chemieland ist, ist es nur gerechtfertigt, dass es einen Standort des CTC bei uns gibt. Wir gehen davon aus, dass hier rund 300 gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Durch das Zusammenwirken von Forschung und Unternehmen kann so der Grundstein für eine moderne, nachhaltige und leistungsfähige Chemieindustrie der Zukunft gelegt werden. Denn die Chemie wird für den Industriestandort Deutschland auch künftig unverzichtbar sein.
W+M: Sachsen-Anhalt ist als Standort für Batteriezellenfertigung und Speicherlösungen bestens positioniert. Liegt hier ein Zukunftsmarkt für das Land?
Dr. Reiner Haseloff: Ganz gewiss. Das ist ein Zukunftsmarkt und wir sind dabei. Da gibt es z. B. mit Tesvolt in Lutherstadt Wittenberg ein junges, aufstrebendes Unternehmen, das Speicherlösungen anbietet und sehr erfolgreich am Markt ist. Und in Barleben hat die Horiba-Gruppe ein Kompetenzzentrum für Batterie- und Brennstoffzellen aufgebaut. Weitere Beispiele ließen sich nennen. Energiewende, das sind eben nicht nur der Ausbau von Windkraft und Photovoltaik, sondern auch Investitionen in Speicher. Sie sind hier ein ganz wichtiger Baustein.
W+M: Die Ost-Länder haben eine Kooperation beim Thema Wasserstoff beschlossen. Welche Hoffnung verknüpfen Sie mit dem Aufbau der Wasserstoffwirtschaft?
Dr. Reiner Haseloff: Wenn wir aus der Nutzung fossiler Energieträger aussteigen und die Klimaziele erreichen wollen, sind Alternativen zu Gas, Öl und Kohle notwendig. Grüner Wasserstoff ist eine solche Alternative. Er kann uns zumindest zu einem Teil unabhängig von Energieimporten machen. Insofern ist der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft ein essentieller Bestandteil der Energiewende und der Transformation der Kohleregion im Süden unseres Landes. Allerdings benötigt der Aufbau entsprechender Infrastrukturen Zeit und ist nicht von heute auf morgen zu bewältigen.
W+M: Die Wirtschaft klagt über die ausufernde Bürokratie. Was sind die Lösungsansätze in Sachsen-Anhalt?
Dr. Reiner Haseloff: Man muss wissen, dass wir in dieser Hinsicht in Sachsen-Anhalt nicht schalten und walten können, wie wir das vielleicht gern möchten. Die meisten Bürokratielasten entstehen durch entsprechende Regelungen des Bundes oder der EU. Dort müssen wirksame Maßnahmen zum Bürokratieabbau ergriffen werden. Aber natürlich sind wir auch im eigenen Wirkungsbereich aktiv, z. B. mit dem Leitfaden „Mittelstandsfreundlichkeit und Unternehmensorientierung in Sachsen-Anhalt“. Er soll dem Abbau bürokratischer Hemmnisse gerade im Hinblick auf den Mittelstand dienen.
W+M: Fachkräftegewinnung ist ein großes Thema. Hat Sachsen-Anhalt hier Lösungen insbesondere für den kleinen Mittelstand?
Dr. Reiner Haseloff: Der Fachkräftemangel ist ein bundesweites Problem und es wäre unredlich, zu behaupten, wir hätten jetzt in Sachsen-Anhalt das Patentrezept gefunden. Wir haben jedoch das Problem frühzeitig erkannt und reagiert. So haben wir z. B. bereits 2010 einen Fachkräftesicherungspakt geschlossen. Dort arbeiten wir mit den Kammern, den Kommunen und Gewerkschaften zusammen. Und mit der Landesinitiative „Fachkraft im Fokus“ bringen wir Fachkräfte und Unternehmen zusammen. Darüber hinaus gibt es kleine, innovative Projekte wie z. B. die Praktikumsprämie für Schülerinnen und Schüler. Hier gibt es 120 Euro je Woche für ein Praktikum in einem Handwerksbetrieb. Daraus sind sogar nach Schulabschluss schon Lehrverträge mit dem ehemaligen Praktikumsbetrieb entstanden.
W+M: Droht der Mittelstand im Wettbewerb mit den Großkonzernen bei den Fachkräften auf der Strecke zu bleiben?
Dr. Reiner Haseloff: Natürlich gibt es eine gewisse Konkurrenz. Allerdings unterscheiden sich Anforderungs- und Qualifikationsprofil oft auch deutlich. Wir benötigen beides; das Handwerk wie die Großansiedlung. Gemeinsam tragen sie zu einem gesunden Mix der Wirtschaftsstruktur unseres Landes bei. Ziel der Landesregierung ist es daher, dass sowohl der Handwerksbetrieb wie das international agierende Großunternehmen ausreichend Fachkräfte in Sachsen-Anhalt finden.
W+M: Sind die hohen Umfragewerte der AfD in Sachsen-Anhalt eigentlich ein Thema bei Investorengesprächen im Land?
Dr. Reiner Haseloff: In solchen Gesprächen geht es in erster Linie um Standortbedingungen oder Fördermöglichkeiten. Aber natürlich spielt auch das politische Umfeld eine Rolle. Ich mache dann immer deutlich, dass Sachsen-Anhalt von einer verlässlichen und breiten Koalition der Mitte regiert wird. Was die sogenannten Protestwähler betrifft, so gehört es nun einmal zum Wesen von freien Wahlen, dass sie gelegentlich zum Anlass genommen werden, Protest zu artikulieren. Ob das der richtige Weg ist, kann hinterfragt werden, auf jeden Fall ist es legitim. Wählerbeschimpfung ist daher für mich keine Option. Vielmehr muss es darum gehen, durch eine gute Politik die Unzufriedenen und Enttäuschten zurückzugewinnen.