Automobilzulieferindustrie: Betriebsschließungen drohen trotz voller Auftragsbücher

Die Situation in der Automobilzulieferindustrie ist bizarr: Obwohl ein Großteil der Unternehmen volle Auftragsbücher hat, kann es passieren, dass viele dieser Firmen demnächst ihre Produktion drosseln oder gar einstellen. Hauptursache sind die explodierenden, unkalkulierbar gewordenen Energiekosten. Darauf weist das sächsische Automobilzuliefernetzwerk AMZ hin. 

Das Herunterfahren oder Stilllegen von Rohmaterial- bzw. Teilefertigungen betrifft in der eng verflochtenen Automobilproduktion nicht nur den jeweiligen Betrieb und dessen Mitarbeiter, sondern verursacht einen folgenschweren Dominoeffekt in der gesamten Kette. „Wir haben bereits in den letzten Jahren erlebt, dass das Fehlen eines einzelnen Bauteils den gesamten Produktionsprozess zum Erliegen bringt. Jetzt droht wieder ein solches Szenario. Damit ist die Situation nicht nur für energieintensive Unternehmen existenzgefährdend, sondern auch für die weiteren an der Fahrzeugherstellung beteiligten Firmen“, sagt AMZ-Netzwerkmanager Dirk Vogel.

Die Weitergabe höherer Energiepreise an die direkten Kunden und über die großen Systemlieferanten bis zu den Automobilherstellern selbst ist aufgrund langfristiger Verträge kaum möglich. Auch würde das wiederum zu nahezu unbezahlbaren Neufahrzeugen führen. Die andere Lösung, dass Zulieferer ihre Produktion einstellen, weil sie diese nur noch mit Verlusten bewerkstelligen können, führt wieder zum Zusammenbruch der Lieferkette. Beide Vorgehensweisen sind damit nicht zielführend, so Vogel. Für ihn gibt es in der jetzigen Situation nur eine Lösung: „Das Energieangebot muss massiv erhöht werden, damit die Energiepreise wieder sinken. Nur mit deutlichen Kostensenkungen in der Energie lässt sich die jetzige Situation entspannen. Die Preisbildungsmechanismen zu ändern und das Energieangebot auszubauen, hierbei alle verfügbaren Energiequellen zu nutzen und beispielsweises die Restriktionen beim Einsatz von Windenergie abzuschaffen, sind Aufgaben, die direkt in der Verantwortung der Politik liegen. Das muss jetzt schnellstens passieren.“

Funktionierende Lieferketten brauchen länderübergreifendes Agieren

Die sächsische Landespolitik nimmt die Sorgen der Zulieferer ernst. Der sächsische Staatsminister für Regionalentwicklung, Thomas Schmidt, wird zur AMZ-Lounge mit den Netzwerk-Mitgliedern diskutieren und dabei auch über die Vorteile eines gemeinsamen Agierens auf europäischer Ebene sprechen. Sachsen ist Gründungsmitglied der Allianz der Automobilregionen in Europa.

Der Minister unterstreicht: „Die Klimaziele der EU stellen auch die Automobilindustrie einschließlich ihrer Zulieferer vor große Herausforderungen. Insbesondere veränderte Antriebssysteme, aber auch die Digitalisierung erfordern tiefgreifende Veränderungen. Für Sachsen hat das mit fast 800 Unternehmen und rund 95 000 Beschäftigten in der Automobil- und Zulieferindustrie eine enorme Bedeutung. Die Lieferketten der Automobilindustrie gehen über Landesgrenzen hinweg. Daher erfordert die Lösung auch gemeinsame Ansätze auf europäischer Ebene. Im Europäischen Ausschuss der Regionen, dem ich angehöre, haben wir deshalb die Initiative ergriffen und die ‚Automotive Regions Alliance‘ gegründet, um gemeinsam mit anderen Automobilregionen unsere Interessen in Brüssel zu vertreten. Ich freue mich, dass ein erstes Arbeitstreffen dieser Allianz noch im November bei uns im Freistaat stattfinden wird und bin sicher, dass es uns gemeinsam gelingt, für die anspruchsvollen Ziele die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen.“

VDA: Alles tun, um Wettbewerbsfähigkeit für Unternehmen zu gewährleisten

AMZ hat bereits seit dem Frühjahr den Austausch in die Branche hinein verstärkt und gemeinsam mit den weiteren mitteldeutschen Netzwerken at Thüringen, Mahreg Sachsen-Anhalt und ofraCar Oberfranken den Dialog mit dem Verband der Automobilindustrie intensiviert. Die Diskussion zur aktuellen Situation und möglichen Lösungswegen werden zur AMZ-Lounge fortgesetzt. Dafür ist der für Produkt & Wertschöpfung verantwortliche VDA-Geschäftsführer Dr. Marcus Bollig zu Gast.

Der VDA-Geschäftsführer betont: „Die explodierenden Energiekosten sind eine enorme Belastung – für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie insbesondere für die mittelständische Industrie. Die Politik muss jetzt alles dafür tun, um die Energiekosten zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit für die Unternehmen zu gewährleisten. Die angekündigte Gaspreisbremse ist vor diesem Hintergrund ein dringend notwendiges Signal. Entscheidend ist jetzt: Die Interessen der Wirtschaft müssen bei der Konkretisierung ausreichend berücksichtigt werden und die Entlastung schnellstmöglich bei den Unternehmen ankommen. Darüber hinaus sollte die Stromsteuer schnellstmöglich auf das europäische Mindestmaß abgesenkt werden. Grundsätzlich gilt: Um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, sind partnerschaftliche Zusammenarbeit und Fairness entscheidende Faktoren. Nur in einer Einheit aus starken, innovativen Herstellern, Zulieferern und Entwicklungsdienstleistern kann und wird die deutsche Automobilindustrie im globalen Wettbewerb bestehen und weiter die weltweiten Standards setzen. Der VDA setzt sich dafür im Rahmen des kartellrechtlich Möglichen entsprechend ein.”

AMZ-Strukturwandelteam: „Sparringpartner“ für weitere strategische Ausrichtung

Im Fokus der Diskussionen zur AMZ-Lounge steht auch die Frage, welche Produkte unter den aktuellen Bedingungen noch wettbewerbsfähig in Deutschland gefertigt werden können. „Die aktuelle Situation führt unter anderem zu einer massiven Verlagerungswelle von Arbeitsplätzen ins Ausland. Diesen Schritt können jedoch nur große Unternehmen gehen. Der klassische deutsche Mittelständler kann nicht einfach auf Auslandsstandorte ausweichen. Er braucht Antworten für sein Geschäft im Inland. Deshalb ist eine fundierte Orientierung hierzu ebenso existenziell wie zum Energiethema und zu weiteren Fragen“, betont Dirk Vogel. Das Netzwerk unterstützt seine Mitglieder z. B. mit dem im Auftrag des Freistaates Sachsen arbeitenden AMZ-Strukturwandelteam. Erfahrene Branchenmanager aus der Fahrzeugfertigung sowie dem Elektrik-/Elektronik-Bereich agieren hier als „Sparringpartner“. In individuellen Gesprächen loten sie mit den Unternehmen denk- und gangbare strategische Entwicklungen aus und zeigen auch potenzielle neue Geschäftsfelder auf. Möglichkeiten bietet die im Aufbau befindliche Wertschöpfungskette Batterie. AMZ ist erster deutscher Partner in der Akademie der Europäischen Batterieallianz EBA und offeriert auf einer eigenen Lernplattform verschiedene Bildungsmodule für diesen zukunftsträchtigen Bereich.