In der W+M-Serie Internationale Märkte kommen Länderexperten von Germany Trade and Invest GTAI zu Wort, die mit ihrer Expertise Impulse für einen stärkeren internationalen Austausch setzen wollen. Hier der Beitrag von Marc Lehnfeld aus London.
Der Ruf des Vereinigten Königreichs als offene Volkswirtschaft hat während des schmerzhaften Brexit-Prozesses heftig gelitten. Wer aber die Kosten der Zollgrenze einkalkulieren kann, entdeckt einen großen Absatzmarkt mit umfangreichen Absatzchancen.
Brexit belastet Markteintritt beim Geschäft auf der Insel erheblich
Die schlechte, weithin bekannte Nachricht vorab: Der Brexit schmerzt, auch wirtschaftlich. Das im Königreich breit geschätzte Office for Budget Responsibility (OBR) sagt dem Land im Vergleich zur Unionsmitgliedschaft langfristige Produktivitätseinbußen von vier Prozent voraus, ein um 15 Prozent niedrigeres Handelsvolumen und eine negative Nettoeinwanderung – in Zeiten des Fachkräftemangels besonders spürbar. Die Zollgrenze knirscht im Getriebe des einst reibungslosen Handels zwischen britischen und europäischen Exporteuren. Ihre Bürokratie sorgt für längere Lieferzeiten und höhere Speditionskosten. Hinzu kommen im Laufe dieses Jahres auf britischer Seite zusätzliche Einfuhrregeln für Lebensmittel.
Teurer wird es auch jenseits der Zollbürokratie. Weil die britische Regierung bewusst vom europäischen Regulierungsregime abweicht, müssen neue Standards eingehalten werden. Dazu gehören zum Beispiel der CE-Nachfolger UKCA oder die neue UK REACH-Datenbank für importierte Chemikalien. Wer also Produkte von der EU aus im Vereinigten Königreich verkauft muss die Anforderungen von zwei Wirtschaftsräumen einkalkulieren.
Auch auf politischer Ebene ist post-Brexit von einer britisch-europäischen Wirtschaftspartnerschaft nichts zu spüren, wie der Konflikt um das Nordirland-Protokoll zeigt. So warten auch die deutsch-britischen Beziehungen auf neue Impulse. Im Außenhandel sind die Bremsspuren bereits sichtbar: Im Ranking der wichtigsten deutschen Handelspartner sind die Briten weiter abgerutscht und lagen 2021 nur noch auf Platz zehn. Noch 2017 belegte die Insel den fünften Platz. Mittelständler, die beim EU-Geschäft das Königreich „mitgenommen“ haben, müssen sich nun überlegen, ob sich der Mehraufwand noch lohnt.
Offshore-Wind, Infrastrukturprojekte und neue Krankenhäuser
Die Auswirkungen des Brexit verzerren allerdings auch den Blick auf die Chancen im Königreich. Denn wer die Kosten der Zollgrenze einpreisen kann, findet hinter ihr einen wachsenden Markt. Ohnehin ist das Vereinigte Königreich nach Deutschland die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und damit ein kaum zu ignorierender Markt. Im Gegenteil: Wer sich vom Brexit abschrecken lässt und sich vom britischen Markt zurückzieht, verliert Marktanteile an die außereuropäische Konkurrenz.
Der historische Wirtschaftseinbruch im Zuge der Coronakrise ist bereits wieder kompensiert. Allerdings erholen sich die Branchen sehr unterschiedlich vom Coronaschock. Deshalb müssen Exporteure genau hinschauen. Chancen bietet die britische Insel zum Beispiel bei Maschinen, Infrastrukturprojekten und im Gesundheitsbereich.
Wegen der Unsicherheit über den Brexit lagen viele Investitionsprojekte in den vergangenen Jahren auf Eis. Die Zurückhaltung bei Investitionen in neue Maschinen und Fabrikausrüstungen verfliegt aber zunehmend. Das liegt auch an der staatlichen Superabschreibung („super deduction“), bei der im ersten Jahr des Investments bis zu 130 Prozent abgeschrieben werden können. Die Ausrüstungsinvestitionen liegen bereits wieder 11 Prozent über dem Vor-Corona-Niveau und werden mit dem Schwung durch die zusätzlichen Abschreibungen weiter steigen. Allerdings läuft der Countdown, denn die Steuersubvention lauft schon Ende März 2023 aus.
Ein anderer Wachstumsmotor der britischen Wirtschaft ist der Ausbau der Offshore-Windindustrie. Bis 2030 sollen die Kapazitäten auf 40 GW vervierfacht werden. Davon profitieren auch deutsche Windparkentwickler, wie EnBW oder RWE Renewables, die Zuschläge für neue Projekte im Königreich erhalten haben. Auch wenn immer mehr Zulieferer im Land investieren oder erweitern um lokal zu produzieren, bleibt aufgrund des großen Wachstums genug Spielraum für deutsche Exporteure.
Außerdem profitiert der britische Gesundheitsmarkt von dringend benötigten milliardenschweren Investitionen. Schon vor der Coronakrise sorgten schwere Grippewellen für eine starke Belastung in den unterausgestatteten Krankenhäusern. Mittlerweile ist die Behandlungswarteliste auf einen Rekordwert von über 6 Millionen Patienten gewachsen. Diese Lücke soll vor allem ein Bauprogramm für insgesamt 48 neue Krankenhäuser und Erweiterungsprojekte im Wert von rund 4,4 Milliarden Euro schließen. Hinzu kommen unter anderem rund 300 Millionen Euro für die Digitalisierung der Diagnostik, denn das öffentliche Gesundheitssystem steht unter einem enormen Druck.