Wirtschaft und Markt

Deutschland – Russland. Ein Plädoyer für Zusammenarbeit

Foto: Christian Dorn auf Pixabay

Kaiser Wilhelm II forderte Reichskanzler Bismarck anno 1890 wegen „unüberbrückbarer persönlicher und politischer Gegensätze“ zum Rücktritt auf. Auch die ein oder andere Ehe wird wegen unüberbrückbarer Differenzen geschieden. Mit Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns gerade in einer ähnlichen Situation befinden. Die permanente verbale Aufrüstung steigert sich zu einem Crescendo der Unfreundlichkeiten. Es ist deshalb allerhöchste Zeit, die Situation nüchtern und emotionslos zu betrachten und Lösungen aufzuzeigen. Denn wie so oft hätten die Folgen eines Bruches zwischen der Russischen Föderation und Europa, insbesondere Deutschland nicht diejenigen zu tragen, die ihn herbeiführen würden. Wie brüchig Allianzen sein können, hat uns der letzte amerikanische Präsident deutlich vor Augen geführt. Von Jens Böhlmann.

Negative Handelsentwicklung

Der Blick auf die Handelszahlen macht das ganze Ausmaß der Zerrüttung deutlich. Seit dem Höhepunkt des bilateralen Austausches 2012 hat sich das Volumen fast halbiert – von einstmals 82 Milliarden Euro auf 45 Milliarden im letzten Jahr. In der gleichen Zeit hat sich der Handel mit den drei Nachbarn Polen, Tschechien und Ungarn mehr als verdoppelt. Alle drei Länder liegen mittlerweile auch beim Handelsaustausch vor Russland. Ein kleiner Lichtblick ist immerhin, dass deutsche Firmen stabil nach Russland liefern und ein Teil des Rückgangs der Corona-Pandemie und dem Ölpreisverfall zuzurechnen ist. Zum Gesamtbild gehört auch, dass deutsche Unternehmen in Russland zu großen Teilen gutes Geschäft machen und weiter in den Ausbau ihrer Produktionen investieren. Warum aber lahmt das Geschäft insgesamt?

Sanktionen, Wirtschaftskrise, Rubeldevaluation, amerikanischer Druck, Verunsicherung, Ölpreisverfall, Reformstau, politischer Dissens, Krim-Krise, der Konflikt in der Ostukraine, Nawalny, Corona, gegenseitige Verstimmung – die Gründe sind vielfältig und teils eng miteinander verwoben.

Wertschöpfung lässt sich nicht befehlen

Hinzu kommt eine für marktwirtschaftlich orientierte Unternehmen schwer zu akzeptierende Wirtschaftspolitik, die ganz eindeutig protektionistisch und nationalistisch geprägt ist. Waren es anfangs noch Eingriffe in sogenannte „strategisch wichtige Branchen“ wie in anderen Ländern auch, haben sich Anzahl und Spektrum der betroffenen Industriebereiche extrem erweitert. Der Schutz und der Erhalt der russischen Industrie war ein entscheidender Auslöser für diese Politik. Insoweit kann man für die Maßnahmen ein gewisses Maß an Verständnis entwickeln. Komplizierter wird es bei Forderungen nach Know-how-Transfer, kompletter Produktion in Russland und Sourcing auf dem russischen Markt oder in der EAWU. Wertschöpfung lässt sich nicht befehlen, die Rahmenbedingungen müssen stimmen.

Politisch erzwingen, was ökonomisch zweifelhaft ist

Wirtschaftlich unabhängig zu sein, ist der Wunsch vieler Länder. Russland macht da keine Ausnahme. Man unternimmt deshalb den Versuch, möglichst viele Produkte im eigenen Land herzustellen. Ausdruck dieser Bestrebung sind die gesetzlichen Vorschriften zu Importsubstitution und Lokalisierung. Durch das Regelwerk schimmert der sentimentale Wunsch nach der sowjetischen Zeit, als man noch glaubte, in jedem Industriebereich Weltspitze zu sein. Das war damals wie heute eine Fehleinschätzung. Der neuerliche Versuch nationale und im besten Fall internationale Champions zu formen, verstärkte sich mit dem Beitritt zur WTO 2012. Die Widerstände im Land waren teilweise erheblich. Denn die meisten Unternehmen wussten, dass sie weder technologisch noch wirtschaftlich konkurrenzfähig waren. Viele sind es bis heute nicht.

Öffnung und Schließung

Der Staat kam daher auf die Idee, die vermeintliche Öffnung des Marktes mit protektionistischen Maßnahmen zu begleiten. Subventionen, Einfuhrbeschränkungen, Importverbote, Recyclinggebühren, veränderte Ausschreibungsbedingungen und indirekte Zugangsbarrieren wie zusätzliche Zertifikate, Prüfungen oder nationale Zulassungen sind keine Erfindung der „Sanktionszeit“. Die Sanktionen haben diesen Effekt lediglich verstärkt. Der wirtschaftliche Schaden der Sanktionen mag insgesamt und im Einzelfall hoch sein. Für die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung in Deutschland ist er jedoch marginal. Das sieht auf russischer Seite deutlich anders aus. Besonders die Verbraucher bekamen das zu spüren, als sie bestimmte Produkte nicht mehr kaufen konnten. Das „Substitut“ war meist deutlich teurer und qualitativ schlechter. Russische Firmen konnten von heute auf morgen nicht mehr in Europa oder den USA ordern und bestimmte Ersatzteile nicht mehr bestellen. Das Land war gezwungen, sich anderweitig zu orientieren. Viele westliche Firmen galten fortan als nicht mehr zuverlässig.

China füllt die Lücken

Dieser Schwenk – vor allem in Richtung Asien – hat erstaunlich schnell und erstaunlich gut funktioniert. Chinesische Produzenten und Banken sind in breiter Front in Russland aktiv geworden, aber auch südkoreanische und japanische. In seiner jüngsten Pressekonferenz hat der russische Präsident die Hinwendung nach China mit Investitionen, die Geld nach Russland bringen, begründet und damit implizit gleich zwei Fragen beantwortet. Die russische Staatskasse ist klamm angesichts zahlreicher ungeplanter Ausgaben, und die sozialen Geschenke an die Bevölkerung kosten viel Geld. Langfristig bedeutungsvoller ist allerdings der stetige Rückgang ausländischer Investitionen und der Rückzug der Investoren aus russischen Werten. China füllt diese Lücke in einigen Bereichen und erhöht damit gleichzeitig Russlands Abhängigkeit weiter. Der südliche Nachbar folgt einem weltweiten Plan nach langfristiger Sicherung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten.

Der Fluch der Abhängigkeit

In Russland hingegen regiert das Prinzip Hoffnung. Es wird schon gelingen, Exporte jenseits von Öl und Gas zu realisieren. Worauf diese Hoffnung gründet, ist nicht ganz klar. Nach wie vor kommen über zwei Drittel aller Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen. Seit dem Zusammenbruch der Supply Chains zu Beginn letzten Jahres lebt die Idee, Russland könne beim Thema Nearshoring eine entscheidende Rolle spielen. Die komparativen Kostenvorteile scheinen diese Annahme zu stützen, allerdings gibt es in Europa viele Wettbewerber. Angefangen von der Ukraine, über die baltischen Staaten, die Visegrád Four, Rumänien und alle Länder des westlichen Balkans. Bei der Auswahl passender Lieferanten gilt: close, competent, cost-efficient. Doch so ganz nah sind die Standorte in Russland oft nicht, die Verkehrsinfrastruktur ist marode. Der Export aus Russland ist ein bürokratischer Alptraum. Und realistische Chancen hat ein industrieller Supplier nur, wenn er dauerhaft zuverlässig Qualität, Quantität, Lieferungen just in time und zum gleichen Preis garantieren kann. Die größten Chancen bieten derzeit die Branchen: Automotive, Elektronik, IT, Energiewirtschaft und partiell andere Industrien.

Wo liegen die Möglichkeiten

Es sind erst ein paar Tage vergangen, dass auf der Ebene der Staatsekretäre die vertiefte Kooperation im Bereich Wasserstoff und bei der Systemintegration erneuerbarer Energien beschlossen wurde. Ein Zukunftsfeld mit weitreichender Perspektive. Idealtypisch darf hier gelten: Der eine hat, was der andere braucht. Und wer sagt denn, dass man durch ungeliebte Pipelines nicht auch Wasserstoff pumpen kann. Technisch ist die Beimischung von Wasserstoff machbar. Einiges Potential bietet mit Sicherheit auch die Qualifikation russischer Lieferanten für den europäischen und den Weltmarkt. Für deutsche Firmen in Russland ist das Alltag. Sie müssen, einerseits um ihren Local Content zu erhöhen, andererseits um Kosten zu sparen, potentielle Supplier schulen und stabilisieren. Warum sollte sich dieses Modell nicht auf das Exportgeschäft übertragen lassen? Auch die Bereiche Pharmazeutik und Medizintechnik sind als Kooperationsfelder bestens geeignet. Die Gesunderhaltung der Bevölkerung ist ein gemeinsames Ziel.

Wenn Politik Wirtschaft machen will

Es will mir deshalb auch nicht wirklich logisch erscheinen einen Impfstoff, der hilft Leben zu retten, aus politischen Gründen abzulehnen. Allerdings ist dieser Reflex nicht neu. Lange bevor die amerikanische Regierung unverhohlen ihre wirtschaftlichen Interessen mithilfe extraterritorialer Sanktionen durchzusetzen begann, haben sechs internationale Unternehmen die Wirtschaftlichkeit einer Pipeline durch die Ostsee geprüft und das Projekt für umsetzbar und rentabel befunden. Weil alle an der Börse notiert sind, darf als sicher gelten, dass sie ihre erheblichen Investitionen in das Projekt Aktionären, Vorständen und Anteilseignern plausibel erklären konnten und weiterhin können. Eine nicht geringe Rolle spielte dabei die Energiewende in Deutschland und die Reduktion von Treibhausgasen in Europa. Wie heute politische Akteure jeglicher Couleur zu der Einschätzung kommen, dass in den nächsten Jahren weniger Gas gebraucht wird und der Energiebedarf komplett durch erneuerbare Energien zu decken sei, ist zumindest erstaunlich. Denn Beides stimmt nicht. Ein Stopp russischer Öl- und Gaslieferungen würde Energie in Deutschland und der EU deutlich teurer machen. Wir haben hierzulande heute schon extrem teuren Strom, der die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen strapaziert.

Der dritte Weg

Überheblichkeit ist aus deutscher Sicht deshalb absolut unangebracht, denn auch für die hiesige Wirtschaft – und die Politik – stellt sich die Frage nach möglichen Koalitionen. Vom Showdown der beiden größten Volkswirtschaften und den damit verbunden Kollateralschäden werden weder die EU noch Deutschland verschont bleiben. Der Kontinent als Ganzes hätte eine realistische Chance sich als dritte Kraft zu etablieren. Dazu ist eine sachliche und unvoreingenommene Analyse des Status quo notwendig. Sie wird einige einfache Erkenntnisse zu Tage fördern. In den traditionellen Industrien ist Europa gut aufgestellt. Bei den für die Zukunft entscheidenden Branchen eher nicht. Alle digitalen Riesen befinden sich außerhalb Europas. Die zehn wertvollsten Firmen der Welt kommen aus den USA und China, eines aus Südkorea, sechs sind Internet-Firmen. Die größten Cloud-Anbieter sind amerikanische. Das größte digitale „Warenhaus“ ist ein chinesisches. Was uns Europäer stark macht, ist die enorme Diversität und die Flexibilität kleinerer Einheiten. Sie gilt es zu nutzen, und dazu könnten auch russische Firmen einen essentiellen Beitrag leisten.

Vernunft versus Liebe

Felder für gemeinsame Projekt gibt es also reichlich. Die engen Verknüpfungen im Bereich Forschung, Lehre, Wissenschaft und Kultur gar nicht mitgerechnet. Die inflationär ventilierte Frage nach dem Systemvergleich stellt sich natürlich auch für Russland. In vielen Gesprächen mit russischen Unternehmern habe ich nie gehört, dass die Zukunft des Landes in einer Kooperation mit China liegt. Vielmehr wird die Sehnsucht nach normalen Beziehungen zu Europa und explizit zu Deutschland immer deutlicher artikuliert. Die offizielle politische Linie orientiert allerdings sehr deutlich in Richtung Asien. Das wäre, um bei den unüberbrückbaren Gegensätzen zu bleiben, die Zweckheirat oder Vernunftehe. Derlei Allianzen fehlt jedoch in aller Regel das romantische Element einer Vereinigung aus Liebe. Sollte sich der rationale Grund auch noch als falsch erweisen, wird’s schwer. In emotional aufgeladenen Beziehungen kracht’s schonmal heftiger, aber die Versöhnung ist danach umso schöner. Deshalb ihr Europäer: Rauft euch zusammen!

J Böhlmann, Foto: Böhlmann

Der Autor: Jens Böhlmann ist Russlandexperte und Leiter der Kontaktstelle Mittelstand beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V.

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