Wir haben Unternehmer, die etwas unternehmen und keine Unterlasser

Bodo Ramelow, der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, spricht im exklusiven W+M-Interview über Thüringen in der Krise, pfiffige Unternehmer und den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Thüringen in der Krise

W+M: Herr Ramelow, wie haben sich das Leben und die Aufgabenfelder eines Ministerpräsidenten in Zeiten der Krise verändert?

Bodo Ramelow: Ich beginne mit etwas Spektakulärem. Wenn wir jeden Tag Bilder vom Mars zu sehen bekommen, geht das nur, weil eine Optik und eine Linse von Jenoptik aus Thüringen das ermöglichen. Die Firma ASML in Eindhoven kann Chipfabriken nur bauen, weil sie über Schlüsseltechnologie aus Thüringen verfügt. In Eindhoven ist das jedem klar, in Thüringen und unseren Nachbarländern fast niemandem. Das ist ein Phänomen. Bei meiner letzten USA-Reise habe ich gemerkt, wie leicht wir Zugang zu Vorstandsetagen amerikanischer Unternehmen finden, weil man die Technologie aus Thüringen schätzt. Diese Zugänge hätte ein Mittelständler nicht so leicht, aber wir hätten sie ohne die Mittelständler auch nicht.

Das ist der Teil, der vor, während und nach der Corona-Krise Bestand hat.

Und jetzt haben wir durch Corona einen Hohlspiegel vorgehalten bekommen, der uns deutlich zeigt, was schon vor Corona nicht gut lief. Ganze Branchen sind zu Sorgenkindern geworden, andere waren es schon vorher. So gehört zum Beispiel ein Teil des stationären Einzelhandels, im Gegensatz zum Onlinehandel, eindeutig zu den Verlierern.

Darüber muss man reden, denn das betrifft Menschen. Ich finde es beispielsweise schwer erträglich, dass Lebensmittel zur Versorgung freigegeben wurden, im Lebensmittelhandel aber verstärkt sortimentsfremde Waren angeboten werden. Ebenso finde ich es problematisch, dass der Onlinehandel als Krisengewinnler mit seinen ungeregelten Arbeitsverhältnissen und fehlenden Tarifabschlüssen bei Arbeitnehmerrechten leider Schusslicht ist und auch noch so gut wie keine Steuern zahlt. Die einseitige wirtschaftliche Priorisierung ist durch Corona noch verstärkt worden. Der Staat muss endlich ein Stoppzeichen setzten, wenn Branchen ausufernd ihre Rechte einseitig erweitern oder steuerliche Abschreibungsmodelle nutzen, die einem kleinen Mittelständler nicht zugängig sind.

Ich halte es nach wie vor auch für verkehrt, dass ein Unternehmerlohn in die Förderinstrumentarien als eigenständiger Förderansatz nicht aufgenommen wurde. Die Einzelhändler, die Gastronomen, die Künstler, die Kulturschaffenden, die Soloselbstständigen spüren das alle am eigenen Leib und wir hätten etwas tun müssen, um die soziale Arithmetik in unserer Gesellschaft besser in Balance zu halten.

Die Bereitstellung von Fördermitteln durch den Staat war richtig, allerdings haben wir erlebt, dass die Abarbeitung viel zu bürokratisch war, weil man die Finanzämter nicht in das System der Berechnung und schnelleren Auszahlungen eingebunden hat. Wir in Thüringen waren bei Unterstützungen sehr früh und schnell durch den immensen Einsatz der Mitarbeiter bei der Thüringer Aufbaubank und der Gesellschaft für Arbeit und Wirtschaft (GFAW), das wurde uns bescheinigt. Als dann die Bundesfördermittel kamen, wurde es sehr bürokratisch und langsam.

W+M: Wie kommt Thüringens Wirtschaft durch die Krise?

Boro Ramelow: Wir haben eine globale Krise. Die Pandemie ist ein globales Thema. Wir haben Gewinner und Verlierer, aber bei all den Veränderungen haben wir auch pfiffige Leute.

Die FFP2-Maske von Wand und Richwien ist zum Beispiel Made in Thüringen. Sie ist zu 100 Prozent aus Thüringer Material und zu 100 Prozent in Thüringen hergestellt. Selbst die Industrieanlage stammt aus Thüringer Herstellung. Die Maschinenbauausgründung des ehemaligen Uhrenherstellers VEB Ruhla, Ruhlamat GmbH, baut jetzt in großem Stil Anlagen zur Produktion von Masken. W + R als Automobilzulieferer und Spezialanbieter für Automobiltests hat jetzt eine eigene Maskenproduktion mit eigenem Vertrieb. Viel erstaunlicher ist die Geschichte des Matratzenherstellers Breckle, der beispielsweise auch die Kreuzschifffahrt belieferte und nun Umsatzeinbrüche bei freien Kapazitäten hatte. Er bot uns seine Kompetenzen und Kapazitäten zur Produktion von Masken an. Ihm haben wir einen der ersten Aufträge übertragen und so die Polizei in Thüringen mit Masken versorgen können. Und dies in einer Zeit, wo alle auf der Suche nach Masken waren. Nach dem Start der Zusammenarbeit hat dann Breckle weitere Maschinen gebraucht und wer konnte sie liefern – Ruhlamat. Mittlerweile ist aus der Maskenproduktion ein eigener Bereich geworden, Breckle Weida med.

Für mich sind das Zeichen dafür, dass wir in der Krise Unternehmen haben, die sich in andere Branchen begeben, die sich auf die Situation eingelassen haben. Und das ist unser Reichtum. Wir haben Unternehmer, die etwas unternehmen und keine Unterlasser.

Gemeinsam mit unserer Erfurter Messegesellschaft, ebenfalls krisenbetroffen, haben wir ein eigenes Messeformat – die Pro.Vention – entwickelt. Hier kommen Firmen zusammen, die Masken produzieren, Maschinen zur Maskenproduktion herstellen, das Thema Umluft beherrschen und andere aus unterschiedlichsten Branchen. Dazu gehört ein Altenburger Unternehmen, dass eigentlich die Technik für keimfreie Arbeitsplätze in der Abfallwirtschaft baut oder eine Firma wie GBneuhaus GmbH, eigentlich ein Spezialist für Autolämpchen, der sich mit Nanobeschichtungen auskennt und nun auch Türklinkenbeschichtungen herstellt, auf denen kein Virus haften kann. Die Firma Binz baut Krankenwagen und hat in einem Forschungsprojekt eine UV-Lichtdusche zur Serienreife entwickelt, die Krankenwagen mittels UV-Licht desinfiziert. Das ist Technologie pur. Die Messe Pro.Vention ist ein großer Erfolg und die bisher einzige ihrer Art in der Welt, die sich nur mit technologischen Fragen rund um die Pandemie beschäftigt. Erste interessierte Nachnutzer, so aus Baden-Württemberg, haben sich schon gemeldet.

Die Pandemie zeigt uns, dass wir Konsequenzen ziehen und technologische Antworten finden müssen. Es gibt neben dem Lockdown noch viele weitere Möglichkeiten der Reaktion. Wir müssen nur reagieren und dies möglichst schnell.

W+M:  Wo liegen Thüringens Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen?

Bodo Ramelow: Die Chancen ergeben sich aus den Schlussfolgerungen, die wir jetzt aus der Krise ziehen.  Ich nannte bereits den Einzelhandel als eines der Sorgenkinder. Auch die Automobilzulieferindustrie ist ein solches Sorgenkind. Die Branche ist völlig im Umbruch. Wer zum Beispiel nur Teile herstellt, die im Verbrenner eine Rolle spielen, wird sich Gedanken machen müssen. Und deshalb erlebe ich immer mehr Unternehmen, die sich längst über drei oder vier Geschäftsfelder verteilt haben. Wer dies nicht schafft, wird am Ende mit dem Verbrennungsmotor das Schicksal teilen.

Wir haben in der Landesentwicklungsgesellschaft eine eigene Transformationsstelle eingerichtet, um solchen Unternehmen zu helfen. Es kommen auch neue Bereiche hinzu, wie die Batterie- und Zelltechnik, die Ansiedlung des chinesischen Batterieproduzenten CATL hier in Erfurt, die Batterieforschung und -entwicklung, die viel Potenzial für Unternehmen bieten.

Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist die Va-Q-tec AG aus Kölleda, ein Spezialist für Vakuumtechnik, der plötzlich in aller Munde ist, weil er temperaturbeständige Transportcontainer für Impfstoffe herstellt. Bekannt gemacht hat das Produkt die Krise, aber die Technologie bietet weitaus mehr Chancen.

W+M: Mit der Krise erlebt die Wissenschaft einen Aufschwung in Sachen Anerkennung. Wie kann dieses Ansehen verstetigt werden?

Bodo Ramelow: Als wir zu Beginn der Krise nach vielen Antworten gesucht haben, konnten wir auf zahlreiche Wissenschaftler an deutschen Wissenschaftsstandorten zurückgreifen. Das hat das Ansehen in der Öffentlichkeit deutlich erhöht. In unserer medial getriebenen Welt haben die unzähligen Chefvirologen in den unzähligen Talkshows aber auch gezeigt, wo die Grenzen der Wissenschaft liegen. Manch Wissenschaftler hat sich in seiner neuen Rolle sichtlich unwohl gefühlt. Aber die Öffentlichkeit hat jetzt Wissenschaft live erlebt mit ihren Erkenntnissen, Annahmen und Fehlern.

W+M: Gibt es ein großes Zukunftsthema, das Sie gern in Ihrer Regierungszeit platzieren oder gar realisieren wollen?

Bodo Ramelow: Es gibt aktuell ein Thema, das alles andere übertrifft, das ist der Zusammenhalt der Gesellschaft. Alle anderen Themen sind gefährdet, wenn wir diesen Zusammenhalt nicht sichern. Ich bin bei allen Fortschritten alarmiert, wenn aktuell die Langzeitarbeitslosigkeit um zehn Prozent gestiegen ist. Wir brauchen diese Menschen alle, und zwar motiviert, nicht laut schreiend durch die Städte laufend, die sich gegen den Staat stellen oder apokalyptischen Ideen nachrennen. Der Kit, der die Gesellschaft zusammenhält, ist ausgetrocknet. Wir brauchen Zukunftsaussichten mit Aufstiegsperspektiven für alle und besonders für die Kinder, die jetzt die Schule besuchen.

Eine reine Reduktion auf den Klimawandel, ohne sie mit sozialen Themen zu denken, wird nicht erfolgreich sein. Der durch die Energiewende erforderliche Umbau muss neben allen technologischen Leistungen auch so erfolgen, dass er sozial bindend ist. Die Diskussion um die Aufstellung neuer Windräder wäre eine völlig andere gewesen, wenn von vornherein die Menschen und Kommunen einbezogen und Vorteile für sie lokal und konkret aufgezeigt worden wären.

Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist das Thema. Was hilft mir der beste technologische Fortschritt, wenn in meiner Region keiner aus dem Ausland arbeiten will. Auch Rassismus und Gewalt sind standortprägend. Deshalb bin ich auf die Unternehmen in Thüringen stolz, die sich beispielsweise aktiv mit vietnamesischer Zuwanderung beschäftigen.

Rolle Thüringens in Ostdeutschland

W+M: Welche Rolle spielt Thüringen in Ostdeutschland?

Bodo Ramelow: Ostdeutschland ist das Scharnier zwischen Westeuropa sowie Mittel- und Osteuropa. Und Thüringen ist ein starker Player innerhalb dieser Wirtschaftsregion. Mit Jena sind wir ein wichtiger Technologiestandort. Wir sind kein Standort für jeden und jedes. Wir sind nicht vom Kohleausstieg betroffen, aber in Kooperation mit den Nachbarländern wird es einen Ausbau des Bahnverkehrs geben, der es uns ermöglicht, noch stärker als bisher zur Drehscheibe für Logistik in Europa zu werden.

W+M:  Wie stehen Sie zur Wahrnehmung der Wirtschaftsregion Ost?

Bodo Ramelow: Die Wirtschaftsregion Ost ist erst einmal ein gefühltes Thema zwischen Menschen. Im Armutsbericht können sie die alten Grenzen noch negativ wirkend sehen, in der Betrachtung der Entwicklungsperspektiven von Kindern oder in der Kinderbetreuung – im positiven, zum Glück –  ebenfalls. Betrachten Sie die Zahl ostdeutscher Führungskräfte in den Konzernzentralen von DAX-Unternehmen. Konkret sieht man daran, dass es noch ein Ost-West-Thema gibt. Und dieses emotionale Moment kennzeichnet auch die Wirtschaft und den Wirtschaftsraum Ost, denn diese Erfahrungen haben alle neuen Bundesländer.

In Sachsen-Anhalt sorgt gerade ein Wahlplakat meiner Partei mit der Aufschrift: “Nehmt den Wessis das Kommando“ für Furore. Ich habe mich zwar darüber lustig gemacht, aber dahinter steckt etwas Tiefes und Ernsthaftes. Es geht nicht darum, ob der Mensch im Westen oder im Osten geboren wurde. Die Frage ist, ob er versteht, was den Osten und die Menschen hier ausmacht. Es braucht die ostdeutsche Emotionalität und wir müssen sie mit Stolz entwickeln bzw. sie sogar mit Stolz füllen.

W+M: „Überholen ohne Einzuholen“, ein Zitat aus DDR-Zeiten, wird heute oft mit neuem Sinn versehen und in den Kontext des wirtschaftlichen Aufbruchs gestellt. Wie stehen Sie dazu?

Bodo Ramelow:  Ich assoziiere diesen Satz mit einer Partei, die an ihrer Arroganz in die Knie gegangen ist. Deshalb verbietet sich mir dieser Satz. Obwohl ich ja Mitglied einer Partei bin, die sich aus der DDR-Staatspartei heraus entwickelt hat, aber auch diese Überheblichkeit überwinden musste. Er würde nur alte Vorurteile wieder wachrufen. Lieber wäre mir eine Einstellung, wir wollen den Westen nicht überholen, sondern einen festen Platz in der Bundesrepublik haben. Wenn man alle Wirtschaftsdaten der neuen Bundesländer addieren würde, kommt man zu dem Ergebnis, dass wir als Wirtschaftsregion im oberen Drittel der europäischen Lander agieren. Nur im Ost-West-Vergleich hinken wir noch hinterher.

Wahljahr 2021

W+M: Wie lautet ihre Prognose für die Wahlen zum Bundestag?

Bodo Ramelow: Es gibt die erstaunliche Wahrnehmung, dass eine Frau – geboren im Westen und tätig im Osten – bei den Grünen als Kanzlerkandidatin sich auf den Weg macht und offenkundig eine hohe Zustimmung in Gesamtdeutschland hat. Es gibt eine zweite Wahrnehmung. Ein konservativ-liberaler Politiker aus Nordrhein-Westfalen ist der Kanzlerkandidat der Union ist. Mit dieser Konstellation endet tatsächlich die Bonner Republik und ich bin froh darüber. 30 Jahre nach der deutschen Einheit können wir darauf verzichten, dass immer nur aus westdeutscher Perspektive über alles geredet wird. Jetzt haben wir die Chance, uns neu zu positionieren. Meine Partei muss sich anstrengen, das soziale Gewissen auch nach außen zu transportieren, um damit einen eigenen Beitrag zu leisten.

W+M: Wie lautet Ihre Prognose für Thüringen?

Bodo Ramelow: Bevor wir zu einer Wahl kommen, muss es erst einmal zu einer Auflösung des Landtages mit einer Zweidrittelmehrheit kommen. Ich hoffe, dass sich alle Vertragspartner auch an den Vertrag halten. Und erst dann kann ich eine Prognose abgeben. Was ich einzubringen habe, ist das, was ich in siebenjähriger Arbeit gezeigt habe. Ich will für alles eintreten, was unserem Land am nachhaltigsten nützt. Das ist der soziale Zusammenhalt, ein guter Standort zu sein und ein in der Welt stark wahrgenommener Partner zu sein. Wir sind gut aufgestellt und das will ich auch weiterhin den Menschen ermöglichen.

W+M: Landtagswahlen finden auch in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin statt. Befürchten Sie, dass Ostdeutschland dabei wieder negativ in die Schlagzeilen kommt?

Bodo Ramelow: Ich nehme einfach nur zur Kenntnis, wie leicht man es sich im Westen macht, wenn man über den Osten redet. Man sieht einen Vorfall und bezieht ihn auf alles. Man sieht eine Partei und misst daran den Zustand der Demokratie. Man ignoriert damit aber, dass diese Probleme auch deutsche, europäische und globale Probleme sind. Nach dem aggressiven Populismus von Donald Trump sollte niemand mehr isoliert mit dem Finger auf den Osten zeigen. Ich finde, wir haben auch das Recht, unseren eigenen Weg zu gehen, mit allen Schwierigkeiten und ich bin nun wahrlich kein Freund der AfD. Bei Herrn Höcke gilt bei mir der alte Satz „Rückgabe vor Entschädigung“.

Interview: Frank Nehring