Hat Ostdeutschland die Kraft, eine eigenständige Standortmarke zu sein? Ostdeutschland ist ein Begriff, der erst mit der Wende entstanden ist. Vorher war es ein Staat und mit dem Fall der Mauer eine kurze Idee von Aufbruch. Dann kam der Einigungs-vertrag, womit der „Osten“ mit dem „Westen“ verschmolz. Big Bang, Kaltstart, Währungsunion, Privatisierung und Treuhand – so hießen die Formate für den Weg. Zur Motivation gab es die Reisefreiheit und als Vision das politische Narrativ der „blühenden Landschaften“. Der Osten wurde das Synonym für die Transformation einer ganzen Gesellschaft. Von Ralf Sippel.
Für eine solche Transformation gab es 1990 weltweit keine Blaupause. Ein Blick auf die anderen Aspiranten des ehemaligen Ostblocks verhieß nichts Gutes und so war die beste Wahl ganz klar die rasche Wiedervereinigung und Angleichung. Der Weg in den Wandel begann schmerzvoll mit der Privatisierung der Wirtschaft. Wenn es einen Sound dazu gab, dann war er voller lauter, schiefer Töne. Doch die Transformation kam voran, Dekade für Dekade, und der Sound des Ostens bekam einen besseren Klang.
In Zahlen gemessen kann sich nach 30 Jahren die Transformationsbilanz Ostdeutschland sehen lassen. In wirtschaftlichen und sozialen Parametern hat der Osten stetig aufgeholt. Bis auf ca. 80% des Westniveaus und im europäischen Vergleich liegt der Osten deutlich vor vielen Nachbarn. Blühende Landschaften also.
Doch was haben Transformation und Menschen miteinander gemacht, was ist die Erzählung dazu?
Der Start für die Menschen war schwer, denn die negative Zuschreibung zum Status Quo der Wirtschaft Ost (Schrottwerthypothese) wurde auch auf sie übertragen. In Verbindung mit Massenentlassungen entstand ein Gefühl von Verlust und Abwertung. Ein Kulturschock: eben noch friedlicher Revolutionär und auf einmal arbeitslos. Und das Wort dazu war Ossi. Doch die 2000er Jahre brachten spürbare Erfolgserlebnisse im Wiederaufbau, beim Lebensstandard und im erneuerten Selbstwertgefühl.
Die Erneuerung in Wirtschaft und Gesellschaft wurde sichtbar, ihre Gewinner immer zahlreicher und die Verlierer weniger. Nach 30 Jahren lässt sich sagen: Ostdeutschland hat seine Transformation geschafft.
Ihre Geschichte dieses Wandels erzählt die Mehrheit der Menschen ungefähr so: „Auf die Freude zur Wiedervereinigung erfolgte der Treuhand-Schock. Auf schwere Anfangsjahre folgten bessere, aber das Gefühl der neuen Freiheit war es wert. Und wir haben den Wandel selbst durchgekämpft, ein neues Land aufgebaut und unsere Werte dabei bewahrt. Heute sind wir immer noch Ossis, aber stehen dazu und sind stolz darauf, das Beste aus 2 Systemen zu vereinbaren. Das Lebensgefühl und die Tugenden des Ostens haben wir an unsere Kinder weitergegeben.“* Quelle: Soziologische Studie „Navigator Ost“ für SUPERillu, 11/2020.
Der Standort Ostdeutschland ist durch diesen Transformationserfolg ein weltweiter best case für die bevorstehenden Dekaden des multidimensionalen Wandels. Der Osten ist also um diese Erfahrung voraus und es lohnt sich, ihm zuzuhören. Denn unabhängig von der pandemischen Episode müssen in den nächsten 3 Dekaden weltweit multiple Wandel-Szenarien gleichzeitig bewältigt werden. Dabei hat alles mit allem zu tun und alles bleibt volatil, unsicher, komplex und ambivalent. Klingt spannend, ist leider schwierig.
Zurück zur Frage: Kann Ostdeutschland überhaupt eine Marke für Transformation sein, eine Standortmarke für das Gelingen von Transformation? Ist eine neue Ost-Marke nicht rückwärtsgewandt, quasi die falsche Richtung wenn man in die Zukunft will?
These: Aufgrund der Erfahrung kann der Osten eine starke Marke für gelingende Transformation sein, er kann dazu sein neues Narrativ finden und das weist klar nach vorn.
Braucht es dazu nicht eine Körperschaft? Ostdeutschland gibt es ja gar nicht! Naja, irgendeiner muss die Marke schon besitzen, managen und schützen, aber das lässt sich ja vereinbaren.
These: Marken verkörpern vor allem Identitäten und Ostdeutschland ist eine starke Identität bestehend aus Orten, Stakeholdern sowie Erzählungen, dem Transformationserfolg und dem Lebensgefühl seiner Bewohner.
Der Osten ist doch überaltert und kein Hi-Tech-Land wie Bayern, wer sollte hier etwas lernen können für seine Zukunft?
These: Der Osten hat viele kleine und große Cluster für Zukunftstechnologien. Dazu kommen wichtige Handlungsfelder des Wandels wie Klimaschutz mit Strukturwandel durch Kohleausstieg oder Mobilität der Zukunft mit Europas größten e-mobility Erzeugern VW und Tesla. Ostdeutschland kann nicht nur Best Case zum Lernen sein, sondern auch Tech-Cluster und Sprungbrett nach Europa – dem immer noch größten Markt der Welt.
Es gibt schon die Standortkonkurrenz der Städte und Länder, was soll da ein neuer und größerer Standort besser machen?
These: Nur Ostdeutschland hat die ganzheitliche Transformationsgeschichte zu erzählen und bettet Städte und Länder mit ihren Einzelgeschichten darin ein. Kommt dann ein Investor, strahlen die positiven externen Effekte seiner Ansiedlung über den Ort hinaus und verbinden die umliegenden Städte und Länder, siehe Tesla.
Eine klare Antwort kommt schon mal aus Chemnitz mit einer Erfolgsgeschichte aus Transformationskompetenz.
Chemnitz wird Europäische Kulturhauptstadt 2025.
Chemnitz ist seit über 100 Jahren als Stadt ein Synonym des Wandels und der Brüche. Ob Industrie oder Kultur, ob Architektur oder Name – Krieg und Systemwechsel haben die Stadt mehrfach transformiert. Doch die Chemnitzer haben das Beste daraus gemacht. Aus diesem Grund hat sich die Chemnitzer Stadtgesellschaft 2015 für eine Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 entschieden. Denn sie hat Europa eine Geschichte von dauerhafter Transformation zu erzählen, passend zu der Zeit, in der so wenig noch stabil erscheint. Diese Bewerbung wurde 2018 auf eine harte Probe gestellt, als die Stadt zu fragwürdiger Aufmerksamkeit kam. Extremisten aus ganz Deutschland nutzten einen Anlass und produzierten Spiegelbilder gesellschaftlicher Zerrissenheit für die Weltpresse. Doch die Stadt hat darüber nicht aufgegeben, sondern das Ganze als neuen Bruch akzeptiert, mit dem sie sich nun auseinandersetzt. Aus diesem Diskurs kann kultureller Wandel gelingen, glaubt Chemnitz. Und da sich die Herausforderungen in Europa gleichen, lassen sich auch die Antworten mit Europa teilen.
Oberbürgermeister Sven Schulze findet dazu klare Worte: „Deshalb heißt unser Motto für die Kulturhauptstadt 2025 „C the unseen“, was auch bedeutet, die unerkannten Chancen und Stärken in gesellschaftlichen Prozessen und in den Menschen erkennen, welche durch die Brüche im Wandel sichtbar werden. Diese Haltung inszenieren wir in ein kreatives Kulturkonzept und zelebrieren es 2025 für und mit Europa.
Aber Chancen bestehen nicht nur kulturell, sondern ebenso für die Entwicklung der Wirtschaft. Mit dem Rückenwind einer Kulturhauptstadt und ihrer frischen Kreativität entwickeln wir Chemnitz als Standort zu einem innovativen Ort der Ideen für Gründer, ein Lab für die Wirtschaft. Chemnitz soll ein Ort für Kultur und Wirtschaft als Sprungbrett nach Europa werden. Wo man die Dinge etwas anders macht als in den Metropolen und neue Wege findet, eben „C the unseen“.
Fazit: Die Fähigkeit zu solch umfassenden Wandel ist gut abgespeichert in den Menschen des Ostens, welche ihn erkämpft und geleistet haben. Neben dem erreichten Guthaben in Wirtschaft und Gesellschaft sind vor allem diese Menschen das Kapital künftiger Transformationsprozesse. Sie können das Land, seine Gesellschaft und sich selbst so grundlegend verändern und doch ihre Werte und Haltung bewahren.
Und der Sound of Eastern Germany, wie klingt er denn nun? Da spürt man keinen melancholischen Blues mehr. Es ist vielmehr ein kraftvoller Rhythmus, ein „sound of change”. Das könnte ein weltweiter Hut werden. Wir müssen nur mal am Lautstärkeregler drehen – lassen wir doch von uns hören!
Der Autor: Ralf Sippel, Chef Strategie & Business Development, Mitglied der Geschäftsleitung zebra | group GmbH, Chemnitz