Michael Kretschmer: „Der Strukturwandel bietet Sachsen einmalige Investitionsmöglichkeiten“

Im exklusiven W+M-Interview äußert sich Michael Kretschmer, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, zur aktuellen Krise, über die Potenziale Sachsens, sie zu meistern, zum Rechtsextremismus, zur Rolle Sachsen in Ostdeutschland, zu Russland und zu seiner Wunschkonstellation nach der Bundestagswahl.

Sachsen in der Krise

W+M: Herr Kretschmer: wie haben sich Leben und Aufgabenfelder des Ministerpräsidenten in Zeiten der Krise verändert?

Michael Kretschmar: Vor allem haben sich die Personen geändert, mit denen ich täglich zu tun habe. Es sind jetzt viel mehr die Experten aus der Wissenschaft und Kollegen aus dem Gesundheits- und Katastrophenschutz. Und es gibt natürlich viel weniger Termine im Land, dafür viel mehr Arbeit vor dem Computer. Ich nutze aber nach wie vor viele Gesprächsmöglichkeiten, um auch Möglichkeiten des Erklärens zu haben. Ich bin dankbar für die große wissenschaftliche Expertise, auf die wir in Deutschland zurückgreifen können, sie hilft uns, die richtigen Schlussfolgerungen für unsere Arbeit zu ziehen. Das ist sicher auch ein Grund, weshalb wir bisher so gut durch die Krise gekommen sind. Es gibt viele Länder, die nicht in so einer komfortablen Situation sind.

W+M: Sie sind ja einer von den Ministerpräsidenten, die stark die direkte Kommunikation pflegen. Dabei suchen Sie auch das Gespräch mit Menschen, die eigentlich nicht mit Ihnen reden wollen. Jetzt fehlen diese Gelegenheiten. Ist das schlimm?

Michael Kretschmer: Sinnvoll und notwendig sind diese Gespräche immer, weil man in jedem Gespräch etwas lernt. Der Dialog hilft dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und jede Beziehung endet, wenn man nur noch übereinander redet oder sich gegenseitig mit Vorwürfen begegnet. Wir wissen, dass wir einen Teil der Menschen nicht mehr erreichen, aber ohne Dialog wird die Zahl weiter ansteigen. Daher suchen wir jetzt auch andere Formen, wie zum Beispiel Videokonferenzen, auch mit großer Teilnehmerzahl. Es ist anders als gewohnt, aber notwendig, weil die Konflikte auch größer sind.

W+M: Was meinen Sie denn zu der Auffassung, die auch von der Wirtschaft vertreten wird, dass in der Politik eine große Mut- und Ratlosigkeit vorherrscht?

Michael Kretschmer: Die sehe ich überhaupt nicht. Was denken Sie, wie viel Mut dazu gehört, Entscheidungen über Milliardenkredite zu treffen, Finanzzusagen für Impfstoffe zu geben, die zu dem Zeitpunkt noch nicht existierten, überhaupt Entscheidungen zu treffen, die auch auf Unverständnis treffen und wo die Kritik groß ist. Wenn in diesem Land die Politiker hasenfüßig agiert hätten, wären wir bisher nicht so gut durch die Krise gekommen. In den Debatten der letzten Tage stört mich vor allem ein Zungenschlag, dass nicht das Virus, sondern die Politik an allem schuld ist. Die Politik hat nicht alle Dinge richtig gemacht. Wenn man 80 Milliarden Euro unmittelbare Wirtschaftshilfen ausgibt und sie nicht ankommen, die Leute frustriert sind und Angst und Zweifel haben, ob die Mittel überhaupt ankommen, dann ist vieles schief gelaufen. Aber Schuld an der Krise hat ein Naturphänomen, was es in dieser Generation noch nicht gegeben hat, von dem wir auch in der Zukunft verschont bleiben wollen, aber wir dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechseln.

W+M: Gehört Sachsens Wirtschaft zu den Gewinnern oder den Verlierern der Krise? Wie kommt Sachsens Wirtschaft durch die Krise?

Michael Kretschmar: Im Frühjahr 2020 hatte etwa ein Drittel aller sächsischen Betriebe Kurzarbeit angemeldet, heute sind es weniger als zehn Prozent. Für die Betroffenen ist dies eine komplizierte Situation, aber wir schaffen es, dass große Teile des Wirtschaftslebens weiter funktionieren. Ich wünsche mir, dass wir das auch künftig schaffen. Allerdings ist es noch zu früh zu entscheiden, ob wir als Gewinner oder Verlierer aus der Krise kommen.

Wir investieren viel in Forschung und Innovation. Wir sind in vielen Teilen der Welt unterwegs, um Fachkräfte zu gewinnen und den Zuzug zu ermöglichen. Sachsen ist ein Land mit einer starken Wirtschaft, viel Kultur und einer sehr guten Lage inmitten in Europa. Sachsen muss nicht schrumpfen, wir können sogar wachsen, aber nur mit der Bereitschaft, Menschen von außerhalb aufzunehmen. Das ist ein Phänomen, das uns Sachsen schwerfällt, weil wir damit wenig Erfahrungen haben. Wir führen aber viele Gespräche mit der Wirtschaft, um für das Thema Fachkräftezuwanderung zu sensibilisieren.

W+M: Wo liegen Sachsens Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen?

Michael Kretschmer: Wir verfügen über eine kleinteilige und agile Wirtschaftsstruktur. Viele Akteure aus dem Bereich der Elektromobilität sind bereits vor Ort, weitere werden folgen. Unsere Forschungs- und Bildungslandschaft bietet viele Anknüpfungspunkte.

Zudem bietet uns der Strukturwandel Möglichkeiten, in Größenordnungen zu investieren, die einmalig sind in Europa. Hier sehe ich ebenfalls große Chancen für den Freistaat.

W+M: Befürchten Sie viele Insolvenzen?

Michael Kretschmer: Ich finde die Diskussion zu abstrakt, wenn es nur um die Aufhebung des Insolvenzrechts geht. Es geht eher darum, dass Gastronomen und andere Unternehmer nach drei bis vier Monaten einfach kein Geld mehr auf dem Konto haben und Wirtschaftshilfen nur als Abschlag eintreffen. Hier geht so viel Vertrauen verloren und es wird Kraft genommen, die so wichtig ist, um aus der Krise zu kommen.

W+M: Welche Defizite aus der Krisenvorzeit holen uns jetzt besonders ein?

Michael Kretschmer: Wir sind ein Land mit großem Wohlstand und einer sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung. Allerdings haben wir viele unserer wissenschaftlichen Erfolge nicht in Deutschland umgesetzt. Das hat nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze hierzulande beigetragen. Diese Transformation ist zu wenig gelungen. Es gibt auch genügend Leute, die im Wege stehen und dafür werben, dass der Staat seine Bürger mit Datenschutz beschützen muss.  Studien werden aus ideologischen Gründen für den Markt außer Kraft gesetzt. Denken Sie nur an den Mietwohnungsbau oder den Ausbau der Infrastruktur. Denen muss man jetzt die Rote Karte zeigen. So geht es nicht weiter. Wir müssen aufholen. Wenn wir in dieser Generation 400 Milliarden Euro zurückzahlen wollen, geht das nur mit einer hohen wirtschaftlichen Dynamik und Freiheit sowie wenig Bürokratie und Staat. Darum wird es auch zur bevorstehenden Bundestagswahl gehen und ich wünsche mir ein Ergebnis, dass dieses sichert.

W+M: Glauben Sie, dass das alle schon verstanden haben?

Michael Kretschmer: Die Deutschen haben das verstanden, denn sie haben es jetzt noch einmal mehr vor Augen geführt bekommen, zum Beispiel beim Thema Bildung. Die Zeit vor der Krise war davon geprägt, was alles nicht geht. Facebook, Twitter und Co. waren an Schulen verboten, Computer und Software durften nicht angenommen werden. Wir hatten nicht verstanden, dass Schule ein Diskursraum ist. Das wird jetzt alles anders. Die Frage ist, haben wir eine politisch gestaltende Kraft, die das in konkrete Arbeit und Gesetze umsetzt.

Das brauchen wir jetzt umso dringender. Der natürliche Partner der CDU/CSU ist die FDP. Nur mit ihr ist es möglich, dieses Land wieder in Schwung zu bringen.

W+M: Was wurde bisher in der Krise für die Wirtschaft getan, was nicht nur Katastrophenhilfe ist, sondern zukunftsweisend?

Michael Kretschmer: Seien wir realistisch. Die Probleme der aktuellen Krise sind so groß, dass die Hilfen von Bund und Ländern vor allem auf die Bewältigung der Pandemie gerichtet sind. Hier geht es um Existenzsicherung nicht nur von Unternehmen, sondern auch von Verbänden und bürgerschaftlichem Engagement. Wir müssen mit der Bundestagswahl neue Kraft schöpfen, um in die Zukunft zu investieren. Wir brauchen mehr Dynamik und mehr Arbeitsplätze, die auch höhere Steuereinnahmen generieren.

W+M: Mit der Krise erlebt die Wissenschaft einen Aufschwung in Sachen Anerkennung. Wie kann dieses Ansehen verstetigt werden?

Michael Kretschmer: Ich wäre vorsichtig mit dem Thema Anerkennung. Die Wissenschaft ist mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses gerückt, wo sie auch angegriffen wurde. Das hat auch etwas mit der Wissenschaft gemacht. Ich bin dankbar, dass wir die Wissenschaftler haben, um sie um Rat zu fragen. Ich stand schon immer für die Freiheit der Wissenschaft, wie z.B. bei der Gentechnik oder auch der Atomenergie und plädiere dafür, dass die Menschen das akzeptieren, was sich im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt hat und nicht kruden Ideologien folgen.

W+M: Gibt es ein großes Zukunftsthema, das Sie gern in Ihrer Regierungszeit platzieren oder gar realisieren wollen?

Michael Kretschmer: Da gibt es eine ganze Reihe von Punkten. Wenn wir in zehn bis 15 Jahren zurückschauen, möchte ich, dass wir sagen können, damals wurden die richtigen Weichen gestellt. Wir wollen mit Großforschungszentren dieses Land völlig neu aufbauen. Wir wollen, dass Digitalisierung und Informatik in den Schulen Einzug halten, dass Programmieren zur zweiten Fremdsprache in Sachsen wird. Und wir brauchen ein gemeinsames Verständnis dafür, dass wir mit qualifizierter Zuwanderung auf einen Wachstumspfad gelangen. Das erfordert viele Investitionen. Wir sind kein dünn besiedeltes Agrarland am Rande Europas, sondern ein Kultur- und Industrieland inmitten der Europäischen Union. Sachsen hat eine große Perspektive.

W+M: Hat sich das Agieren rechter Kräfte in Zeiten der Krise noch verstärkt?

Michael Kretschmer: Der Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für unsere Demokratie. Wenn man aufhört, dem Paroli zu bieten, ist aller Wohlstand, sind alle erreichten Aufbauleistungen gefährdet. Die deutsche Reputation hängt davon ab, dass wir eine klare Position zu unserer Vergangenheit beziehen und so das Vertrauen, das Deutschland in der ganzen Welt genießt, rechtfertigen.

Der Rechtextremismus ist in der Krise nicht verschwunden, er hat seine Strategien geändert und investiert viel in die sozialen Medien, um andere Gruppen zu unterwandern. Deshalb ist es wichtig, dass wir denen, die berechtige Fragen haben und Kritik äußern, zur Verfügung stehen. Aber denen, die die Grenzen überschreiten, ein klares Stopp entgegnen. Wer mit einer Reichskriegsflagge auf die Straße geht, das wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen, huldigt nicht der Kaiserzeit, sondern dem Rechtextremismus.

Ganz wichtig für die Hygiene in unserer Gesellschaft ist, die Dinge so zu benennen und für jeden muss klar sein, hier ist Schluss. Das ist für mich zentral.

Rolle Sachsens in Ostdeutschland

W+M: Welche Rolle spielt Sachsen in Ostdeutschland?

Michael Kretschmer: Sachsen ist Kultur- und Industrieland. Zudem Wissenschafts- und Forschungsstandort. Die TU Dresden ist die ostdeutsche Exzellenzuniversität. Sachsen ist das größte ostdeutsche Bundesland. Wir haben uns selbst eine sächsische Bescheidenheit verordnet, denn wir werden nur gemeinsam erfolgreich sein. Ich bin den Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts und Brandenburgs, Reiner Haseloff und Dietmar Woidke, sehr dankbar für die Zusammenarbeit in der Kohlekommission. Nur so war es möglich, die 40 Milliarden Euro für den Strukturwandel zu bekommen. Das sind Ergebnisse, von denen wir noch Jahre zehren werden. Das gegenseitige Belauern ist weg. Was Halle oder Cottbus hilft, ist auch für Sachsen gut. Vorbehalte gibt es da nicht mehr. Also ich habe jedenfalls keine.

W+M: Ist es tatsächlich so, dass nur die Gemeinsamkeiten beim Kohleausstieg die Klammer für die Zusammenarbeit der ostdeutschen Länder sind?

Michael Kretschmer: Nein, wir sind natürlich geprägt von der gemeinsamen Geschichte, von der Tatsache, dass wir Nachbarländer sind und eine Nähe zu osteuropäischen Ländern und auch zu Russland haben.

W+M: Ist eine Metropolregion von der Ostsee bis zum Thüringer Wald vorstellbar?

Michael Kretschmer: Metropolregionen bestehen aus einem dynamischen Kern, in der Regel einer Stadt, die mit dem Umland vielgestaltig interagiert. Sei es im Verkehr, bei den Arbeitskräften und in anderen Bereichen. Berlin ist eine solche Stadt, aber auch Dresden, Leipzig und Chemnitz sind Städte, die mit ihrem Umland international sichtbarer werden. Ostdeutschland ist hier nicht die Marke für internationale Wahrnehmung.

W+M: Immer wieder wird das Thema Sonderwirtschaftszonen ins Spiel gebracht. Ist das eine gute Idee für die Zeit, um aus der Krise zu kommen?

Michael Kretschmar: Die Regionen, die vom Kohleausstieg betroffen sind, sind schon einer Sonderwirtschaftszone ähnlich. Da gehen Dinge, da stehen Ressourcen zur Verfügung, wie in keiner anderen Region Deutschlands. Ansonsten sollten wir 30 Jahre nach der Deutschen Einheit nicht mehr nach diesem simplen Instrument verlangen, sondern die Möglichkeiten sehen, die Deutschland mit seiner Wirtschaft, seiner Wissenschaft und seinen Infrastrukturbereichen bietet.

Das eigentliche Aufbau-Ost-Ministerium ist aus meiner Sicht, das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Hier müssen in der Tat auch in der nächsten Bundesregierung neue Impulse gesetzt werden. Wir brauchen eine stärkere Verzahnung von Wissenschaft, Forschung und Unternehmen. Diese Dinge zu adressieren, dafür brauchen wir neue Impulse. Das ist etwas, das dieses Ministerium seit geraumer Zeit macht. Eine riesige Erfolgsgeschichte und ich hoffe, dass diese auch in der nächsten Legislaturperiode fortgesetzt wird.

W+M: Die Diskussionen um die Wirksamkeit der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland enden nicht. Gerade die sächsische Wirtschaft fühlt sich hier am stärksten betroffen. Wie ist ihre Position?

Michael Kretschmar: Dass die Diskussion nicht endet, ist nicht verwunderlich. Wir haben ein sehr ambivalentes Verhältnis.

Der aktuelle deutsche Außenminister versteht hier nicht so richtig die Verantwortung, die er als Diplomat hat. Wir müssen immer miteinander reden, Verträge müssen immer erfüllt werden. Es gab Zeiten, da haben sich Ost und West mit Atomwaffen gegenübergestanden, aber die Lieferungen von Erdöl und Erdgas gab es dennoch. Zu keinem Zeitpunkt wurden diese Lieferungen als Instrument der Politik genutzt. Und jetzt die Forderung, Nordstream 2 zu beenden, ist etwas, das komplett der deutschen auf Aussöhnung ausgerichteten Außenpolitik widerspricht.

Wir müssen die Punkte ansprechen, die nicht richtig sind in der Ukraine und an anderen Stellen, aber auch hinsichtlich der Sanktionen, die ja erkennbar umgehbar sind und uns bei der Lösung der Frage nicht weiterbringen. Und deshalb muss das Thema im Gespräch bleiben. Übrigens sind sich hier alle ostdeutschen Ministerpräsidenten einig.

Das Wahljahr 2021

W+M: Wie lautet ihre Prognose für die Wahlen zum Bundestag?

Michael Kretschmer: Ich habe keine Prognose, ich habe einen Wunsch für eine Konstellation und habe dies vorhin ja auch schon begründet.

W+M: Hätten Sie Lust, sich in Berlin stärker zu engagieren?

Michael Kretschmar: Ich war ja 15 Jahre in Berlin und möchte die Zeit auch nicht missen. Sie hat mir für meine aktuelle Regierungsarbeit geholfen. Aber mein Platz ist hier in Dresden. Ich will viele Impulse geben, die auch für die neuen Länder wirken, aber eben von hier aus der Staatsregierung heraus.

Interview: Frank Nehring