Freitag, März 29, 2024

Vorsprung Ost – Wie jetzt in Ostdeutschland eine selbstbewusste Region mit guten ökonomischen Perspektiven entstehen kann

Vorsprung Ost – Auch nach drei Jahrzehnten bleibt die Einheit unvollendet. Wie jetzt in Ostdeutschland eine selbstbewusste Region mit guten ökonomischen Perspektiven entstehen kann. Von Matthias Platzeck

Der große Soziologe Ralf Dahrendorf stellte 1990 im Angesicht der damaligen Freiheitsrevolutionen eine verblüffende These auf. Sie lautete, dass für die Etablierung demokratischer Normen etwa sechs Monate nötig seien, erfolgreiche Wirtschaftsreformen etwa sechs Jahre bräuchten, für die gesellschaftlichen und sozialen Grundlagen einer erfolgreichen Transformation aber 60 Jahre veranschlagt werden müssten. Das wollte in der damaligen Euphorie niemand hören. Heute, drei Jahrzehnte später ist aber klar: Das Zusammenwachsen von Ost und West bleibt eine ständige Aufgabe für unser Land. Insofern war es eine kluge Entscheidung der Bundesregierung, eine Generation nach der friedlichen Revolution – nach Dahrendorfschem Maßstab also genau zur Halbzeit – den Erfolgen, Ursachen und Wirkungen der Transformation in Ostdeutschland mit einer Kommission auf den Grund zu gehen.

Die 22 Kommissionsmitglieder aus Wissenschaft, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur haben sich sehr genau angeschaut, was in den vergangenen drei Jahrzehnten erreicht wurde. Vor allem aber hat die Kommission den Blick nach vorne gerichtet und der Bundesregierung 50 Handlungsempfehlungen dazu unterbreitet, wie die Erfahrungen der Menschen in Ostdeutschland in Zukunft besser genutzt werden können, welche Schritte gegangen werden müssen, um zu einer tatsächlichen Vollendung der Einheit zu kommen und wie wir die in den kommenden Jahrzehnten vor uns liegenden großen Herausforderungen in Angriff nehmen können – denn diese hat die Corona-Pandemie ja nicht aus der Welt geschafft.

Zunächst ist festzustellen: Wirklich vieles ist gelungen.

Die allermeisten Ostdeutschen wissen genau, wie viel in ihrem Landesteil unter extrem schwierigen Bedingungen entstanden ist. Sie sehen, was sie hingekriegt haben, wie stark sich ihre Region seit 1990 entwickelt hat.

Trotzdem bleiben viele Ostdeutschen unzufrieden. Etliche harte Fakten zeigen, warum man sich in Ostdeutschland noch immer strukturell benachteiligt sehen kann. Bei Einkommen, Vermögen, Erbschaften, Arbeitszeiten oder Unternehmenszentralen zum Beispiel ist der Osten noch längst nicht auf Augenhöhe mit dem Westen. Konstatieren muss man auch: Das Vertrauen in die Demokratie mit ihren Verfahren und Institutionen, aber auch in die Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft liegt unter Ostdeutschen signifikant niedriger als unter Westdeutschen. Hinzu kommt: Viele Menschen in Ostdeutschland haben den Eindruck, ihre Erfahrungen würden in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Sie haben den Eindruck, als Bürger zweiter Klasse zu gelten, deren Lebensleistungen nicht gewürdigt werde. Es tut unserem gesamten Gemeinwesen in Deutschland jedoch nicht gut, wenn sich ein Landesteil systematisch zurückgesetzt fühlt, wenn strukturelle Nachteile dazu führen, dass Lebenschancen nicht verwirklicht werden können.

Wie also lässt sich diesem Eindruck entgegenwirken?

Erstens. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass Ostdeutsche im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil von 20 Prozent nicht angemessen in Führungspositionen vertreten sind. Bezogen auf ganz Deutschland liegt dieser Wert bei 6 bis 8 Prozent. Sogar in den neuen Bundesländern selbst ist nur ein Viertel der Führungsposten in Verwaltung, Wirtschaft, Justiz, Medien, Wissenschaft oder Verbänden mit Ostdeutschen besetzt. So nehmen wir in Deutschland ohne Not in Kauf, dass sich im Osten unserer Republik jede Menge Frust anreichert. Vor allem aber werden wichtige Erfahrungen nicht genutzt. Diesen Missstand zu ändern wäre ein wichtiger Beitrag, um das Vertrauen in die Institutionen unseres Landes und in die Demokratie zu stärken. Dafür braucht es Mentorenprogramme, Netzwerke, Führungsakademien, Begabtenförderung, Fortbildungen für Führungskräfte. Nur so wird es Schritt für Schritt mehr Ostdeutschen möglich sein, erfolgreich hohe Positionen anzustreben; nur so wachsen auch die nötigen Netzwerke, die Ostdeutschen dabei helfen, gesellschaftliche Schlüsselpositionen zu erreichen.

Zweitens. Unser Grundgesetz schreibt in Artikel 72 das Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Deutschland fest. Das heißt sicherlich nicht, dass es überall „gleiche“ Lebensverhältnisse geben solle. Wenn man sich aber entscheidende ökonomische Indikatoren in Deutschland regional vergleicht, kann man in Umrissen immer noch die Grenzen der alten DDR erkennen. Mit anderen Worten: Bei allen Erfolgen in den vergangenen 30 Jahren bestehen weiterhin wichtige ökonomische Strukturunterschiede zwischen West und Ost. So liegt etwa die Exportquote in den alten Ländern bei 31 Prozent – in den neuen Ländern nur bei knapp 25 Prozent. Die Investitionsausgaben der Wirtschaft liegen in den neuen Ländern bei 2.900 Euro pro Kopf – in den alten bei 4.800 Euro. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegen im Osten deutlich unterhalb des Niveaus der alten Länder. 55 Prozent der Beschäftigten in den neuen Ländern arbeiten ohne Tarifbindung – in den alten Ländern nur 47 Prozent. Bei Vermögen und Erbschaften wird die ohnehin weit geöffnete Schere zwischen Ost und West in den nächsten Jahren sogar noch weiter aufgehen. Und Konzernzentralen gibt es in den neuen Ländern so gut wie gar nicht.

Diese Zahlen zeigen: Wir brauchen eine neue wirtschaftspolitische Herangehensweise. Der Aufbau Ost seit den neunziger Jahren hatte vor allem den Charakter eines „Nachbaus West“. Heute sind andere Antworten erforderlich. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben wir aufgeholt und nachgeeifert – und das auch sehr erfolgreich. Aber das Nacheifern hat einen Pferdefuß – man bleibt immer knapp Zweiter. Weil diejenigen, denen man nacheifert, auch nie stehenbleiben. Deshalb brauchen wir einen „Vorsprung Ost“.

Der Zeitpunkt für diesen Paradigmenwechsel könnte günstiger nicht sein. Drei Jahrzehnte nach der Herstellung der Einheit stehen wir in Deutschland wieder vor enormen Umbrüchen. Unsere Volkswirtschaft organisiert sich neu. Mit Wasserstofftechnologie und Elektromobilität, Digitalisierung und Energiewende entstehen völlig neue Wirtschaftszweige. Das international führende Wirtschaftsmagazin The Economist sieht bereits eine „neue Ära der Innovation“ in den „Roaring 20ies“ heraufziehen.

Für das Zusammenwachsen unseres Landes bedeutet das eine riesige Chance – sofern wir jetzt strukturelle Weichenstellungen vornehmen, die gerade auch den Osten klar im Blick haben. Denn heute sind wir in der Lage, komplett neue Wirtschaftszweige zu installieren. Dafür sind aber nicht nur „umbruchkompetente“ Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nötig, sondern auch mutige strukturpolitische Entscheidungen des Staates und eine erneuerte Sozialpartnerschaft. Gebraucht werden schnelle Investitionen in digitale Netze sowie große Offenheit für neue Technologien wie autonomes Fahren oder den Einsatz von Drohnen. Nötig ist zugleich eine Regionalpolitik, die das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse mit modernen Ideen und Instrumenten verfolgt. Hierzu gehört der Aufbau von Innovationskorridoren, in denen Infrastruktur-, Forschungs-, Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik strategisch zu einer umfassenden Strukturpolitik verzahnt werden. Mit Hilfe solcher Korridore können die bereits bestehenden Wachstumsgebiete in Ostdeutschland bis weit in ländliche Regionen hinein ausgedehnt werden, wodurch neue Verbindungen und neue Wachstumspotenziale entstehen.

Drittens. Wir brauchen in Deutschland einen öffentlichen Ort, an dem die ostdeutschen Transformationserfahrungen für unsere gesamte Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Einen Ort, wo wir die Erfahrungen aus dem radikalen Umbruch der vergangenen Jahrzehnte sichtbar machen. Einen Ort, wo wir die ostdeutsche Fähigkeit, besonders kreativ mit schwierigen Veränderungen klarzukommen als Ressource für die Zukunft unseres gesamten Landes nutzen. Wo die Ostdeutschen ihre Geschichte und ihre Geschichten erzählen können. Wo Wissenschaft zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern Zukunftskonzepte entwickelt. Ein solches „Zukunftszentrum“ soll in einer ostdeutschen Stadt angesiedelt und eng mit internationaler Wissenschaft, mit Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft verwoben werden. Es soll Bürger aus Ost und West, Nord und Süd ins Gespräch bringen, soll ostdeutsche und osteuropäische Transformationserfahrung zum wertvollen Kapital unserer Zukunft machen. Dieses „Zukunftszentrum“ soll Aushängeschild eines sich mit sich selbst versöhnenden Landes werden.

Ostdeutsche „sichtbarer“ machen, ihre Transformationserfahrungen für die Zukunft nutzen und wirtschaftliche Vorsprünge erarbeiten – das alles wird mithelfen, eine Region mit selbstbewussten Menschen und guten ökonomischen Perspektiven entstehen zu lassen. So können die nächsten drei Jahrzehnte der Einheit glücken.

Der Autor:

Matthias Platzeck. Foto: OWF.Succo.

Matthias Platzeck ist ehemaliger Brandenburger Ministerpräsident und war 2019/20 Vorsitzender der Regierungskommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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