Automobilindustrie – eine Branche im Wandel
Wie für das gesamte Land spielt die Automobilindustrie auch für die ostdeutschen Bundesländer eine besondere Rolle – sie ist eine der zentralen Säulen der Industrie. Neun Prozent aller Beschäftigten in der ostdeutschen Industrie arbeiten in der Automobilindustrie. 73.000 Menschen verdienen ihr Geld in dieser Branche, die derzeit zwei Herausforderungen gleichzeitig meistern muss – die Coronakrise und den Strukturwandel in Richtung Elektromobilität. Von Karsten Hintzmann
Die Zahlen aus den letzten Jahren waren beeindruckend: In den neuen Bundesländern wurden pro Jahr knapp 600.000 Pkw gefertigt, rund 13 Prozent aller in Deutschland hergestellten Autos. Der Gesamtumsatz der Branche lag im Osten Deutschlands bei über 25 Milliarden Euro, die Investitionen betrugen mehr als 940 Millionen Euro. Nach zehn Jahren des Wachstums, der Internationalisierung und einem stetigen Aufwuchs der Erträge und der Beschäftigung steht die deutsche Automobilindustrie vor einem längerfristigen Strukturwandel. Die Trends der Elektrifizierung der Antriebe sowie die zunehmende Etablierung automatisierter Fahrfunktionen und neuer Mobilitätsdienstleistungen werden die Wertschöpfungsnetzwerke und die Produktion von Zulieferern und Automobilherstellern zum Teil tiefgreifend verändern. Die damit verbundenen Auswirkungen beeinflussen schon jetzt maßgeblich den Industriestandort Deutschland und somit auch Ostdeutschland.
Nicht zuletzt auch deshalb, weil Corona das Autogeschäft massiv verhagelt hat. Aufgrund der Folgewirkungen der Coronapandemie kam es nach Angaben des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) im ersten Halbjahr 2020 zu starken Absatzrückgängen auf den internationalen Pkw-Märkten. Der durch das Coronavirus bedingte parallele Einbruch der meisten Märkte ist historisch beispiellos: In den großen Absatzregionen China, USA und Europa wurden in Summe 7,5 Millionen Pkw weniger verkauft als im Vorjahreszeitraum. Das entspricht einem Absatzrückgang von 28 Prozent. In Japan reduzierte sich die Nachfrage um ein Fünftel. In Russland und Brasilien ist der Absatz ebenfalls massiv eingebrochen.
Den europäischen Markt trifft es in der Coronakrise am härtesten: In Europa wurden im ersten Halbjahr 5,1 Millionen Pkw neu zugelassen – 39 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die fünf größten europäischen Absatzmärkte lagen allesamt zweistellig im Minus.
Erste positive Nachrichten
Allerdings gibt es inzwischen auch wieder erste gute Nachrichten von der Autofront, speziell aus dem Zukunftssektor Elektromobilität. Im Juni nahmen die Neuzulassungen von Elektro-Pkw laut Kraftfahrt-Bundesamt mit einem Zuwachs um 118 Prozent auf 18.897 Fahrzeuge wieder Fahrt auf. Der Anteil am Gesamtmarkt stieg auf 8,6 Prozent. Im ersten Halbjahr 2020 haben sich die Anmeldungen damit trotz der Corona-Krise auf 93.682 Elektroautos nahezu verdoppelt (+96 Prozent).
Treiber der dynamischen Entwicklung waren auch im Juni die Plug-In-Hybride. Sie verzeichneten einen Anstieg um 274 Prozent auf den neuen Rekordwert von 10.749 Einheiten. Ihr Anteil an den Elektro-Neuzulassungen erreichte damit 57 Prozent. Das Marktvolumen rein batterieelektrischer Fahrzeuge stieg auf 8.119 Einheiten, das entsprach einem Zuwachs um 41 Prozent. Die deutsche Automobilindustrie konnte ihren Marktanteil bei Elektroautos im Juni auf 67 Prozent (Vorjahresmonat: 46 Prozent) ausbauen. Die Modelloffensive ist in vollem Gange – deutsche Konzernmarken, mit ihren für die Elektromobilität wichtigen ostdeutschen Standorten, bieten inzwischen rund 70 verschiedene Modelle an. Bis Ende 2023 sollen es dann mehr als 150 sein.
Im Vergleich zu gewerblichen Käufern verhalten sich aktuell private Käufer jedoch nach wie vor zurückhaltend. Im Juni lag ihr Anteil an den Elektroneuzulassungen bei 28 Prozent. „Die ab 1. Juli 2020 für sechs Monate abgesenkte Mehrwertsteuer in Kombination mit dem deutlich erhöhten Umweltbonus sollte in den nächsten Monaten zu einer Auflösung des Nachfragestaus bei privaten Käufern führen. Für Hersteller, Handel und Kunden besteht nun Klarheit über die Förderung beim Kauf von Elektroautos. Beide Maßnahmen sind wichtige Instrumente, um die Erneuerung der Fahrzeugflotte durch klima- und umweltfreundliche Elektrofahrzeuge zu unterstützen“, lautet die Einschätzung von Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie.
ACOD treibt Zukunftsthemen
In den neuen Bundesländern hat sich bereits vor 16 Jahren ein Netzwerk etabliert, das sich inzwischen zum Treiber der automobilspezifischen Zukunftsthemen gemausert hat – das Automotive Cluster Ostdeutschland (ACOD). Es verzahnt Automobilhersteller, Zulieferer, Dienstleister, Forschungsinstitute, Verbände und Institutionen, um gemeinsam die Leitthemen Digitalisierung, Elektromobilität und Flexibilisierung voranzubringen. Dabei liegen ACOD die Produkte und Produktionstechnologien der ostdeutschen Automobilwerke von VW, Opel, Daimler, Porsche und BMW besonders am Herzen.
Die Clusterverantwortliche sehen es als ihre Aufgabe, regionale Aktivitäten zu bündeln und dadurch Synergien innerhalb der Branche für ganz Ostdeutschland zu erzeugen. Kleine und mittelständische Unternehmen werden bei der Vernetzung untereinander und mit Hochschulen unterstützt, damit sie Leistungen für Fahrzeughersteller oder deren Direktlieferanten erbringen können. Auf diese Weise soll die ostdeutsche Automobilindustrie nachhaltig wachsen und Schritt für Schritt leistungsfähiger werden.
Erklärtes Ziel von ACOD ist es, dazu beizutragen, dass sich die neuen Bundesländer zu einem Europäischen Zentrum für High-Tech-Produkte der Automobilindustrie entwickeln.