Wirtschaft und Markt

Peter-Michael Diestel: Das Einheitsjubiläum – ein Tag der freudig und nachdenklich zugleich stimmt

Pter-Michael Diestel. Foto: Welscher

Vor 30 Jahren konnten wir nach dem Sturz der Mauer am 03.10.1990 die deutsche Wiedervereinigung feiern. Erinnern wir uns, die Mauer wurde von 17 Millionen couragierten Ostdeutschen vom Osten her eingerissen, was die Folge hatte, dass es wohl nie wieder in Deutschland Stalinismus geben wird. Dieses Ereignis größter Zivilcourage, Freude und auch des Friedens hat die Menschen, die dieses erleben durften, für immer geprägt. Deshalb sind die folgenden, zur Nachdenklichkeit anregenden Gedanken notwendig. Von Dr. Peter-Michael Diestel (CDU), Rechtsanwalt und Innenminister a. D.

Es wird in diesem Jahr nicht nur wegen der Corona-Epidemie wohl eine etwas schmalbrüstige Feier werden. Auch wenn wir jetzt in der dritten Generation im vereinten Deutschland leben, erscheint der Blick zurück doch etwas zwiespältig. Wer aber aus der Vergangenheit nichts lernt, wird zukünftig über den kleinsten Kieselstein stolpern.

Verloren gegangen ist uns die Freude der friedlichen Grenzöffnung und die damit erlangte Freiheit für uns Ostdeutsche. Warum ist das so? Fehlt den ehemaligen DDR-Bürgern Demut oder Dankbarkeit – oder Beides? Im Folgenden möchte ich als führend Beteiligter an dem historischen Prozess ein Resümee ziehen:

Die Dinge, die mich nachdenklich stimmen, sind einfach aufzuzeigen und lassen sich zahlenmäßig nachweisen. Die Präsenz ostdeutscher Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit findet kaum statt. Rundfunk und Fernsehen, besonders in den Bereichen Kunst und Kultur, sind auch in den fünf neuen Bundesländern so besetzt, dass in der Regel Menschen hier tätig sind, die früher hier nicht gelebt haben und uns jetzt das Leben erklären. Trotzdem haben wir den omnipräsenten Kai Pflaume, gelegentlich Katharina Witt und Toni Kross spielt bei Real Madrid Fußball.

Nach der Wiedervereinigung erleben wir fast eine vollständige Ausgrenzung der Ostdeutschen aus den Eliten dieses Landes. In fast allen ostdeutschen Gesellschaftsstrukturen sitzen an den Hebeln, die wichtig sind, Leute aus dem Westen. Der umgekehrte Prozess von Ost nach West gilt als Einbahnstraße – die falsch zu befahren unter Strafe steht.

Warum kann in dieser Bundesrepublik im 30. Jahr der Deutschen Einheit kein im Osten sozialisierter Mensch die BRD als Botschafter vertreten? Wir haben wohl über 200 Persönlichkeiten in diesem diplomatischen Rang.

Wenn man sich Rektoren deutscher Universitäten und Hochschulen, auch die im Osten gelegenen, anschaut, kann man feststellen, dass die Ausgrenzung ostdeutscher Wissenschaftler hier vollständig gelungen ist.

Gleiche Tendenzen stellen wir fest, wenn man den Anteil Ostdeutscher in Justiz, Ministerien und Behörden betrachtet. Besonders krass erscheint mir die Besetzung ostdeutscher Gerichte und Behörden mit Persönlichkeiten, die hier nicht gelebt haben und möglicherweise eine Position im Altbundesgebiet nicht erlangen konnten. Diesen Zustand halte ich für verfassungswidrig, was wohl jedem, der Lesen kann, und Gesetze versteht, auch einleuchten müsste. Warum es auch im 30. Jahr der Deutschen Einheit kein Ostdeutscher im Rang des Generals beziehungsweise Chefinspektors gibt? Man könnte jetzt diese Aufzählungen uferlos fortführen, immer mit dem Hinweis, dass es die umgekehrte Tendenz nicht gibt.

Peter-Michael Diestel. Foto: S. Welscher

Warum haben wir im Osten Deutschlands immer mehr Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die ursprünglich in den alten Bundesländern gelebt haben? Das letzte prominente Beispiel ist Olaf Scholz (SPD), der jetzt im Land Brandenburg für seine Partei antritt. Es erscheint schon peinlich, wenn in den letzten Tagen die deutschen Medien aufwändig berichten, dass eine ostdeutsche Frau erstmals als Richterin am Bundesverfassungsgericht ernannt wurde und dies zum allerersten Mal in der Geschichte dieser Republik.

Das, was die Politik dummerweise vorlebt, setzt sich natürlich auch in den Wirtschaftsstrukturen unseres Landes, besonders bei der Besetzung von Vorständen und Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen fort. Vielleicht beschreibe ich gerade eine wesentliche Ursache mit dem Fehlen ostdeutscher Menschen in Leitungsbereichen, so dass Flughafen, Autobahn und andere Großprojekte nicht mehr erfolgreich zu Ende geführt werden können, weil ostdeutscher Sachverstand fehlt?

30 Jahre nach der fast christlichen Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist es notwendig und zulässig auf die von mir gezeigten Missstände hinzuweisen, denn es gibt keine Erklärung und kein Erfordernis für die Ausgrenzung eines so großen Teils unseres Volkes. Gehässigerweise könnte man sagen „ihr seid dumm und schwach, ihr lasst es euch gefallen und deshalb gehen wir mit euch so um“.

Eigentlich müsste man, so wie wir über die Ostfriesen und Schildbürger Witze gemacht haben, Entsprechendes auch über die Ostdeutschen tun. Ich glaube aber, dass das, was ich aufzeige, zu traurig ist, um darüber zu lachen. Lachen kann nur der, der die Unzufriedenheit der Menschen der fünf neuen Bundesländer nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nehmen will. Wenn meine Mitstreiter von damals, Lothar de Maizière und Rainer Eppelmann, den Menschen im Osten Deutschlands vor 30 Jahren vorausgesagt hätten, welche Realität sie erwartet, dann hätte es den friedlichen, wunderschönen Weg der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes so nicht gegeben.

Diese bitteren Erkenntnisse sind notwendig und sie müssen angesprochen werden, weil wir auf einem falschen Weg sind. Immer mehr Menschen in den neuen Bundesländern wenden sich von den etablierten Parteien und vor allem von den sich etabliert haltenden Politikern ab.

Wenn die von mir aufgezeigten Missstände nicht erkannt und einer Korrektur zugeführt werden, befürchte ich, dass sich das wiederholen wird, was die Geschichte uns gelehrt hat. Nämlich ein Volk, das sich einmal erfolgreich erhoben hat, wird sich immer wieder erheben.

Der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung sollte ein Anlass sein, gesellschaftliche Gemeinsamkeiten zu erkennen, historische Verantwortung zu spüren und endlich Vernunft und Fairness bei der Betrachtung des Anderen walten zu lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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