Ostdeutschland und die Macht der Krise – eine Analyse von Prof. Dr. Joachim Ragnitz, ifo-Institut Dresden
Die aktuelle Coronakrise hat die ostdeutsche Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen. Aktuellen Prognosen zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um rund 6 Prozent zurückgehen.
Nach Befragungen des ifo Instituts rechnen die Unternehmen im Osten in ihrer Gesamtheit damit, dass es rund 11 Monate dauern wird, bis sich ihre Geschäftslage wieder normalisiert haben wird; 17 Prozent der ostdeutschen Unternehmen nehmen die Coronakrise als ernsthafte Bedrohung ihrer Existenz wahr. Es wird deshalb Unternehmenspleiten geben – die bislang nur deswegen nicht eingetreten sind, weil die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt wurde.
Für den Herbst ist insoweit eine Welle von Unternehmensschließungen zu befürchten,
der wohl nicht nur ertragsschwache, sondern auch im Kern gesunde Unternehmen zum Opfer fallen werden. Die damit verbundenen Forderungsausfälle werden wiederum auch Banken in Mitleidenschaft ziehen. Zudem ist mit Arbeitsplatzverlusten zu rechnen und Einkommenseinbußen für die Betroffenen zu rechnen. Selbst wenn es gelingt, einen zweiten umfassenden Lockdown zu verhindern, wird die Wirtschaft wohl erst Ende 2021 wieder ihr Vorkrisenniveau erreichen; manche Branchen (und Regionen) dürften aber noch längere Zeit die Krisenfolgen spüren. Die ohnehin schon labile Wirtschaftsentwicklung in weiten Teilen Ostdeutschland – die ja zusätzlich auch die Folgen der Alterung und den strukturellen Umbruch insbesondere im Automobilsektor zu verkraften hat – wird dadurch zusätzlich belastet.
Natürlich kann man eine Krise wie der derzeitige auch als Chance betrachten,
da sie in gewisser Weise eine „Produktivitätspeitsche“ darstellt: Aus dem Markt ausscheiden werden als erstes jene Unternehmen, deren Geschäftsmodell ohnehin kritisch gesehen werden musste und die deswegen nur geringe finanzielle Reserven haben aufbauen können; darüber hinaus auch solche, deren Inhaber (zum Beispiel aus Altersgründen) ohnehin schon über eine Schließung nachdachten. Nach dieser Sichtweise verbleiben die stärkeren Unternehmen, also jene mit höherer Produktivität, besserer Anpassungsfähigkeit und allgemein guten Zukunftsperspektiven, und dies könnte dafür sorgen, dass ganz Deutschland und damit auch Ostdeutschland gestärkt aus der Krise herauskommen würde. Vielleicht wird es auch nicht so schlimm, denn auch wenn Unternehmen schließen müssen, werden diese dort, wo ein lukrativer Markt besteht, auch wieder ersetzt werden: Hotels oder Gastronomiebetriebe in attraktiven Regionen werden mittel- bis langfristig auch wieder gute Geschäfte machen können, und Neugründer werden typischerweise auch mit neuen Ideen und innovativen Konzepten antreten und damit die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in der Breite stärken. Alle Erfahrung lehrt jedoch auch, dass der Wiederaufbau gemeinhin länger dauert als die Zerstörung funktionsfähiger Strukturen. Die Rückkehr auf einen neuen Wachstumspfad wird deshalb wohl nicht kurzfristig gelingen – und auf dem Weg dahin wird es jede Menge Opfer geben. Schön ist das alles nicht.
Noch auf absehbare Zeit „auf Sicht“ fahren
Niemand kann heute seriös sagen, wie sich die Entwicklung nach Überwindung der Corona-Pandemie darstellen wird, und auch die Politik ist nicht zu beneiden, denn sie wird noch auf absehbare Zeit „auf Sicht“ fahren müssen: Gesundheitspolitische Risiken müssen gegenüber negativen wirtschaftlichen Konsequenzen abgewogen werden, und keineswegs ist es so, dass die Vermeidung von Infektionsfällen unbedingten Vorrang vor den Folgen eines neuerlichen Herunterfahrens wirtschaftlicher Aktivität haben kann. Dies spricht insbesondere für lokal angepasste Maßnahmen, wenn sich neue Corona-Infektionsherde herausbilden, und gegen flächendeckende Restriktionen, wie sie im Frühjahr ergriffen wurden. Die Politik muss zudem auch die längerfristige Entwicklung im Blick behalten – und die Herausforderungen, die mit all den Megatrends verbunden sind, die schon vor der aktuellen Krise angelegt waren und danach wohl auch wieder voll durchschlagen werden: Klimawandel, Fachkräftemangel, Digitalisierung, Globalisierung, um nur die Wichtigsten zu nennen. Letzten Endes ist es aber ohnehin Aufgabe der Unternehmen und der Gesellschaft, nicht des Staates, sich auf die genannten Megatrends einzustellen.
Der Staat hat umfangreiche Hilfsprogramme auf den Weg gebracht,
um Unternehmenszusammenbrüche und Entlassungen zu vermeiden. Sinnvoll waren auf jeden Fall die umfassenden Kurzarbeiterregelungen (auch wenn sowohl die bereits beschlossene Aufstockung der Höhe des Kurzarbeitergeldes wie auch die jetzt diskutierte Verlängerung lediglich sozialpolitisch motivierte sind) und die Liquiditätshilfen von Bund und Ländern. Letztere waren aber viel zu knapp bemessen: Besser wäre es wohl gewesen, hätte die Politik die letzten Endes von ihr mitverursachten Schäden umfassend ausgeglichen (sei es über großzügige steuerliche Verlustrückträge oder direkte Transfers). Für das Problem, dass davon auch ohnehin kränkelnde Unternehmen profitieren, hätten sich Lösungen finden lassen. In ihrer Gesamtheit waren die beschlossenen Hilfen aber vor allem eines, nämlich teuer, weil „für jeden etwas dabei“ sein sollte (wie es der Bundesfinanzminister formulierte); die Wirkungen vieler der getroffenen Maßnahmen dürften jedoch beschränkt bleiben:
Nachfragestützende Maßnahmen wie die temporäre Umsatzsteuerermäßigung oder der Kinderbonus dürften ins Leere laufen,
wenn die Konsumenten angesichts unsicherer Einkommensperspektiven ohnehin keine größeren Anschaffungen planen; Kredithilfen sind nicht hilfreich, wenn der Fortbestand eines Unternehmens in Frage steht; die zwischenzeitlich beschlossenen Überbrückungshilfen haben Anspruchsvoraussetzungen, die eine Vielzahl von betroffenen Unternehmen eben nicht erfüllt werden können. Viele Maßnahmen waren zudem wenig zielgenau, weil davon auch solche Unternehmen profitierten, die von den Nachfrageausfällen überhaupt nicht betroffen waren. Es war auch nicht besonders klug, die coronabedingten Hilfsprogramme mit dem Anspruch zu verknüpfen, gleichzeitig auch eine „Transformation“ der Wirtschaft in Gang zu setzen. Letzten Endes tragen all die Investitionsprogramme im sogenannten „Zukunftspaket“ der Bundesregierung nicht dazu bei, die aktuelle konjunkturelle Schwächephase zu überwinden; vielmehr sollte hier wohl die Gunst der Stunde genutzt werden, mittelfristig ohnehin geplante Maßnahmen, deren Finanzierung aktuell nicht möglich schien, unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung über die Aufnahme von Schulden zu finanzieren und damit vorzuziehen. All die Schulden, die jetzt neu gemacht werden, wird man auch wieder zurückzahlen müssen (wobei vieles dafür spricht, die Rückzahlung zeitlich zu strecken), und es ist absehbar, dass die Handlungsspielräume des Staates dadurch für längere Zeit eingeschränkt werden. Wichtig ist es deshalb, notwendige Einsparungen nicht gerade dort vorzunehmen, wo es mangels langfristiger Mittelbindungen zwar einfach, aber aus wachstumspolitischen Gründen besonders problematisch wäre (also vor allem bei Bildung und Forschung). Und man wird auch darüber nachdenken müssen, ob es einen „Solidarbeitrags“ all jener Bevölkerungsgruppen braucht, die von der Pandemie überhaupt nicht betroffen waren – zum Beispiel durch Umwidmung des Solidaritätszuschlags, der für den Aufbau Ost ja eigentlich nicht mehr erforderlich ist.
Die aktuelle Krise hat zwar gezeigt, dass die Menschen zusammenrücken und sich gemeinsam den Herausforderungen stellen können, wenn diese nur außergewöhnlich genug sind und eine ernstzunehmende Krisenkommunikation erfolgt.
Aber gerade in Ostdeutschland scheint der Zusammenhalt auch schon wieder zu bröckeln;
diejenigen, die sich ohnehin als Verlierer im Transformationsprozess der letzten Jahre sehen, gewinnen wieder an Oberwasser. Das Risiko einer weiteren und dauerhaften Spaltung der Gesellschaft wird sich nicht durch forsche Sprüche, durch „Framing“ oder beharrliches Ausgrenzen abweichender Meinungen vermeiden lassen. Hier liegt eine Gefahr, die vielleicht ebenso groß ist wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie: Dass damit Menschen (und Wähler) verloren gehen, deren Mitarbeit am weiteren Gelingen des wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland dringend erforderlich ist. Die Politik wäre gut beraten, auch diese Gefahr im Auge zu behalten.