Marco Wanderwitz: „Die Leistungskraft der Unternehmen, die Einkommen und die Beschäftigungsmöglichkeiten werden sich zwischen den alten und neuen Ländern auch in Zukunft weiter angleichen“
W+M: Herr Wanderwitz, seit Februar dieses Jahres sind Sie Ostbeauftragter der Bundesregierung. Was haben Sie sich konkret für die verbleibenden Monate dieser Legislaturperiode vorgenommen?
Marco Wanderwitz: Als Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder achte ich darauf, dass innerhalb der Bundesregierung die besonderen Belange der neuen Länder und die spezifischen Interessen der Bevölkerung in den neuen Ländern angemessen berücksichtigt werden – von Fragen des wirtschaftlichen Aufholprozesses angefangen, über sozialpolitische Fragen bis hin zu den wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen der Förderung von Demokratie und der weiteren Aufarbeitung der SED-Diktatur.
An dieser Daueraufgabe dranzubleiben ist nicht immer einfach, denn ich kann in meiner Funktion nicht einfach Weisungen erteilen. Das will ich aber auch gar nicht. Viel wichtiger ist mir, als Anwalt für die Menschen in den neuen Ländern einzutreten und für ihre Belange zu sensibilisieren. Ich spreche Sachen an, die nicht gut laufen und greife auch ein, wenn das Erfordernis besteht.
Wertvoll ist hierbei, mit vielen Menschen über ihre Sicht der Dinge zu reden. Dazu dient eine Gesprächsreihe, ähnlich der der „Sachsengespräche“ von Ministerpräsident Michael Kretschmer, die ich beginnend im Herbst in vielen Orten in den neuen Ländern durchführen werde. Die Corona-Pandemie zwingt uns dabei natürlich, sorgfältig zu überlegen, wie und in welchem Rahmen die geplanten Diskussionen, die eigentlich schon laufen sollten, stattfinden können. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir ein Format finden, mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu kommen und in einen Dialog mit ihnen zu treten. Themen gibt es genug: zum Beispiel, wie die neuen Länder wirtschaftlich weiter aufholen können, wie wir den Strukturwandel in der Braunkohle bewältigen, wie wir die Repräsentanz in Führungsetagen erhöhen, und auch darüber, wie wir unsere Demokratie lebendig halten können. Mein Ziel ist, dass es nicht beim Reden bleibt, sondern dass sich aus den Gesprächen konkrete Handlungsansätze für meine Arbeit ergeben.
Wir feiern dieses Jahr das 30jährige Jubiläum der Wiedervereinigung, und trotzdem gibt es immer noch Nachwirkungen von SED-Unrecht und nach wie vor Aufarbeitungsbedarf in dem Bereich. Deshalb ist auch das weiterhin eine Aufgabe des Beauftragten für die neuen Länder.
W+M: Die ostdeutsche Wirtschaft ist geprägt von einem eher kleinteiligen Mittelstand. Große Unternehmen oder gar Konzerne sind hier die absolute Ausnahme. Ist dieser strukturelle Unterschied aus Ihrer Sicht in der aktuellen Coronakrise ein zusätzlicher Nachteil?
Marco Wanderwitz: Die deutsche Wirtschaft ist von den Auswirkungen der Corona-Pandemie massiv betroffen. Dies gilt für die neuen und alten Bundesländer gleichermaßen. Inwieweit die neuen Bundesländer von der Pandemie in besonderer Weise betroffen sind, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sicher abschätzen.
Studien verschiedener Institute, wie IWH und ifo beispielsweise, kamen bisher zu dem Ergebnis, dass Branchen, die von der Krise besonders stark betroffen sind, in der Wirtschaft der neuen Länder etwas geringer als in den alten Ländern vertreten sind. Die Institute rechnen folglich in den neuen Ländern auch mit einem etwas schwächeren gesamtwirtschaftlichen Einbruch. Auch die mittlerweile verfügbaren Daten für den Zeitraum seit dem Beginn der Krise im März 2020 zur Entwicklung des Arbeitsmarkts, des Insolvenzgeschehens und in einzelnen Wirtschaftsbereichen lassen derzeit insgesamt betrachtet keine überproportionale Betroffenheit der neuen Länder erkennen.
Inwiefern sich mittel- und langfristig der Faktor Unternehmensgröße oder die etwas unterschiedliche KMU-Struktur und einzelner besonders stark betroffener Branchen, wie zum Beispiel die Bereiche Tourismus, Gastgewerbe oder Kulturwirtschaft, auswirken, werden wir genau beobachten. Wenn sich hier besondere Probleme für die Wirtschaft der neuen Länder ergeben, werden wir unsere Hilfen anpassen.
W+M: Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit der Hilfen von Bund und Ländern für den ostdeutschen Mittelstand in der aktuellen Krise?
Marco Wanderwitz: Mit dem KfW-Sofortprogramm wurde ein schnell wirksames Instrument in kurzer Zeit für die mittelständische Wirtschaft bereitgestellt. Bis Anfang August wurden rund 10.500 Einzelkredite mit einem Volumen von 3,6 Milliarden Euro an kleine und mittlere Betriebe in den neuen Ländern ausgezahlt. Der Bund übernimmt dabei in einem bislang nie dagewesenen Umfang Risiken zwischen 80 und 100 Prozent und trägt wesentlich zum Erhalt der Unternehmen und der Überwindung von Liquiditätsengpässen bei. Sie verschaffen den Unternehmen Luft bei der weiteren Bewältigung der Krise.
Darüber hinaus gibt es Corona-Soforthilfen des Bundes für Selbständige, Freiberufler kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten. Rund 470.000 von ihnen haben in den neuen Ländern und Berlin Zuschüsse von bis zu 9.000 Euro beziehungsweise 15.000 Euro erhalten. Insgesamt wurden über 3,4 Milliarden Euro Bundesmittel an die Neuen Länder ausgezahlt.
Das Kurzarbeitergeld in den neuen Ländern hat zudem dazu beigetragen, dass Massenarbeitslosigkeit verhindert werden konnte. Für viele Arbeitnehmer und Unternehmen ist dies eine der ganz entscheidenden Maßnahmen.
Die Corona-Krise hat viele Unternehmen hart getroffen. Schon heute zeigt sich aber, dass ohne die Unterstützungen noch viel mehr Unternehmen von kurzfristigen Schließungen getroffen wären. Das gilt insbesondere für kleinere Unternehmen und Dienstleister ohne nennenswerte Rücklagen. Der Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern kommt diese Hilfe daher aus meiner Sicht besonders zu Gute und wird – wie die Zahlen zeigen – auch rege in Anspruch genommen.
W+M: Gibt es bezüglich der Hilfsmaßnahmen in den sechs neuen Ländern – also Berlin inklusive – gravierende Unterschiede?
Marco Wanderwitz: Die gerade beschriebenen Corona-Soforthilfen sind Bundesprogramme, die von den Ländern durchgeführt werden. Die zwischen dem Bund und allen Ländern abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarungen stellen sicher, dass der Regelungsinhalt der Bundesprogramme in allen Ländern umgesetzt wird und eine Transparenz für die Förderung gewährleistet wird. Allerdings haben die Länder zum Teil ergänzende Leistungen aus Landesmittelmitteln zusätzlich gewährt, unter anderem Soforthilfen für Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten. Hieraus können sich gewisse Unterschiede zwischen den Ländern ergeben.
W+M: Wir begehen in diesem Jahr den 30. Jahrestag der deutschen Einheit. Wo stehen wir heute in Sachen Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West?
Marco Wanderwitz: Mit der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 haben die Bürgerinnen und Bürger mutig für Freiheit und Demokratie gekämpft und 40 Jahre deutsche Teilung überwunden. In den vergangenen 30 Jahren sind die voneinander getrennten deutschen Teilgesellschaften wieder zusammengewachsen und die Angleichung der Lebensverhältnisse ist weit vorangeschritten. Es macht heute so gut wie keinen wahrnehmbaren Unterschied mehr, ob Sie in Erfurt oder in Mainz einkaufen oder zum Arzt gehen. Die Ausstattung mit Konsumgütern und Sozialleistungen ist weitgehend identisch. Ein gewisser Unterschied allerdings ist bis heute spürbar: Der Unterschied in der Leistungskraft der Wirtschaft und damit natürlich auch bei den Verdienstmöglichkeiten und der Steuerkraft. Das ist volkswirtschaftlich gesehen erst mal ganz normal, weil sich die Entwicklung einer Wirtschaft immer nur über sehr lange Zeiträume, häufig über Generationen hinweg, vollziehen kann. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lag die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft nur bei einem Drittel, heute liegt sie bei über 82 Prozent des deutschen Durchschnitts. Wir haben damit einen gewaltigen Erfolg erzielt, auf den alle Menschen in den neuen Ländern wirklich stolz sein können. Die weitere Angleichung der Lebensverhältnisse in punkto Wirtschaft bleibt natürlich auch in Zukunft eine Priorität unserer Politik.
Mitte September lege ich übrigens den diesjährigen „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ vor. In dem Bericht versuche ich in diesem Jubiläumsjahr, Bilanz über die Arbeit der Bundesregierung in den vergangenen 30 Jahren zu ziehen. Mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt dazu nicht sagen, zumal ich nicht dem Beschluss des Bundeskabinetts vorgreifen will. Daher muss ich Sie noch um etwas Geduld bitten. Seien Sie aber gespannt!
W+M: Sehen Sie Chancen, dass es zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse kommt? Wenn ja, bis wann könnte das der Fall sein? Und: Welche Maßnahmen müssten dafür ergriffen werden?
Marco Wanderwitz: Eindeutig ja, die Leistungskraft der Unternehmen, die Einkommen und die Beschäftigungsmöglichkeiten werden sich zwischen den alten und neuen Ländern auch in Zukunft weiter angleichen, wenn vielleicht auch nicht im Tempo früherer Jahre. Wie lange es dauern wird, hängt auch von unseren Maßstäben ab. Sind 100 Prozent die Zielmarke oder können wir auch gewisse Unterschiede, wie es sie auch in den alten Bundesländern gibt, in einem föderalen Gemeinwesen zulassen? Vor allem wird es von der Entwicklung der Unternehmen selbst abhängen, von ihrer Innovationsfähigkeit, ihren Strategien und der globalen Verflechtung. Auf allen diesen Gebieten werden wir die Unternehmen auch künftig mit unseren Mittelstands- und Innovationsprogrammen nachdrücklich unterstützen.
W+M: Für Außenstehende war es zunächst überraschend, dass Ihnen im Februar 2020 das Amt des Ostbeauftragten übertragen wurde. Verraten Sie uns, wie es dazu kam?
Marco Wanderwitz: Die Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende der CDU haben mich gebeten. Da überlegt man nicht lange. Ich hatte Freude an meiner Arbeit als Parlamentarischer Staatssekretär für Bau und Heimat im BMI. Aber der Parlamentarische Staatssekretär im BMWi ist eine spannende neue Aufgabe.
W+M: Was macht das Amt des Ostbeauftragten so erstrebenswert?
Marco Wanderwitz: So weit überholen würde ich es denn doch nicht. Spaß bei Seite: Solche Querschnittsaufgaben sind durchaus reizvoll.
W+M: Sie waren im Jahr der deutschen Einheit 15 Jahre jung. Ihre gesamte berufliche und politische Entwicklung vollzog sich also im geeinten Deutschland. Inwiefern fühlen Sie heute noch persönlich eine gewisse ostdeutsche Prägung und Sozialisierung?
Marco Wanderwitz: In der Tat liegt mein Bergfest im wiedervereinigten Deutschland einige Zeit zurück. Ich fühle mich auch nicht „ostdeutsch“. Ich bin Erzgebirger, Sachse, Deutscher, Europäer. Meine Geburt und frühe Schulzeit in der ehemaligen DDR würde ich nicht als besonders prägend beschreiben. Allerdings habe ich Vieles vor 1989 schon noch bewusst erlebt. Negative wie positive Seiten.
W+M: Es gab und gibt Stimmen aus der Politik, die das Amt des Ostbeauftragten nach 30 Jahren für verzichtbar halten. Wie sehen Sie das?
Marco Wanderwitz: Ich hätte das vor fünf Jahren auch gesagt. Aber ein wenig länger werden wir es doch noch brauchen. Noch sind ja nicht alle Themen abgearbeitet. Die Einheit in den Köpfen ist dabei ein wichtiger Punkt. Die Demokratie ist noch nicht so gefestigt wie in den alten Bundesländern. Leider. Das sehe ich als wichtigen Punkt der Beauftragung, hier tätig zu sein.
Interview: Karsten Hintzmann und Frank Nehring